Vom Friedensnobelpreis zum Kriegstreiber

Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert im Europäischen Parlament eine "echte europäische Armee" ©EU2018

Der neue EU-Rüstungsfonds verschleudert Milliarden Euro an Rüstungsfirmen und verschärft das globale Wettrüsten - ein Kommentar

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Die Regierungen
Schreiben Nichtangriffspakte.
Kleiner Mann
Schreibe dein Testament.
(B. Brecht, 1939)

Frieden, das ist jene unnatürliche Pause zwischen zwei Kriegen, pflegte ein vor langer Zeit gefallener Pazifist zu scherzen. Zwischen zwei Kriegen? - Zwischen zwei Weltkriegen, kann er bald sein tragisches Bonmot noch übertrumpfen. Er braucht nur dem dunklen Gedankengang folgen, in den die Dialektik von anschwellendem Nationalismus und "Europas Sicherheitsinteressen" führt.

Tatsächlich ist vielen Europäern die Furcht vor einem dritten Weltkrieg nicht mehr fremd. Es klingen längst vergessene Töne an, wenn bange von Scharmützeln zwischen russischen und ukrainischen Schiffen an der Krim berichtet wird. Und es macht Angst, wenn das Gedenken an den Ersten Weltkrieg eine deutsche Kanzlerin und einen französischen Präsidenten nicht davon abhält, nach einer "echten" gesamteuropäischen Armee zu rufen.

Am Mittwoch den 12.12.2018 beschloss das Europäischen Parlament (EP) zum ersten Mal in seiner Geschichte einen eigenen Verteidigungshaushalt. Doch die Europäische Union (EU) hat längst begonnen, ermutigt vom Friedensnobelpreis am Revers für ihren "Beitrag zu mehr als sechs Jahrzehnten Frieden und Versöhnung in Europa", militärisch wie propagandistisch aufzurüsten.

Der Reichssender Brüssel, pardon, der Podcast des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (EPRS), gibt den Ton vor:

(Frauenstimme, hinterlegt mit Aufbruchsmusik:) Mit der NATO, die lange das militärische Joch in Europa geschultert hat, konnte die EU bequem ihre soft power beherrschen lernen. (Männerstimme:) Aber angesichts unbeständiger Weltpolitik und neuer Sicherheitsbedrohungen hat die EU begonnen, Ernst zu machen mit ihrer eigenen Sicherheit, und schickt sich an, ihre Verteidigungsfähigkeiten weiterzuentwickeln. - Bleiben Sie dran!

(Musik pausiert. Frauenstimme:) Wenn die Bedrohung durch einen Krieg in Europa bis vor kurzem noch undenkbar war, braucht es nicht viel Vorstellungskraft, sich jetzt einen vorzustellen.

(Männerstimme:) Denken Sie an die militärische Eskalation mit Russland, Instabilität an der Türschwelle der EU, besonders im Mittleren Osten, zunehmende terroristische Bedrohungen im Innern der EU und Sorgen um die Cybersicherheit.

(Frauenstimme:) Vor diesem Hintergrund bewaffenen sich die USA, Russland, China und Saudiarabien bis an die Zähne, doch die Verteidigungshaushalte der meisten europäischen Länder bleiben weit hinter dem NATO-Ziel von zwei Prozent zurück ...

Die Sendung ging im Juni durch den Äther, eine Woche vor dem formellen Antrag der Europäischen Kommission, einen Verteidigungsfonds (EVF oder englisch EDF) mit 13 Mrd. Euro bis 2027 einzurichten. Der Fonds soll die europäischen Waffensysteme vereinheitlichen helfen und, so das Kalkül, weitere 50 Mrd. Euro für kollaborative Rüstungsforschung mobilisieren. Alles Steuermittel wohlgemerkt, die zusätzlich zu steigenden nationalen Rüstungsetats nicht nur Zwecken der gesellschaftlichen Wohlfahrt, sondern auch der demokratischen Kontrolle entzogen werden.

Rüstungsgüter für die Bundeswehr, die mehr als 25 Millionen Euro kosten, muss der Bundestag absegnen. Nicht so die Milliarden des EDF, sie werden durch die EU-Kommission und Sachverständige vergeben. Die Tagesschau online berichtete Ende September von einer Kleinen Anfrage der Grünen nach den parlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten bei EU-finanzierten Militärausgaben. Die Antwort der Bundesregierung war kess: Die seien "ausreichend".

"Die Bundesregierung möchte den Verteidigungsfonds ohne effektive Kontrolle" und "ohne die notwendige Transparenz einrichten. So zu tun, als ob das EP irgendwelche Rechte hätte, ist einfach falsch", wetterte Franziska Brantner, der europapolitischen Sprecherin der Grünen. Das sei "fahrlässig" und "unverschämt", sagte sie.

Zu Redaktionsschluss war noch nicht klar: Kündet diese verblümte Schelte von dem zu erwartenden Abstimmungsverhalten der Grünen im EP - unter Vorsitz von Reinhard Bütikofer -, wenn der EDF am Mittwochnachmittag zur Abstimmung steht? Wird es kommen wie 1999, als die ehemalige Pazifistenpartei für den NATO-Kriegseinsatz im Kosovo stimmte?

