Erdogan setzt Krieg gegen die Oppositionspartei HDP fort

In den letzten Tagen wurden fast 200 Wohnungen in den überwiegend von Kurden bewohnten Städten sowie in Istanbul von Sondereinsatzkommandos und der Polizei gestürmt, durchsucht und verwüstet

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Die Situation der Opposition in der Türkei wird immer kritischer. Täglich werden HDP-Mitglieder und Abgeordnete verhaftet. Der ehemalige Vorsitzende Selahattin Demirtas muss trotz eines anderslautenden Urteils des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof EGMR in Haft bleiben. Der türkische Präsident hatte erklärt, für ihn habe das Urteil keine bindende Wirkung.

Nun befasst sich auch das Europaparlament mit dem Fall Demirtas und der Situation der politischen Gefangenen in der Türkei. Berichte über Entführungen, Folterungen und Demütigungen in Polizeistationen und Gefängnissen häufen sich, es wird auch über geheime Gefängnisse berichtet.

In den letzten Tagen gab es erneut zahlreiche Verhaftungen von Mitgliedern der HDP. In der westtürkischen Provinz Izmir stürmte die Polizei unter Beteiligung von paramilitärischen Spezialeinheiten der Polizei, Polis Özel Harekat (PÖH), Wohnungen von Vorstandsmitgliedern und Unterstützern und nahm dabei elf Personen fest. Unter den Verhafteten ist auch die bekannte Friedensmutter Medine Kaymaz, berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF. Es dürfte bekannt sein, dass ihnen, wie üblich, Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation und Terrorpropaganda zur Last gelegt wird.

Seit dem 10. Dezember wurden nahezu 200 Wohnungen in den überwiegend von Kurden bewohnten Städten Diyarbakir, Van, Şırnak, Urfa, Batman, Mardin, Mersin, Adana sowie die Metropole Istanbul von Sondereinsatzkommandos und der Polizei gestürmt, durchsucht und verwüstet. Bücher, Zeitschriften und Computer wurden beschlagnahmt. Über 100 Personen, darunter neben oppositionellen Politikern auch zahlreiche Journalisten, wurden in Polizeigewahrsam genommen. Die Innenverwaltung bestätigte 90 Festnahmen.

Begründet wurden die Durchsuchungen mit einer "anonymen Anzeige", wonach sich eine Person von politischen und journalistischen Aktivitäten "gestört fühle" In einer Erklärung der Innenverwaltung hieß es, dass sich die "Operation gegen Aktivitäten der Terrororganisation PKK/KCK" richte.

Unter den Verhafteten ist auch der Journalist Abdurrahman Gök, der bekannt wurde, weil er den Mord an dem Kunststudenten Kemal Kurkut beim Newroz-Fest in Diyarbakir 2017 durch einen Polizisten fotografierte. Die Regierungspartei AKP hatte damals behauptet, Kemal Kurkut sei ein "Selbstmordattentäter" gewesen. Der Polizist, der Kurkut erschossen hatte, ist bis heute auf freiem Fuß.

HDP soll vor den Kommunalwahlen geschwächt werden

Im März 2019 sollen in der Türkei Kommunalwahlen stattfinden. Erdogans Versuch, diese auf November vorzuziehen, scheiterten am Parteichef der faschistischen MHP, Devlet Bahçeli. Vor allem in den kurdischen Provinzen fürchtet Erdogan um die Mehrheit seiner Partei AKP. Um einer Niederlage vorzubeugen, kündigte er weitere Maßnahmen gegen die Opposition an:

Wenn wieder diese Terror-infizierten Personen aus der Wahlurne hervorgehen sollten, werden wir ohne Zögern das Notwendige tun und Treuhänder einsetzen.

Erdogan

Die kommunalen Budgets sind seit August schon dem Staat unterstellt, von 104 Lokalverwaltungen in den kurdischen Gebieten sind bereits 97 Kommunen unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden. Mehr als 2.000 Mitglieder der HDP sind mittlerweile in türkischen Gefängnissen. Mit diesen Aktionen möchte Erdogan die HDP derart schwächen, dass die HDP/DBP nicht genug Mandatsträger für die Kommunalwahlen hat. In Van beschlagnahmte die Polizei bei den Durchsuchungen der HDP-Zentrale den Computer, auf dem sich die Bewerbungsunterlagen der HDP-Bewerber für die Kommunalwahl befanden.

