Die Klugen und die Starken

Erfahrungen von Unterlegenheit und Ausgrenzung beeinträchtigen das Denkvermögen. Das muss aber nicht heißen, dass die Stärksten auch die Schlauesten sind

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Alle Säugetiere sind soziale Lebewesen. Ihre Artgenossen bilden einen maßgeblichen Teil ihrer Umwelt, den sie laufend überwachen und mit einem breiten Repertoire spezialisierter Verhaltensweisen ihrerseits formen. Das gilt sogar für die klassischen Einzelgänger wie die großen Raubkatzen: Auch sie etablieren Territorien, unterhalten Beziehungen zu Nachbarn, werben um Partner, erziehen ihren Nachwuchs. Die völlige Vereinzelung ist schädlich - sogar Hauskatzen sollte man mindestens zu zweit halten -, und zumindest bei Mäusen hat man sogar eine eigene neuronale Bahn gefunden, die Einsamkeit signalisiert. Und dieses Signal ist den Tieren unangenehm.

Für den Menschen gilt das in besonderem Maße. Er ist ein Zoon politicon, mehr noch als seine nächsten Anverwandten. Als Einziger unter den Primaten haben wir die Zwillingsfähigkeiten zur Sprache und zur Musik - beides grundsätzlich soziale Verhaltensweisen. Mehr als vielleicht jedes andere Säugetier - mit möglicher Ausnahme der Wale - sind wir auf den Kontakt zu Artgenossen angewiesen.

Leider ist dieser Kontakt nicht immer positiv. Auch Aggression gehört zum sozialen Verhalten. Und wo Mitglieder einer Art zusammenleben, entsteht eine Gruppenorganisation, die häufig eine Rangordnung beinhaltet. Dann gibt es die Starken, die auf alle Ressourcen den ersten Zugriff haben. Und die Schwachen, die das Nachsehen haben und sich unwohl fühlen. Ja, das fühlt sich dann fast so an wie Einsamkeit.

Einsamkeit macht dumm im Kopf

Die unangenehme Erfahrung, der Unterlegene zu sein, hat noch weiterreichende Folgen. Sie erhöht das Risiko für eine seelische Erkrankung, insbesondere für eine Depression. Und sie hindert am Lernen. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass gemobbte Schulkinder schlechtere Leistungen zeigen. Ob es der Stress ist oder ein spezifischeres Gefühl sozialen Unwohlseins - jedenfalls scheint das Gehirn unter solchen Bedingungen nicht sehr aufnahmefähig zu sein.

Dafür, dass es eine besondere Verbindung von der sozialen Einbindung zur Kognition gibt, spricht ein drastisches und ziemlich fieses Experiment, dass Wissenschaftler mit ahnungslosen Probanden machten: Sie ließen ihre Versuchspersonen einen Test auf die maßgeblichen fünf Persönlichkeitsfaktoren ausfüllen. Anschließend baten sie zur Besprechung. Dabei gingen sie auf die gemessene Extraversion ein, die sie wahrheitsgemäß beschrieben, um das Vertrauen ihrer Probanden zu gewinnen. Aber basierend auf diesen Zahlen erklärten sie dann einer zufälligen Auswahl der Probanden, es ließe sich daraus ableiten, dass sie im späteren Leben einsam sein würden. Anderen erzählten sie das Gegenteil - umgeben von vielen lieben Menschen -, und als Kontrolle auf nicht-sozialen Stress einer dritten Gruppe, sie würden wahrscheinlich später irgendeine Form von Unfall erleiden.

Anschließend unterzogen sie die Probanden einem Intelligenztest. Nur bei denjenigen, die glaubten, ihnen stünde ein Leben in Einsamkeit bevor, lagen die IQs durchschnittlich acht Punkte unter den anderen. Ein anderes, körperliches Unglück zu befürchten, hatte nicht diese Wirkung. Das heißt: Nicht nur erlebte Einsamkeit, sondern schon die Vorstellung von sich selbst als einsam schränkt empfindlich die Denkfähigkeit ein.

Zum Glück baten die Forscher ihre Versuchspersonen abschließend erneut zum Gespräch und verklickerten ihnen, dass das alles nur ein fieser Trick gewesen war. Sie durften erst gehen, wenn sie ausdrücklich bekundet hatten, das verstanden zu haben.