Schon deutlicher wurde die Linke Sahra Wagenknecht in der jüngsten Haushaltsdebatte, wo sie darauf hinwies, dass "es nicht zuletzt darum geht, den Parlamentsvorbehalt für neue Kriegseinsätze auszuhebeln."

Bei der Suche nach "Tagesschau"-Meldungen zum Thema, findet man, dass sie zwar berichtet, jedoch stets zu nachtschlafender Zeit oder in aller Herrgottsfrühe. Es verhält sich genau, wie der Kabarettist Wolfgang Neuss gesagt hat: "Geist, richtig schöner Geist im deutschen Radio und Fernsehen, findet zur Gespensterstunde statt oder auf Kanal 39. Der kleine Mann muss schlafen. Die deutsche Gehirnpygmäenzucht fürchtet nichts mehr als Zusammenhänge begreifen, denn das bringt wirtschaftliche Nachteile mit sich."

PeSCo-Familienfoto mit Blick zu den Sternen ©EU2018

Dagegen stehen erhebliche wirtschaftliche Vorteile für europäische Rüstungsfirmen, wie eine aktuelle Studie der New Yorker Beratungsfirma AlixPartners vorrechnet. 246 Mrd. Euro wurden in Europa im Jahr 2017 für Verteidigung ausgegeben, 17 Mrd. oder 7,5 % mehr als 2014. Deutschland erhöhte sein Rüstungsbudget im selben Zeitraum überdurchschnittlich um mehr als 10 % - von 35 auf 39 Mrd. Euro. Nicht genug, dass sie damit den höchsten Wert seit fast zwanzig Jahren erreichte, für 2019 plant die GroKo eine weitere Steigerung um noch einmal 4 Mrd. Euro.

Damit liegt Deutschland nicht nur im globalen Trend hin zu mehr Militär- und Sicherheitsausgaben, sondern weit darüber. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI werden jährlich auf der Welt 1,7 Billionen Euro für Waffen ausgegeben, was in etwa dem Bruttosozialprodukt Italiens entspricht. Während diese Ausgaben in den letzten Jahren durchschnittlich nur um etwa ein Prozent zunahmen, stiegen sie in den USA, China, Osteuropa und natürlich im Mittleren Osten viel stärker. Dabei darf angesichts der beschworenen Bedrohnung nicht übersehen werden, dass Russland seine Militärausgaben 2017 um 20 % gekürzt hat.

Waffenarsenale der EU und der USA im Vergleich ©EU2018

AlixPartners nimmt den Rüstungswettberwerb in Europa noch schärfer ins Visier. Die Umsätze des Sektors wuchsen zwar von 2014 bis 2016 von 80 auf 85 Mrd. Euro (Airbus prahlt sogar von über 100 Mrd. Euro), doch der größte Teil davon wurde außerhalb Europas erwirtschaftet. Mit Blick auf diesen Markt haben europäische, insbesondere deutsche und französische Waffenlobbyisten, den EDF entworfen, dessen Finanzierungsmechanismus genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Ein russischer Kommentator setzte es ins richtige Licht: "Es ist kein Geheimnis", schreibt das Magazin "Politus" Mitte November, "dass die europäischen NATO-Mitglieder ihr Bestes gaben, um das Budget des Blocks nicht aufzufüllen, da ihr Geld nach Übersee in die Taschen des militärisch-industriellen Komplexes der USA floss, der amerikanische Waffen nach Europa liefert. So haben die Europäer zum Nachteil ihrer eigenen Interessen in die US-Wirtschaft investiert." Entsprechend sollen EDF-Mittel nur dorthin fließen, wo "die Mitgliedstaaten beabsichtigen, gemeinsam das Endprodukt zu beschaffen oder die Technologie zu nutzen."

Ausdrückliches Ziel des EDF ist es, den Marktanteil europäischer Waffen in Europa auf 35 % zu steigern. Eine fabelhafte Idee, eine phantastische Zahl, frei erfunden, wie so Vieles von Vertretern der Waffenindustrie und einer Regierung, in diesem Falle der EU, als Zielmarke ins Heft geschrieben. Die Pilotprojekte zum EDF seit 2015 gehen u. a. aus der Feder einer "Gruppe von Persönlichkeiten" hervor, einer von der Europäischen Kommission eingesetzen Arbeitsgruppe. Eine Beschwerde der belgischen Friedensinitiative Vredesactie beim Europäischen Ombudsmann brachte diese "Persönlichkeiten" zutage.

