"Rechtsstaat" in Aktion

Unfähigkeit, Kapitulation, oder schon Kollaboration? Ein aktueller Überblick über Pleiten, Pech und Pannen der deutschen Justiz beim Umgang mit Rechtsextremismus

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Die Hamburger Staatsanwaltschaft scheint weiterhin entschlossen, bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der Ausschreitungen während des G20-Gipfels mit größtmöglicher Härte vorzugehen. Richter, die dieser extremen Linie nicht folgen, sollen kaltgestellt werden. Nachdem das Landgericht Hamburg am 9. November die Untersuchungshaft für zwei angeklagte Demonstrationsteilnehmer ausgesetzt hatte, stellte die Staatsanwaltschaft einen Befangenheitsantrag gegen die beteiligten Richter. Zudem hat das Oberlandesgericht Hamburg die Entscheidung der Vorinstanz binnen kurzer Zeit revidiert - die des schweren Landfriedensbruchs Angeklagten Demonstranten bleiben weiterhin in Haft.

Das Landgericht hätte die "Dimension der Taten" der Angeklagten aus den Augen verloren, die "Leid und Schrecken" über die Elbchaussee gebracht hätten, in der am 7. Juli 2017 vermummte Randalierer Autos und Geschäfte beschädigten. Überdies hätte das Gericht die "Opfer verhöhnt", indem es den Angeklagten - denen eine direkte Beteiligung an den Sachbeschädigungen nicht nachgewiesen werden kann - eine Freiheitsstrafe von drei Jahren in Aussicht stellte. Sie sollen als "Gehilfen" die vermummten Täter "psychisch" unterstützt haben. Die Staatsanwaltschaft und das Oberlandesgericht fordern hingegen eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren, berichtete die Tageszeitung.

Damit entsteht der Eindruck, dass die Hamburger Justiz weiterhin der politischen Vorgabe des damaligen ersten Bürgermeisters Olaf Scholz folgt, der in Reaktion auf die Ausschreitungen, die durch eine brutale Eskalationsstrategie der Polizei angefacht wurden, möglichst "harte Strafen" forderte.

Bisheriger Höhepunkt der Strafkampagne, die der umstrittenen Eskalationsstrategie des inzwischen beförderten Polizeichef Dudde folgte, ist die Verurteilung eines Angeklagten zu dreieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung - wegen eines Flaschenwurfs. Das Einnehmen einer "Embryonalstellung" durch einen 21-jährigen Demonstranten bei seiner Verhaftung, der ebenfalls Flaschen geworfen haben soll, hatte eine Verurteilung von zweieinhalb Jahren ohne Bewährung zur Folge.

Rückblick: Milde gegen Massenmörder

Diesen Verfolgungswillen der Hamburger Justiz gegenüber den G20-Demonstranten, der mit den schwersten "Gewalt- und Sachbeschädigungshandlungen" in der "Nachkriegsgeschichte" Hamburgs begründet wurde, kontrastierte die Tageszeitung mit ihrer Rechtsprechung während der Zeit nach dem Weltkrieg, als Massenmörder in SS- und Polizeiuniformen jederzeit auf viel Verständnis und regelrecht "gutmenschenhafte" Rücksichtnahme der hanseatischen Richter bauen konnten:

Als das Landgericht etwa in den sechziger Jahren die Mörder des Polizeibataillons 101, die während der deutschen Besetzung Polens Zehntausende unschuldige Menschen erschossen hatten, mit Haftstrafen von drei Jahren und weniger aburteilte, regte sich keine Empörung. Ebenso wenig ist Kritik überliefert an der Weigerung, Todesurteile aus der Nazizeit oder Verurteilungen wegen "Rassenschande" aufzuheben. Hingenommen wurde auch, dass das Hamburger Landgericht die Hauptverhandlung gegen den millionenfachen SS-Massenmörder Bruno Streckenbach nicht eröffnete.

taz

Zwischen 38.000 und 45.000 Männer, Frauen und Kinder haben Hamburger Reservisten und Berufspolizisten zwischen 1939 und 1945 umgebracht, um 1968 "angeklagt und teils zu Haftstrafen verurteilt" zu werden, wie es das Hamburger Abendblatt vorsichtig formulierte.

Bei Höchststrafen von drei Jahren für zehntausendfachen Massenmord wurden fünf der 14 Angeklagten verurteilt, während sechs weitere zwar schuldig gesprochen, aber bei diesen "Schuldsprüchen" keine Strafen verhängt wurden. Später wurden etliche Haftstrafen gegen die NS-Massenmörder abgesenkt oder ausgesetzt. Dabei bildete der Prozess gegen die Massenmörder des Polizeibataillons 101 die große Ausnahme, gewöhnliche NS-Massenmörder in Polizeiuniformen kamen gänzlich ungeschoren davon.

Doch wozu den Blick in die braune Vergangenheit der bundesrepublikanischen Justiz der 50er oder 60er schweifen lassen, wenn die Gegenwart inzwischen ähnlich trübe ist? Ein Rechtsextremist, der Beihilfe zum Terror des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) leistete, wurde jüngst vom Münchener Oberlandesgericht zu einer deutlich milderen Strafe verurteilt als der Flaschenwerfer von Hamburg.

"Die Jew Die" ("Stirb, Jude, Stirb") - mit solchen Tattoos ist der Körper des Neonazis Andre E. verunstaltet, der als der wichtigste Terrorhelfer des NSU zu gerade mal zweieinhalb Jahren wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde. Die Staatsanwaltschaft, die hier keine Befangenheitsanträge stellte, hatte 12 Jahre wegen Beihilfe zu einer Mordserie gefordert. Der NSU-Terrorhelfer wurde erst in der Endphase des Prozesses in Untersuchungshaft genommen. Bei der Urteilsverkündung brachen die im Publikum anwesenden Nazis in Jubel und Applaus aus.