Ab Sonntag gilt ein neuer Fahrplan der Bahn - und wieder soll vieles besser werden

Bild: Jon Worth/CC BY-2.0

Ein guter Zeitpunkt, einem als Aktiengesellschaft firmierenden Unternehmen, das weiterhin zu 100% im Staatsbesitz ist, auf die Radachsen zu fühlen

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An der Bahn scheiden sich nicht die Geister: Es gibt die ausgesprochenen Bahnhasser, die aufgrund ihrer desaströsen Erfahrungen mit den Betreibern deutschen Schienenpersonenverkehrs und den bestätigenden Erzählungen all ihrer Freunde und Verwandten nie mehr zwei Füße in einen Zug setzen werden. Und es gibt die Bahnkunden, die täglich pendeln, nur ganz sporadisch mal überhaupt und dann aber mit der Bahn verreisen, oder die regelmäßig weite Strecken fahren, die jedenfalls alle mit der real existierenden Eisenbahn konfrontiert sind, mit ihr meist sehr gezwungenermaßen Höhen und Tiefen erleben - und deshalb die Bahn hassen. Das schaffen nicht viele Unternehmen: von den eigenen Kunden genauso wenig geschätzt zu werden wie von all denen, die einem längst den Rücken gekehrt haben.

Den Spitzenplatz der unbeliebtesten Unternehmen verdankt die Bahn sicherlich wesentlich einem politischen Schachzug von 1994, als beamteter Charme der guten alten Bundesbahn mit der hässlichen Fratze des Kapitalismus gepaart wurde.

Denn was so nervt an diesem riesigen Unternehmen ist ja nicht, dass mal etwas nicht ganz nach Fahrplan läuft: Die Bahn kann nichts dafür, wenn die Politik professionelle Sterbehilfe verbietet und sich deshalb tagtäglich Menschen von Zügen totfahren lassen, was neben vielem anderen auch Streckensperrungen zur Folge hat. Niemand, der bei Trost ist, wird die Bahn für ihre Baustellen prügeln wollen, jedenfalls nicht grundsätzlich, denn Instandhaltung und Erweiterung der Infrastruktur gehen halt nicht ohne Beeinträchtigung des regulären Zugverkehrs. Und auch den ein oder anderen Mitarbeiter mit schlechter Laune oder solider Unfähigkeit für seinen Job würden die meisten Kunden hinnehmen (zumindest die erträglichen von ihnen, denn - auch das muss immer wieder gesagt werden -: die Bahn kann sich ihr Transportgut nicht aussuchen, und es sind viele ganz grässliche Personen darunter).

Was in Wahrheit so fürchterlich nervt: Dass dieser volkseigene Betrieb sich geriert wie ein Königshof. Das Personal - vor allem an der Spitze - versteht sich nicht als Dienstleister für die Gesellschaft, sondern als Herrscher über Züge, Gleise, Bahnhöfe und vieles mehr. Wer in der Rolle des Kunden mitspielen möchte, hat sich den Gepflogenheiten und Logiken der Bahn anzupassen - keinesfalls umgekehrt.

Ein Bahnhof mit den fünf Gleisen 1, 2, 3, 7, 28 ist für einen Bahner völlig logisch, für den Reisenden gaga oder verwirrend ("Hilfe, ich muss es in drei Minuten Umsteigezeit von Gleis 28 zu Gleis 1 schaffen"). Sitze - über die noch ausführlich zu reden sein wird - werden bei der Bahn nicht etwa so konzipiert, dass sie bequem sind, sondern sie werden nach Zugtypen verteilt, mit der Vorgabe, dass jeder Zugtyp einen eigenen, in seiner Dysfunktionalität unverwechselbaren Sitztyp bekommt.

Eine besondere Herausforderung für das Einfühlungsvermögen der Kunden in den DB-Kosmos ist das Fahrkartensystem. Selbst junge, geistig mobile und technikaffine Menschen sind erstaunt, wie viele Semester man studiert haben muss, um bei der DB eine Fahrerlaubnis zu erwerben, die beanstandungsfrei für eine Reise mit all ihren unvermeidlichen Holprigkeiten genutzt werden kann. Aber selbst wenn alles geklappt hat, sitzen im Zug zwei Leute nebeneinander, von denen der eine 29,90 EUR, der andere 265,50 EUR für dieselbe Reisestrecke gezahlt hat.

