Proteste in Ungarn: "Orbán, verschwinde!"

Viktor Orbán. Bild: EU Parliament Multimedia Centre

An den Demonstrationen in Budapest gegen ein "Sklavengesetz" beteiligten sich 2.000 bis 3.000 Demonstranten. Es werden Vergleiche mit den Protesten der Gelben Westen gezogen

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Nun hat es auch der Gegenspieler Macrons auf europäischer Ebene, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, mit Protesten zu tun, die Schlagzeilen machen und seinen Rücktritt fordern. Es handle sich um die "heftigsten Proteste seit mehr als zehn Jahren", wird in Österreich und Deutschland berichtet, etwa von der Tageschau und dem österreichischen Standard.

Die Teilnehmerzahl liegt freilich weit hinter den Zahlen der Proteste der Gelben Westen in Frankreich zurück, die auch Macrons Position in der EU geschwächt haben. In Frankreich waren es landesweit an den vorangegangenen beiden Wochenenden über Hunderttausend. Aus Budapest wird von 2.000 bis 3.000 Demonstranten berichtet, die sich gestern Abend vor dem Parlament versammelt haben.

Von Demonstrationen in anderen Städten ist zumindest in der internationalen Berichterstattung nichts bekannt. Bislang unbekannt ist auch, in welchem Ausmaß die ungarische Bevölkerung den Protest unterstützt, bei dem es um die Situation von Arbeitnehmern geht. In Frankreich kann die Protestbewegung bislang auf eine breite Sympathie in der Bevölkerung bauen.

Aber es werden mehr, die in Budapest protestieren. Und es kam am Freitagabend, dem "dritten Tag in Folge" (Tagesschau), zu Ausschreitungen: Tränengas- und Gummiknüppeleinsatz der Polizei und Flaschen- wie Rauchbombenwürfe der Demonstranten. Laut Polizei sollen mehr als 50 Menschen festgenommen worden sein und mindestens 14 Polizisten verletzt.

"Das Sklavengesetz"

Am Donnerstag wurden noch von Hunderten Demonstranten berichtet, die in der ungarischen Hauptstadt gegen ein neues Arbeitsgesetz protestierten, das als "Sklavengesetz" bezeichnet wird. Allerdings soll sich der Proteste darüber hinaus auf mehr beziehen. Auch die Forderung nach einem Rücktritt Orbáns sowie einer grundsätzlicheren politischen Veränderung gehört dazu.

Anschaulich macht dies eine Aussage von Miklós Hajnal, der dem regierungskritischen "Momentum Movement" angehört: "Heute haben sie im Parlament im Prinzip die Demokratie begraben. Das ist der letzte Schritt auf dem Weg zu einem Einparteienstaat."

Dem vorangegangen war am Mittwoch im ungarischen Parlament die mehrheitliche Annahme - 130 Ja-Stimmen der Regierungspartei Fidesz und 52 Gegenstimmen - einer Reform des Arbeitsgesetzes, das es den Unternehmen in Zukunft gestattet, "Mitarbeiter auf 400 Überstunden pro Jahr zu verpflichten - statt wie bisher auf maximal 250" (Handelsblatt).

"Für Ausgleich oder Bezahlung der Überstunden können sich Arbeitgeber statt einem Jahr in Zukunft nun sogar drei Jahre Zeit lassen", fügt das deutsche Wirtschafts- und Finanzmedium hinzu, das von anschließenden schweren und lautstarken Tumulten im ungarischen Parlament berichtet. Interessant ist, dass, nicht nur in der Schilderung des Handelsblattes, die Opposition als "von rechtsextrem bis links" bezeichnet wird.

In deutschsprachigen Berichte, deren Kern Nachrichtenagenturmeldungen zu den gestrigen Protesten ausmachen, heißt es zu den Protesten gestern Abend:

Die Proteste wurden informell über soziale Netzwerke organisiert. Aber auch Vertreter der linken und rechtsextremen Opposition riefen zur Teilnahme auf. Die beiden politischen Lager hatten sich am Mittwoch im Parlament zusammengeschlossen und versucht, gemeinsam ein neues Arbeitsgesetz der Regierung von Viktor Orbán zu verhindern.

Die Zeit

Auch hierin kann man Ähnlichkeiten zu den Protesten in Frankreich sehen. Der Anlass zu den Protesten gründet allerdings auf einem anderen Hintergrund. Ungarn braucht Arbeitskräfte. Abzulesen ist das etwa daran, dass die Arbeitslosenquote im August 2018 auf "das Allzeittief von 3,8 Prozent fiel". Zum Vergleich im Jahr 2010 stand sie noch bei 11,2 Prozent.

Die Autoindustrie hat Bedarf an billigen Arbeitern

Zwar wird damit gerechnet, dass sich das kräftige Wachstum in Ungarn im kommenden Jahr verlangsamen wird, aber der Bedarf an Facharbeitern bleibt hoch - und bekanntlich ist Orbàn keiner, der sich die Arbeitskräfte aus anderen Ländern holen will.

Großen Bedarf hat die Autoindustrie. Die Ausfuhr von Autos macht etwa ein Drittel aller ungarischen Exporte aus. Dabei sind es vor allen Dingen ausländische Autobauer, hauptsächlich deutsche - BMW, Audi, Mercedes-Benz, Opel und Suzuki -, die in Ungarn herstellen lassen, weil dort die Löhne niedrig sind.

In Ungarn und in anderen Ländern Mittelosteuropas liegen die Löhne nur bei einem Drittel der Löhne in Westeuropa.

Csaba Kilian, Generalsekretär des ungarischen Verbandes der Automobilindustrie

Ungarn wird demnach von den Unternehmen als "Standort mit niedrigen Lohnkosten, gut ausgebildeten Arbeitskräften und schwachen Gewerkschaften" geschätzt, zudem gebe es "Subventionen, Steuerermäßigungen und ein dichtes Zulieferer-Netz", berichtete die Wiener Zeitung im August. Damals sprach der Generalsekretär des ungarischen Verbandes der Automobilindustrie bereits von Arbeitskräftemangel in den Regionen, wo sich die Autohersteller angesiedelt haben.

Angesichts dessen ist offensichtlich, welche Interessen die am Mittwoch beschlossene Reform des Arbeitsgesetzes bedient. Die Arbeitnehmervertreter laufen Sturm, berichtete das Handelsblatt, am vergangenen Samstag gab es bereits eine Großdemonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern in Budapest, organisiert vom Gewerkschaftsbund MASZSZ.

"Etliche trugen gelbe Warnwesten"

"Etliche trugen gelbe Warnwesten - nach französischem Vorbild", heißt es in dem Bericht. Zu lesen ist dort auch, dass die Arbeitgeber keine Angst zeigen würden, da in Budapester Wirtschaftskreisen nicht davon ausgegangen, dass die Gewerkschaft einen Generalstreik auf die Beine stellen könne. In Frankreich war man davon überrascht über die Dynamik einer Protestbewegung, die eine Steuererhöhung auf Treibstoff zum Anlass hatte.

Mittlerweile spricht man davon, dass dies der Tropfen war der ein Fass zum Überlaufen brachte, das seit vielen Jahren mit Zorn, Ärger, Verdruss und dem Gefühl, von der Politik übergangen worden zu sein, angefüllt worden war. Ob sich eine solche Dynamik auch in Ungarn - oder in anderen Ländern - entwickeln kann, ist noch Gegenstand von Spekulationen. Zu den Spekulationen in einem größeren Bild müsste man aber auch die künftige Entwicklung der Autoverkäufe mithineinnehmen.