Loser lernen langsamer

Will man Näheres darüber wissen, was in solchen Fällen im Gehirn geschieht, dann landet man wieder bei den Mäusen. Auch bei ihnen schlägt Gruppendruck aufs Denken. Um das quantifizieren zu können, hat die Arbeitsgruppe von Louis Matzel und Bruno Sauce an der Rutgers University zunächst eine Art IQ-Test für Mäuse etabliert, der die Tiere fünf ganz unterschiedlichen Lerntests unterzieht und aus den Ergebnissen statistisch einen gemeinsamen Faktor extrahiert. Ja, auch Mäuse haben so etwas wie eine Gesamtintelligenz, einen IQ. Und wie eine weitere Untersuchung der Arbeitsgruppe zeigte, sagt dieser IQ auch ihre Fähigkeit zum logischen Schließen voraus.

Dann setzten die Forscher Mäusemännchen zusammen und beobachteten, wer zum Alphatier wurde und wer in der Rangfolge unten landete. Beim anschließenden Intelligenztest lag der Mäuse-IQ der Alphas höher. Auch bei den Mäusen scheint das nichts mit dem Stress zu tun zu haben.

In unserer aktuellen Forschung haben wir gezeigt, dass das auch für die Formbarkeit der Sehrinde gilt. Eine klassische Methode, um zu untersuchen, wie sich das Gehirn an veränderte Umweltbedingungen anpasst, besteht darin, ein Auge für eine kurze Zeit experimentell zu verschließen und dann zu messen, ob die Sehrinde verstärkt auf das offene Auge antwortet. Bei erwachsenen, einzeln gehaltenen Tieren geschieht das normalerweise nicht; die Sehrinde ist nicht mehr anpassungsfähig. Setzt man dagegen zwei Tiere zusammen und gibt ihnen etwas Platz, dann ist die Formbarkeit sogleich wieder da.

Schränkt man den Platz hingegen ein, dann bleibt nur eine der beiden Mäuse plastisch. Und zwar die dominante. Bei der unterlegenen Maus sind zwar in der Sehrinde die biochemischen Gegebenheiten, die Formbarkeit ermöglichen, weiterhin vorhanden. Aber etwas Anderes unterdrückt diese Fähigkeit - höchstwahrscheinlich das Stirnhirn. Denn dieser Teil des Gehirns ist dafür zuständig, Verhalten in weitreichenden und komplexen Zusammenhängen zu planen - auch in sozialen -, und reguliert bei Mäusen auch den sozialen Rang.

Die Rache der Nerds

Ist der Starke also immer auch der Kluge? Als Wissenschaftler sieht man hilflos auf die Starken dieser Welt, die freiweg den Klimawandel und andere wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen, die bei der Bildung sparen und dafür lieber aufrüsten, und die einen Doktortitel ohnehin nur als Deko betrachten. Das sollen die Klugen sein?

Solche Gedankengänge werden vermutlich die Kollegen von der Rutgers University motiviert haben, sich die Sache mit der Intelligenz bei unterlegenen Mäusen noch einmal genauer anzusehen. Und siehe da: Wenn man die Tiere testet, bevor sie zum ersten Mal nach der Entwöhnung auf einen Artgenossen treffen, dann sind diejenigen die Schlaueren, die später den Kürzeren ziehen. Auch bei Mäusen gibt der Klügere nach. Die Wissenschaftler sind sich noch uneins, ob das daran liegt, dass man Energie nur entweder für Muckis oder für Hirn aufwenden kann, oder ob unterlegene Tiere unter natürlichen Bedingungen Wege finden, dem sozialen Druck auszuweichen.

Weil der Klügere nachgibt, darum, so weiß das Bonmot, regieren die Dummen die Welt. Bei Mäusen mag das so sein; bei Menschen ist es sicherlich komplizierter. Da geht es nicht um den IQ allein, sondern darum, wozu man ihn einsetzt. Die Einen wollen die Welt verstehen, die Anderen wollen sie beherrschen. Das sind gegensätzliche Zugänge zur Welt, die darum selten in einem Menschen zusammentreffen. Auch Politiker können auf ihre Art hochintelligent sein. Während mancher Wissenschaftler sich in der schützenden Einsamkeit seines Labors am wohlsten fühlt.