Eine Stadt, die niemals ist, sondern immer wird?

Bild: Bleppo / Public Domain

Wachstum ohne Qualität bringt Berlin nicht weiter

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Die Lage scheint doch ganz kommod: Berlin verfügt augenscheinlich über enorme Anziehungskraft. Vielleicht nicht so schön wie München, aber äußerst beliebt bei jungen Zuzüglern aus dem Ausland. Eine Stadt, die niemals schläft. Man sieht sich als Hotspot der Kreativwirtschaft. Selbst die Flüchtlinge scheinen ein Faible für die Metropole im märkischen Sand zu haben. In den letzten fünf Jahren jedenfalls wuchs die Stadt um rund eine Viertelmillion Einwohner.

Und so feiert sich Berlin nun selbst als "wachsende Stadt". Alles prima? Weit gefehlt. Denn mit dem Bevölkerungswachstum stellen sich ja keineswegs auch Qualitäten wie von selbst ein. Beispielsweise stehen immer beliebter und teurer werdende (Innen-) Stadtbezirke einem potenziell verödenden Umland gegenüber. Auch in Berlin verlieren einzelne Stadtteile ihre Mischungsqualitäten, etwa Prenzlauer Berg. Und viele Alteingesessene müssen wegen Mietpreissteigerungen notgedrungen an die Ränder ausweichen.

Desungeachtet ist Transformation das Zauberwort, mit dem Berlin endgültig in die erste Liga der europäischen Metropolen aufsteigen will. Dabei steht es im Spannungsfeld der Städtekonkurrenz nach wie vor auf einer Randposition, und die anderen gehen weiter, ohne auf Berlin zu warten.

Nichts in der globalen Welt steht still. Vielmehr geht es heute um noch viel einschneidendere Veränderungen als in den 1990er Jahren. Die innerhalb des S-Bahnrings gärende Gentrifizierung, Energiewende und Klimaziele sowie deren Wechselwirkung zum motorisierten Individualverkehr, aber auch das vorschnelle Abservieren der Staatsaufgabe Wohnungsbau, die bislang gescheiterte Integration der Migranten, das Normalwerden von Schul- und Straßenkriminalität: All das sind Herausforderungen, die ein Umdenken verlangen. Gemessen daran freilich kann man in Politik und Verwaltung wenig Anstrengung erkennen, die Stadtentwicklung aktiv und gemeinwohlorientiert zu lenken. Eher reagiert man auf das, was an privaten Anforderungen oder Einwänden der Verbände kommt. Man moderiert.

Wenn man das "wachsende Berlin" nicht als Zustandsbeschreibung, sondern als Paradigma begreift - wie es die hiesige Politik offenkundig tut -, dann wäre auch ein Blick auf dessen Schattenseiten dringend geboten. Man muss sich der inhärenten Probleme bewusst werden bzw. mit einigen damit verbundenen Mythen aufräumen. Hier ein Streiflicht zu fünf Aspekten:

Wohnungsbau

Über viele Jahrzehnte galt es als ausgemacht, dass Berlin über einen erklecklichen Eigenbestand an Wohnungen verfügen müsse, um aktiven Einfluss auf die Entwicklung innerhalb seiner Grenzen ausüben zu können. Doch dieser Konsens ist seit Ende der 1990er Jahre obsolet, gemeinnützige Wohnungsunternehmen sind privatisiert und große Kontingente an Sozialwohnungen aufgegeben worden. Zudem mutierten, über die Jahre hinweg, die städtischen Gesellschaften von aktiven Gestaltern zu bewahrenden Verwaltern, die das Schwergewicht ihrer Aktivitäten in der Pflege und Verwaltung ihres hergebrachten Bestandes sahen, nicht im Neubau.

Der Motor des städtischen Wohnungsbaus stottert. Die regulatorischen Hürden sind in fast allen Bereichen gestiegen und erschweren das Schaffen von Baurecht. Die Bau- und die Grundstückskosten steigen überproportional. Und ungeachtet des riesigen Bedarfs an bezahlbaren Wohnungen entstehen neue Wohnungen vor allem im hochpreisigen Segment der Luxuswohnungen.

Hinzu kommt: Trotz aller Bekenntnisse zu mehr Nutzungsmischung führt die aktuelle Problemstellung zu einer einseitigen Orientierung auf eine quantitativ ausgerichtete Wohnungspolitik. Das Resultat werden aller Voraussicht nach eher monofunktionale und sozial homogene "Express-Siedlungen" sein, also genau das Gegenteil von dem, was für eine sinnvolle urbanistische Perspektive erforderlich ist.