Geheime Foltergefängnisse in der Türkei

Der türkische Geheimdienst betreibt laut einer Recherche von dem ZDF-Magazin Frontal 21 und Correctiv geheime Gefängnisse, in denen gefoltert werden soll. Zwei angebliche Gülen-Anhängern, denen nach ihrer Freilassung die Flucht ins Ausland gelang, berichteten, sie seien wochenlang in geheimen Gefängnissen festgehalten, verhört und gefoltert worden. Sie wurden nach ihren Aussagen auf offener Straße entführt.

"Mit einem Sack über dem Kopf seien sie an einen unbekannten Ort gebracht worden, wo sie über Wochen immer wieder geschlagen, bedroht und gedemütigt worden seien, um Aussagen über vermeintliche andere Gülen-Anhänger zu machen", berichtet der Spiegel.

Wenzel Michalski, der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) geht davon aus, dass diese Verschleppungen und Folterungen systematisch passieren. Gefesselt, mit einem Sack über dem Kopf und nur in Unterwäsche mussten sie stundenlang stehen, berichtet eines der Folteropfer. "Nach einiger Zeit hält man das nicht mehr aus, man ist durstig, müde. Wenn man nicht mehr kann, fällt man auf den Boden und dann gab es Faustschläge und Tritte." Nach wochenlangen Verhören und Folterungen waren die beiden Opfer angeblich bereit, als sogenannte "geheime Zeugen" gegen andere vermeintliche Gülen-Anhänger auszusagen, woraufhin sie dann freigelassen wurden.

Die Berichte von Frontal 21 decken sich mit dokumentierten Berichten von HRW. Betroffen sind aber nicht nur vermeintliche Gülen-Anhänger, sondern alle Personen, die vom türkischen Regime als Terroristen deklariert werden. Das "Verschwindenlassen" in geheimen Gefängnissen ist in der Türkei nichts Neues. Schon in den 1980er und 1990er Jahren gab es massenhaft Berichte über diese Praktiken.

Die westlichen Regierungen, so auch die Bundesregierung, schwiegen damals wie heute über die Menschenrechtsverletzungen bei ihrem NATO-Partner. Dabei liegen der Bundesregierung die Hinweise auf geheime Folterstätten schon länger vor. In einem internen Papier des Auswärtigen Amts zur Situation in der Türkei vom Februar 2017 steht laut Correctiv, "dass Menschenrechtsaktivisten aufgrund der Art der von Opfern erlittenen Verletzungen davon ausgingen, dass die Misshandlungen nicht mehr nur in regulären Polizeistationen stattfänden".

Nach den Recherchen von neun internationalen Medien, darunter das ZDF Magazin Frontal 21, konnte ein vom türkischen Geheimdienst MIT entwickeltes Entführungsprogramm aufgedeckt werden, wonach vermeintliche Gülen-Anhänger auf der ganzen Welt aufgespürt und entführt werden sollte. Entführungen, oder versuchte Entführungen, durch den MIT soll es im Kosovo, der Mongolei, der Republik Moldau und Malaysia gegeben haben

Correctiv berichtete von einem Entführungsfall von sechs türkischen Lehrern im Kosovo, der auch in anderen Medien gemeldet wurde. Diese wurden mit einem Privatjet mit einer Kennung, die darauf schließen lässt, dass es ein Flugzeug der Geheimdienstflotte des MIT ist, in die Türkei geflogen. Besitzer und Betreiber ist eine türkische Bau- und Tourismusfirma namens Birleşik İnşaat Turizm Ticaret ve Sanayi mit Sitz Yenimahalle, einem Stadtteil von Ankara, in dem sich die staatlichen Wohnhäuser der Angestellten des MIT befinden. Das Gelände des MIT liegt nebenan.

Dasselbe Flugzeug (mit einer anderen Kennung) tauchte auch zwei Mal in Deutschland auf: Beim Erdogan-Besuch am 27. September 2018 am Berliner Flughafen Tegel und am 18. Februar 2017 zur internationalen Sicherheitskonferenz in München.