Immer weniger Wasser im irakischen Marschland al-Ahwar

Foto: Hassan Janali, U.S. Army Corps of Engineers/gemeinfrei

Viele Marsch-Araber sind gezwungen, in Städte abzuwandern, obwohl sie dort Arbeitslosigkeit und Armut erwartet

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Ende Oktober 2018 berichtete die in Großbritannien erscheinende arabischsprachige Tageszeitung al-Arab, dass die Bewohner von weiteren 25 Dörfern im Osten der südirakischen Provinz Dhi Qar wegen der anhaltenden Dürre die Region al-Ahwar verlassen mussten. Das irakische Ministerium für Wasserressourcen bestätigte diese Angaben und fügte hinzu, dass die Wasserreserven im Irak im Jahre 2018 aufgrund niedriger Wassereinnahmen um 4 Milliarden Kubikmeter gesunken sind.

Die gesamten Wasservorräte im Irak belaufen sich derzeit auf etwa 17 Milliarden Kubikmeter. Allein im Juli und August 2018 kamen mehr als 400 Familien in die Stadt Nasiriyah. Auch sie verließen ihre Dörfer, um sich in Gebieten mit besseren Wasserquellen für ihre Herden niederzulassen.

Im September 2018 meldeten irakische Quellen von 30 Fällen, bei denen Wasserbüffel in der Region al-Ahwar verendeten. Der Wassermangel in al-Ahwar droht den Tieren, der Natur aber auch den Marsch-Arabern, den Bewohnern des Marschlands al-Ahwar. In arabischer Sprache werden schiitische Marsch-Araber als al-Ahwār-Araber bezeichnet. Al-Ahwār bedeutet Marschland.

Wer sind die Marsch-Araber?

"Wir sind die Nachfahren der Sumerer", erklärte mir sehr stolz ein Angehöriger der Marsch-Araber aus der südirakischen Stadt Basra im Dezember 2012 telefonisch. Damals wollte ich zum ersten Mal einen Text zur Lage der Marsch-Araber schreiben. Tatsächlich stammen diese "Nomaden der Sümpfe" aus der fruchtbaren Region Al-Ahwar im Südirak, die in der Antike von den Sumerern besiedelt wurde.

Das Feuchtgebiet umfasst etwa ein Fünftel des irakischen Staates. Nach einem Aufstand der Schiiten hätte der Gewaltherrscher Saddam Hussein die einzigartige Kultur und Lebensweise dieses Volkes beinahe vernichtet.

Halbnomaden im "Garten Eden"

Seit mehr als fünf Jahrtausenden hat sich die halbnomadische Lebensweise der Marsch-Araber in den Sümpfen zwischen den beiden biblischen Flüssen Euphrat und Tigris, die sich zum mächtigen Strom Schatt al-Arab oder Arvandrud vereinigen, kaum verändert. Die Marsch-Araber sind Schiiten.

Bevor Saddam Hussein, der der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam angehörte, in den 1980er Jahren seinen Vertreibungsfeldzug gegen die Schiiten begann, fingen die Marsch-Araber Fische, züchteten Wasserbüffel, stakten mit kleinen Kähnen aus Holz oder Schilf die unzähligen Wasseradern entlang, sammelten und bearbeiteten das Schilf, das sie auch als Viehfutter verkauften.

Sie errichteten große tonnenförmige Behausungen aus Schilf, die auf Schilfpolstern schwimmend auch fortbewegt werden konnten. Besonders beeindruckend waren die Häuser für Zusammenkünfte, die sogenannten "Mudhifs". Sie bestanden aus dicken Schilfbündeln, die zu Säulen geformt und in hohen Bögen zusammengebunden waren. So bildeten Wände und Dach eine organische Einheit.

Diese Mudhifs, an denen bis zu hundert Menschen gemeinsam bauten und in denen selbst in den heißen Sommern angenehme Temperaturen herrschten, sind so alt wie die Kultur der Marsch-Araber selbst. Sie sind bereits auf Siegeln der Sumerer zu sehen.

Trockenlegung der Sümpfe

Im südirakischen Marschland lebten vor 36 Jahren noch weit mehr als 500.000 Menschen. Während des ersten Golfkriegs 1980 bis 1988 beschuldigte Iraks Diktator sie zu Unrecht, mit dem schiitisch geprägten Iran unter der Führung von Khomeini zusammenzuarbeiten. 1991 begehrten die Schiiten gegen Saddam Hussein in der Hoffnung auf Unterstützung durch die USA auf.