Nach dem historischen Fehler, den Wohnungsbau über lange Zeit sträflich zu vernachlässigen, droht nun durch kurzatmige Lösungsversuche ein zweiter, vielleicht noch folgenreicherer Fehler: Denn die lange Lebensdauer von Gebäuden und urbanen Infrastrukturen führt zu Pfadabhängigkeiten, die auf lange Sicht kaum zu ändern sind.

Bürgerbeteiligung

In Berlin sind die Proteste, die sich gegen Planungsvorhaben und städtebauliche Großinvestitionen richten, Legion. Freilich ist das Thema Partizipation verzwickt. Einerseits muss man zur Kenntnis nehmen, dass es dort, wo sich Angebot und Nachfrage als treibende Kräfte der Stadtentwicklung etabliert haben, um die lokale Demokratie schlecht bestellt ist. Mit dem Rückzug der öffentlichen Hand verlagern sich Macht und Entscheidungsbefugnisse von den politisch legitimierten Organen hin zu privaten Unternehmen und global agierenden Investoren.

Im gleichen Maße aber steigt offenkundig das Interesse der Menschen an dem, was ihre Stadt und ihre Umgebung betrifft. Andererseits erweist sich Partizipation als etwas grundsätzlich Ambivalentes. Seit Ende der siebziger Jahre ist das zweistufige Beteiligungsrecht fester Bestandteil unseres Planungsrechts. Das Modell zeigt allerdings Grenzen, weil es in der Regel fallbezogen und reaktiv ist und weil der Regelkreis für planerische Handlungsalternativen so definiert ist, dass übergeordnete Zusammenhänge vernachlässigt werden.

Bürger unterstellen nicht selten eine fehlende Ernsthaftigkeit des Beteiligungsangebots. Investoren beklagen den zeitlichen - und damit auch finanziellen - Aufwand der Verfahren, und implizit die Unsicherheit von dessen Ausgang. Und von fachlicher Seite bestehen oft Vorbehalte wegen der Qualität der Ergebnisse ("Konsens bis zum Nonsens") bzw. wegen der Selektivität des Beteiligungsverfahrens ("die üblichen Verdächtigen").

Doch auch Bewohner und Bürger selbst tragen zur unbefriedigenden Situation bei: Denn ein heute weitverbreitetes Verhaltensmuster ist das "Not-in-my-back-yard-Syndrom", das sich auf die simple Abwehr eines als nachteilig erkannten Planungsvorhabens beschränkt. Gerade sozial besser gestellte Schichten, die zur Verteidigung ihrer Besitzstände eher in der Lage sind, vertreten oft eine solche "Nimby"-Haltung.

Einfache Antworten auf diese Problemlage gibt es nicht. Eine offene, konsensorientierte Planung stößt auf unüberwindliche Grenzen, wenn machtvolle Interessen im Spiel sind. Sicher ist nur, dass Stadtentwicklung heute auch eine aktivierende Auseinandersetzung mit Vorstellungen und Wünschen möglichst vieler Bürger sein sollte.

Kreative Stadt

Richard Florida ist jener, der all den Stadtpolitikern, Wirtschaftsförderern und Urbanisten den Kopf verdreht hat mit seiner Theorie der - wenn man das so nennen darf - "Creative Class". Die hat er zwar nicht erfunden, aber er war es, der dafür gesorgt hat, dass Kreativität zu einem Schlüsselbegriff der Stadtentwicklung wurde. Das klingt so schön nach Kunst und Kultur, aber Florida steckte auch IT-Entwickler, Ingenieure und Rechtsanwälte mit in den Sack.

Akademiker konnten sich nun als Speerspitze des Fortschritts fühlen, und sie sollten sich wohlfühlen. Ganz schnell wurde das Kreativquartier auch in Berlin zum Heilsversprechen. Dabei hätte man wissen können, dass man damit zu kurz springt. Etwa weil die kreative Klasse bei weitem nicht so mobil ist, wie ihr unterstellt wird. Mehr noch: "Die soziale Mischung und Andersartigkeit im Stadtteil ist oftmals kein Wert, sondern Hindernis für die durch eine flexibilisierte Ökonomie in der Arbeitswelt zunehmend überforderten Wissens- und Kulturarbeiter, die sich im Privaten nach der Ruhe und Geborgenheit des eigenen Milieus sehnen" (Kai Vöckler).

Nun wusste die österreichische Zeitschrift derive zu vermelden, dass der Creative City Guru nun die Scherben seiner lukrativen 15-jährigen Beratungstätigkeit zusammenkehrt und einräumt, dass die Kreativstadt Reichtum für Wenige bringt und Verdrängung für Viele - steigende Mieten und Lebenskosten, AirBnB- und Tourismus-Overkill, prekäre Kreativ- und Dienstleistungs-Jobs.