Zur Bahnlogik, die nichts mit Kundeninteressen zu tun hat, gehört auch die völlig parzellierte Betrachtung des Reisens. Während die User mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einem ganz bestimmten Ort zu einem anderen wollen, sieht die Bahn ihre einzelnen Strecken bzw. Züge.

Die nun ein Jahr alte Schnellfahrstrecke München-Berlin ist zahlenmäßig sicherlich ein Erfolg: Die Bahn weist eine Verdoppelung der Fahrgastzahl auf dieser Strecke aus, mehr als eine Million Reisende haben vom Flugzeug zur Bahn gewechselt, sagt die DB. Doch bis zum nun ab Sonntag gültigen Fahrplan gab es gerade mal drei Sprinterzüge pro Tag und Richtung, die theoretisch weniger als vier Stunden für die Distanz brauchten. Alle sechs Stunden ein schneller Zug - das wird man auch bei großem Wohlwollen keine attraktive Taktung nennen können (von den realen Problemen wie Überfüllung, fehlende Wagen, Verspätungen und Ausfällen ganz zu schweigen). Und was nutzt dem Reisenden diese Schnellfahrstrecke, wenn sein Ziel nicht der Berliner Hauptbahnhof selbst ist, man von dort aber nur schlecht und schwer weiter kommt, weil es an Anschlüssen fehlt oder die ebenfalls von der DB betriebene Berliner S-Bahn mal wieder nicht rund läuft?

Nicht die einzelne Verspätung der Bahn ist das große Ärgernis, auch wenn dies in der öffentlichen Diskussion im Fokus steht, sondern die grundsätzliche Unzuverlässigkeit, die stets den Eindruck erweckt, sie gründe in Unwilligkeit. Professionelle Reisende rechnen stets damit, dass wenig bis nichts so ist wie angekündigt. Beispiel "gastronomischer Service", auf den der Zugchef gerne hinweist, wenn er denn in irgendeiner Form verfügbar ist. Schon die Erwartung, eine Tasse Kaffee bekommen zu können (nicht mal frisch, sondern ggf. aus einer angelieferten Thermoskanne), gleicht einem Vabanquespiel. Mal fehlt das Personal, mal ist irgendeine Technik defekt (und wenn es nur die Computerkasse ist, ohne die nichts mehr läuft), mal fehlen die gastronomischen Güter - mit Improvisation jedenfalls wird kein noch so kleines Problem gemeistert, stattdessen stets ein: "Heute leider nicht."

Als die Bahn kürzlich mal wieder massive Probleme mit ihren elektronischen Reservierungsanzeigen hatte, forderte sogar der kleine Lobbyverein "Pro Bahn", der Staatskonzern müsse zur Not mal wieder wie ehedem zum Papier greifen, wenn die moderne Technik streikt. Aber das passt nicht zur Bahnlogik: Reservierungen sind schließlich gültig, auch wenn sie nicht an den Sitzen stehen, ganz gleich, welches Theater sich in den Zügen abspielt; und wenn wirklich gar nichts klappt, kann man sich seine Reservierungskosten ja im Reisecenter erstatten lassen - wenn man Lust hat, dort für 4,50 EUR eine dreiviertel Stunde lang anzustehen.

Mit dem neuen Fahrplan verspricht uns die Bahn viele Verbesserungen - wie jedes Jahr. Aber es sind eben Verbesserungen nach Bahnlogik. Sie müssen mit dem Kunden nichts zu tun haben. Wer schon Jahrzehnte Bahn fährt, wird sich verklärt erinnern: Einst saßen auch in der 2. Klasse nur 3 Menschen in einer Reihe, nicht vier wie im neuen ICE4 durchgängig. Niemand rammte einem Taschen und Ellenbogen ins Gesicht, weil der Mittelgang im Großraumwagen schmal ist wie eine Hühnerleiter. Die Sitze waren schon damals verstellbar, und das sogar in einem solchen Ausmaß, dass sich die beiden gegenüberliegenden Sitze vollständig flach machen ließen, so dass ein Abteil mit sechs Sitzen zu einem wunderbaren Großbett umgebaut werden konnte. Zu aller spießigen Intimität gab es sogar Vorhänge zum Gang hin, so dass sich die schlafende, tobende oder sonst wie amüsierende Reisegruppe vor den Blicken anderer Reisender verwahren konnten.