Doch die kam nicht. Stattdessen schlugen die irakischen Truppen brutal zurück. Tausende von Marsch-Arabern wurden getötet und in Massengräbern verscharrt. Es kam zu Massenvertreibungen, viele flohen in den Iran. Ihr "Garten Eden" wurde in eine unwirtliche Landschaft verwandelt: Saddam Hussein ließ Euphrat und Tigris umleiten und so rund 15.000 Quadratkilometer Marschland trockenlegen.

Insgesamt 520 Kilometer lang waren die Dämme, die Ingenieure, 40.000 Soldaten und fast alle Bagger und LKWs des Landes in kürzester Zeit aufschütteten. Das Wasser wurde in schnurgerade gezogenen Kanälen abgeleitet. Die vertrockneten Schilfwälder wurden abgebrannt. Die rund 200 Siedlungen der Marsch-Araber gingen ebenfalls in Flammen auf. Um sie zu zerstören, soll auch Napalm eingesetzt worden sein.

Rückkehr in ein gefährdetes Ökosystem

Zehn Jahre nach dem Sturz des irakischen Diktators (2003) lebten wieder rund 65.000 Marsch-Araber im Kernland ihres ursprünglichen Siedlungsgebietes. Mehr als zwei Drittel von ihnen nahmen ihre traditionelle Lebensweise wieder auf. Geschlossene Siedlungen sind jedoch nicht wieder entstanden und längst nicht mehr alle Marsch-Araber wohnen in Schilfhäusern.

Wasserspezialisten, Naturschützer und Rückkehrer hatten die Dämme eingerissen und das ausgedörrte Land geflutet. Schneller als gedacht waren die ersten Sumpfgebiete wiederhergestellt. Es ist jedoch fraglich, ob sich je wieder eine so fantastische biologische Vielfalt einstellen wird wie früher.

Damals zählten Wissenschaftler rund 280 Vogel- und 50 Fischarten. In weiten Teilen des Gebietes lässt heute die Wasserqualität zu wünschen übrig. Abwässer werden vielerorts ungeklärt in Euphrat und Tigris geleitet. Dann sinkt der Wasserstand wieder bedrohlich, die Konzentration giftiger Schwermetalle und Salze im flachen Wasser und Schlick steigt, Fische sind stärker kontaminiert und die Wasserbüffel, die sich vom Schilf ernähren, geben immer weniger Milch.

Wasser als "Waffe"?

Der Irak, wo die beiden biblischen Flüsse, Euphrat und Tigris zusammenfließen und im Persischen Golf ihr Ende haben, leidet bereits seit vielen Jahren unter einem stetigen Rückgang der Wassereinnahmen in den Flüssen nicht nur wegen der geringen Niederschläge in der Wintersaison, sondern auch wegen der aggressiven "Wasserpolitik" der Türkei.

Hinzu kommt, dass auch der benachbarte Iran in den letzten Jahren immer neue Staudämme an den kleinen Nebenflüssen des Tigris baut. Vor allem aber die Türkei benutzt das Wasser als Waffe gegen den Irak. Die türkische Regierung handelt seit Jahren nach dem Motto: "Mehr Wasser in den Flüssen Euphrat und Tigris gegen mehr Druck auf die kurdischen Autonomiebestrebungen".

Ein anderer Feind ist das "schwarze Gold". Die unkontrollierte, seit Jahrzehnten andauernde Erdölförderung, insbesondere im Süden des Iraks, hat ebenfalls schwerwiegende Konsequenzen für die Marsch-Araber. Der Einsatz vieler Chemikalien schädigt die Umwelt, das Fluss- und selbst das Grundwasser ist nicht mehr sauber.

So steigen die Gefahren für Mensch und Umwelt am Euphrat und Tigris. Viele Marsch-Araber sahen sich bereits dazu gezwungen, in Städte abzuwandern, obwohl sie dort Arbeitslosigkeit und Armut erwartet. Den "Garten Eden" wieder erblühen zu lassen und langfristig zu schützen bleibt eine sehr schwierige Aufgabe in einem von Terror und Machtkämpfen erschütterten Land.

Der Autor Kamal Sido ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).