Erstes Treffen der "Gruppe von Persönlichkeiten" im März 2015 ©EU2015

Darunter waren allen voran der armeefreundliche CDU-Mann und MEP Michael Gahler, einige ehemalige Premier- und Verteidigungsminister und der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft Reimund Neugebauer. Hinzu kommen Industriebosse wie Mauro Moretti von Leonardo S.p.A., Antoine Bouvier von MDBA und andere. Leonardo ist das frühere italienische Rüstungskombinat Finmeccanica, MDBA der weltweit umsatzstärkste Lieferant für Lenkflugkörper. Der Vorwurf, dass ein Interessenkonflikt bestehe, da diese Unternehmen an den EU-Ausschreibungen verdient haben, für die sie vorher Berater waren - etwa bei dem Seeüberwachungsprojekt Ocean 2020 - haben sowohl die EDA, als auch die Firmen zurückgewiesen.

Wesentlich ist, dass die Kommission die Beraterdienste zur Vorbereitung des EDF nicht nach den üblichen Regeln transparent gemacht hat, etwa Sitzungsprotokolle nur auf Anfrage und mit monatelangen Verspätungen herausgab. Die Waffenindustrie, so Vredesactie in ihrem Report, hat sich den EDF praktisch auf den Leib geschneidert, Textabschnitte der EU-Kommission wurden fast wörtlich von Positionspapieren der Rüstungsindustrie abgeschrieben.

So wurde die Umwandlung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in eine Militärunion von langer Hand vorbereitet. Die European Defence Agency (EDA) wurde 2004 gegründet, um EU-Mittel aus allen Haushaltsbereichen in die Verteidigung zu lenken und die Sichtweise von Armeevertretern besser zu verbreiten. Seit 2016 hat die EU eine "Globale Strategie" und CARD, eine jährliche Erhebung aller militärischen Anschaffungen und Ausgaben der beteiligten EU-Staaten. Die Gründung von PeSCo vor einem Jahr kann als Vorstufe einer europäischen Armee angesehen werden; im März bekam die "permanente stukturierte Zusammenarbeit" grünes Licht für die ersten 17 gemeinsamen Projekte. Wohl geplant: strategische Projekte werden fortan von CARD identifiziert, von PeSCo umgesetzt und vom EDF finanziert.

Die Jahreskonferenz der EDA fand am 29. November statt, wo sich EU-Funktionäre und Rüstungsindustrie ein Stelldichein geben. Ihr unappetitlicher Titel: "Von unbemannten zu autonomen Systemen". Autonome Systeme sind bewaffnete Roboter, Dronen etwa, die ohne menschliches Kommando töten können - eine Entwicklung, auf die die Kampagne Slaughterbots drastisch aufmerksam gemacht hat. Seitdem protestieren Wissenschaftler der ganzen Welt gegen die Finanzierung von Rüstungsforschung durch die EU, die die Entwicklung von autonomen Waffen eben nicht ausschließt, sondern sie ausdrücklich vorsieht und der Überwachung durch nationale Parlamente entzieht. Im Sommer unterzeichneten 700 Forscher eine Petition, die das Verbot von Killerrobotern fordert, eine weitere Unterschriftensammlung brachte 117 Wissenschaftler aus 17 Ländern zusammen. Doch die Entwicklung ist gewollt, eine Protestaktion am Pariser Platz forderte die Bundesregierung auf, ein internationales Verbot in der UNO zu unterstützen - erfolglos.

Screenshot aus dem Kampagnenvideo zum Verbot autonomer Waffen © 2017

Die Chuzpe, mit der EU-Funktionäre, Regierungschefs und Parteienvertreter diese militärische Aufrüstung rechtfertigen, ist atemberaubend. Im EDF-Antrag der EU-Kommission steht sage und schreibe: "Die Bürgerinnen und Bürger der EU und ihre führenden Politiker sind sich darin einig, dass die EU gemeinsam mehr Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen sollte." Woher die angeblich 80-prozentige Zustimmung in der EU komme, konnte die Hohe Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, auf Nachfrage nicht klären.

Es bleibt festzuhalten, dass Frau Mogherini neben Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu den treibenden EU-Funktionären in der Anbahnung des EDF gehören. Frau Mogherini, die Krokodilstränen vergoss, als ein Terroranschlag Brüssel im Jahr 2016 erschütterte, nannte die Fortschritte beim Verteidigungsfonds "historisch". Herrn Juncker schwoll die Brust bei seiner Rede "zur Lage der Union": "Jetzt schlägt die Stunde der europäischen Souveränität. Die Weltpolitik verlangt es von uns."

Halluzinationen von amerikanischer Grandeur rechtfertigen auch die inflationären Vergleiche der europäischen und amerikanischen Waffenarsenale. Das imaginierte Bedrohungsszenario birgt großes Potential für einen nächsten Großen Krieg. So war es auch mit den erlogenen Gründen der USA für den Einmarsch im Irak, der sich gerade zum fünfzehnten Mal gejährt hat. Die Behauptung von Massenvernichtungswaffen war, wie der schottische Politiker George Galloway so eloquent vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss sagte, "a pack of lies", ein Haufen Lügen. Laut Studien, die das Bundeswehr-Journal zitiert, hat der Irakkrieg eine Million Menschenleben vernichtet, und seine Folgen haben eine gigantische Fluchtbewegung ausgelöst. Und das war noch nicht einmal ein Weltkrieg.