Die Klimaanlage der Bahn war auf die Klimaanlage des Menschen zugeschnitten und hieß Fenster, also Fenster, die sich öffnen lassen. War Heizung nötig, konnten sich die maximal sechs Fahrgäste eines Abteils selbst darauf verständigen, wie warm sie es haben wollen - und einfach einen Knopf drehen. Sie konnten Licht ein- und ausschalten, sogar die Lautstärke der wichtigen Mitteilungen des Schaffners bzw. Lokführers ließ sich individuell regeln. Dass Menschen panisch gegen Türen schlagen, weil sich diese im Bahnhof nicht öffnen, gab es nicht, denn diese Türen hatten Türgriffe (ja, die konnte man sogar während der Fahrt öffnen, so ganz früher, bevor eine Mechanik kam, die dies bei rollenden Zügen verhinderte).

Eine Fahrkarte hatte einen festen Preis, man konnte sie an jedem Bahnhof kaufen (auch an den heute als "Haltepunkt" bezeichneten, weil quasi jeder Schrankenwärter auch Servicepersonal war, ohne um diese Bezeichnung zu wissen) und sie war im Fernverkehr einen ganzen Monat lang gültig (während der aktuelle "Flexpreis" noch genau zwei Tage Flexibilität einräumt). Benutzte man auf seiner Reise bestimmte Formen von Schnellzügen, kaufte man beim Schaffner einen Interregio- oder Intercity-Zuschlag, wenn man nicht welche auf Vorrat dabei hatte (denn die waren gar mehrere Monate lang gültig).

Das alles war vielleicht nicht paradiesisch, und es entsprang vor allem nicht einer besonderen Menschenfreundlichkeit der Deutschen Bundesbahn, es war einfach: Eisenbahn. Heute, Jahrzehnte später, wird diese Eisenbahn von einer global agierenden Logistikbehörde betrieben. Da ist auch nicht alles schlecht, es ist im besten Falle 2018 oder 21. Jahrhundert oder wenigstens ausgehendes 20. Jahrhundert.

Auch die DB hat inzwischen Internet - in ihren ICE. Die immer noch auf der Schiene rollenden, nun aber weiß-rot angemalten Interregio-Wagons hingegen haben weiterhin nicht einmal eine Steckdose. Aus dem einst auf Gasflamme werkelnden Koch ist ein Konvektomaten-Bediener geworden. Und manch älterer Schaffner kann seinen Gram nicht verbergen, dass er über die Jahre vom Knipser zum mobilen Datenscanner degradiert wurde.

Dass die Bahn so ist, wie sie ist, hat viel mit Politik zu tun. Und deshalb auch mit Demokratie. So wollen wir den Fahrplanwechsel der DB am 9. Dezember nutzen, aus Bürgersicht die vielen großen und kleinen Ärgernisse mit der deutschen Eisenbahn in einer kleinen Serie genauer zu beleuchten.

Für diesen Bürger-Blickwinkel ist es nicht gar so wichtig, ob "die Bahn" nun wirklich die Deutsche Bahn AG ist oder eine ihrer tausend Firmen, das Eisenbahnbundesamt oder das Bundesverkehrsministerium (als Vertreter des Aktionärs). Dass "die Bahn" oft Prügel bekommt für Dinge, die gar nicht in ihrem Ermessen liegen, ist einer der vielen politischen Aspekte des Themas "öffentlicher Schienenpersonenverkehr".

Erfahrungsberichte und Meinungen der Leserschaft sind dazu sehr willkommen, bitte aber direkt an den Autor gesendet, da im Forum überwiegend eine Debatte der Leser untereinander stattfindet und die für künftige Themen nutzbare Perlenernte sehr aufwendig ist.

Bahn-Nerds, das sei schon gesagt, werden dabei auch mit bestem Bemühen nicht zufrieden zu stellen sein. Nicht nur, weil vieles Ansichtssachte ist ("Man muss sich nicht über zwei Stunden Zugverspätung aufregen..."), sondern vor allem, weil Gläubige für Fakten und deren Bewertung durch Nicht- und Andersgläubige per se nicht empfänglich sind.

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