Natürlich sind etwa wissensbasierte Technologien nach wie vor wichtig. Nur aus ihnen allein Maximen für die Stadtentwicklung abzuleiten, ist falsch. Es kommt darauf an, bezahlbares Wohnen mit den Chancen jener Ökonomien zu vereinbaren: Wirtschaftsförderung und Sozialpolitik, nicht Wirtschaftsförderung als Sozialpolitik.

Grün in der Stadt

Das Gerede vom Steinernen Berlin war seit jeher Unfug und verstellt den Blick auf die enormen Grünflächen, die der Stadt Struktur und Anmut verliehen. Mit dem rasanten Anwachsen der Bevölkerung um die vorletzte Jahrhundertwende und einer akuten Wohnungsnot entwickelten sozialreformerische Städteplaner neue Ideen von der Stadt. Wegweisend war Martin Wagner, der 1915 über das "Sanitäre Grün der Städte" promoviert hatte und sogleich dafür gefeiert wurde.

"Die Spielplätze dürfen von den Wohnquartieren nicht mehr als 10 Minuten, die Parkanlage nicht mehr als 20 Minuten, die Sportplätze nicht mehr als 30 Minuten entfernt liegen", hieß es dort. Und so veränderte er die Stadt, als er in jungen Jahren Baustadtrat von Schöneberg und 1926 Baustadtrat von Gesamt-Berlin wurde. Seine Idee von Berlin war die einer "Stätte glücklicher Arbeit und glücklicher Muße". Stadtgärten und Volksparks sollten auch den Bewohner der Mietskaserne frische Luft und die Anmut kultivierter Naturräume zugänglich machen. Zudem war es ein Ort der Begegnung und des offenen sozialen Austauschs. Doch solche Ansätze sind heute allenfalls noch ein Desiderat.

Bodenpolitik

Stadtentwicklung wäre grundsätzlich vom Boden her zu denken. Liegenschaftspolitik ist die Grundlage nicht nur von Wohnungsbau-, sondern auch von Schulentwicklungspolitik. Die gebaute Realität der Stadt entspricht nicht der sozialen Realität.

Weil in Berlin Stadtentwicklungspolitik vor allem Finanzpolitik war, ist die aktuelle Debatte um die Liegenschaftspolitik überfällig. Die allgemeine Wahrnehmung ist ja so falsch nicht: Was zählt, ist das schnelle Geld. Und die internationalen Immobilieninvestoren kennen seit Jahren nur ein Motto in Berlin: Kaufen! Und das sicherlich nicht, weil sie das Nachtleben hier so schätzen. Sie rechnen einfach mit starkem Wertzuwachs. Die Gentrifizierung nimmt ihren Lauf.

Der Senat muss endlich eine neue Geschäftsgrundlage dafür schaffen, wie in Zukunft auf Grund und Boden mehr Einfluss genommen werden kann. Besser noch: Bodenvorratspolitik betreiben. Nur so kommt man zu den zentralen Fragen: Was soll wann auf oder mit dieser Fläche geschehen? Wer vergibt sie, und an wen? Es müssen Verfahren entwickelt und verrechtlicht werden, die auch soziale, gesellschaftliche und kulturpolitische Gesichtspunkte bei der Vergabe von Grundstücken berücksichtigen.

Nun wäre es naiv anzunehmen, dass das einfach ist. Wie wägt man ein urbanes Gartenprojekt gegen bezahlbaren Wohnraum ab? Wie neue Arbeitsplätze mit einem Wohnprojekt für schwer erziehbare Jugendliche? Doch es gibt Vorbilder, Amsterdam etwa mit seinem Erbbauverfahren.

Wie auch immer: Das Wachstum Berlins braucht als Korrektiv ein politisches "Sorgetragen". Diesen Begriff hat die Philosophin Judith Butler in einen baulich-räumlichen Kontext gesetzt. Sie schreibt über den öffentlichen Raum, über Straßen und Plätze, und sagt, dass diese "materielle Umgebung" als "Stütze des Handelns" dient. Sie führt aus, dass "menschliches Handeln auf Unterstützung angewiesen ist". Und auf Stützen muss man sich verlassen können. Sie müssen zur Verfügung stehen, in ausreichender Zahl, in angemessener Qualität, und zwar für alle.

Die zentrale Frage lautet: Wie kann Architektur, wie können urbanistische Entscheidungen unter den gegenwärtigen Bedingungen von kapitalgetriebenem Spekulationsdruck und austeritätsbedingten Sparmaßnahmen die Aufgabe des Sorgetragens übernehmen? Unreflektiert auf Wachstum zu setzen, heißt, dass die Berliner Mischung verloren geht - und damit ihr ureigenstes Stadtmodell.