"Aufdecken und kognitives Verarbeiten von realen Widersprüchen"

Hartmut Krauss zur Aktualität der Marxschen Theorie, Teil 1

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In seinem Buch Die Marxsche Theorie und ihre Bedeutung für eine herrschaftskritische Gesellschafts- und Subjektwissenschaft legt der Erziehungswissenschaftler Hartmut Krauss dar, welche Strukturen und Elemente des klassischen Marxismus von Marx und Engels für die Erfassung der Anatomie der aktuellen Gesellschaft fruchtbar und notwendig sind.

Herr Krauss, welche Grunderkenntnisse von Marx machen ihn für heute noch interessant?

Hartmut Krauss: Marx wird gemeinhin auf seine kritische Analyse der widersprüchlichen Bewegungsprozesse und Zusammenhänge der kapitalistischen Ökonomie reduziert. Zweifellos spielt diese Kritik der kapitalistischen Produktionsweise - gerade auch im Hinblick auf die Konstitution des globalistischen Gegenwartskapitalismus - eine nach wie vor relevante Rolle.

Darüber hinausgehend besteht die herausragende Bedeutung von Marx meines Erachtens aber darin, dass er - in engem intellektuellen Austausch mit Engels - die theoretischen, kategorialen und methodischen Grundlagen geschaffen hat für eine umfassende herrschaftskritisch-emanzipatorische Gesellschafts- und Subjektwissenschaft. Sein Werk sowie die Schriften von Engels enthalten einen nach wie vor gültigen Leitfaden zur Analyse der Komplexität zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse auf unterschiedlicher historischer Stufenleiter, der für ein begreifendes Erkennen der sozialen Wirklichkeit unverzichtbar ist.

Dabei geht es darum, die jeweiligen zwischenmenschlichen Herrschaftsverhältnisse als komplexe Ganzheit zu erfassen und die konkreten Vermittlungszusammenhänge zwischen a) der ökonomischen Herrschaftsebene, b) der politischen Herrschaftsebene und c) der ideologischen bzw. geistig-kulturellen Herrschaftsebene aufzudecken.

Anzumerken ist hier zudem, dass die Theorie von Marx nicht nur ein wissenschaftlich-theoretischer Leitfaden im zuvor umrissenen Sinne ist, sondern zugleich auf kritisches Eingreifen, also auf gesellschaftsverändernde, praktisch-kritische Tätigkeit ausgerichtet ist. Das Bindeglied zwischen theoretischem Begreifen und praktischem Eingreifen ist ihre parteilich-wertende Position: Sie ist dem revolutionär-humanistischem Standpunkt verpflichtet, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."1

Dass dieser revolutionär-humanistische Standpunkt des Umwerfens unmenschlicher Lebensverhältnisse nicht nur auf westliche Länder beschränkt ist, sondern auch nichtwestliche Herrschaftsformationen ins Visier nimmt und damit im Widerspruch zu kulturrelativistischen Positionen steht, liegt klar auf der Hand.

"Die Klasse der Lohnabhängigen hat sich extrem verändert"

Wie aktuell ist das Theorem vom Klassenkampf und wie stellt sich dieser heutzutage dar?

Hartmut Krauss: Nach wie vor ist der Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit ein zwar wesentliches, aber zunehmend politisch-ideologisch verstelltes Strukturmerkmal westlich-spätkapitalistischer Gesellschaften. So haben sich insbesondere die Binnenverhältnisse der beiden Antagonisten im Unterschied zu Marxʼ Lebzeiten gravierend verändert.

Der Interessens- und Aktionshorizont der großkapitalistischen Bourgeoisie ist heute viel weniger nationalstaatlich ausgerichtet; es dominiert unter dem Mantel von global governance eine profitstrategische (Verflechtungs-)Orientierung in unterschiedlichste Herrschafts- und Kulturregionen hinein; die multinational zusammengesetzten Konzerne sind "divers" und "bunt" zusammengesetzt und gieren nach unbegrenzter Offenheit für den ungehinderten Fluss von Geld, Waren, Dienstleistungen und variablem Kapital, also Arbeitskräfte.

Die Klasse der Lohnabhängigen wiederum - das dürfte klar sein - hat sich heute im Vergleich zu Marxʼ empirischer Anschauungsgrundlage extrem verändert. Sie ist in mehrdimensionaler Hinsicht erheblich fragmentiert und fraktioniert, zerfällt in "Stammbelegschaften", Leiharbeiter, prekär Beschäftigte, besserverdienende Angestellte, Dienstleistungsproletarier, "Aufstocker" und ein migrantisches Subproletariat sowie zudem in sehr unterschiedliche Sozialmilieus und "Lebensstilgruppen". Hinzu kommt eine zunehmende Entkoppelung von spontan-reaktiven Protestaktivitäten von Lohnabhängigen einerseits und herkömmlichen interessenpolitischen Organisationen der "Arbeiterbewegung" andererseits.

Unzufriedene Werktätige wählen "rechtspopulistische Parteien", angebliche "Linksparteien" befinden sich im ideologischen Mahlstrom des bunten globalkapitalistischen Herrschaftskartells, wieder andere streifen wie in Frankreich "gelbe Westen" über und formieren sich zu einer breiten Protestbewegung gegen die Gleichzeitigkeit von neoliberaler Deregulierung und steuerpolitischer Staatsausbeutung der werktätigen Schichten.

"Kritische Wirklichkeitsanalyse"

Welchen Stellenwert besitzt die Dialektik im Marxschen Oeuvre? Kann man Marx ohne Dialektik auch verstehen?

Hartmut Krauss: Die materialistische Dialektik, das heißt das Aufdecken und kognitive Verarbeiten von realen Widersprüchen steht im Zentrum der Marxschen Theorie und fungiert als ihr grundlegendes Orientierungsprinzip. Nur so, auf der Grundlage der Einsicht in den widersprüchlichen Grundcharakter des materiellen Weltgeschehens und seiner ideologischen Widerspiegelungen, kann "die kritische Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der wirklichen gesellschaftlichen Bewegung" 2 gelingen.

Demnach wäre der "Marxismus" in allgemeiner Form zu kennzeichnen als Theorie der Genese, Bewegung und Aufhebung der gesellschaftlich-historischen Widersprüche. Vertreibt man hingegen die Dialektik aus der Marxschen Theorie und ersetzt sie durch ein flaches ökonomistisches und mechanistisches Denken sowie eine teleologische Geschichtsauffassung, dann zerstört man sie.

In direktem Gegensatz zu Hegels "versöhnungsdialektischer" Affirmation des Bestehenden, also der vorgegebenen Wirklichkeit, als Credo der "begreifenden Philosophie" fordert Marx "die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden" und damit das "Praktisch-Werden" der Philosophie gemäß ihrer Einsicht in die Genese und aktuelle Konstitution der widersprüchlichen ("realdialektischen") Wirklichkeit vom Standpunkt einer radikal-humanistischen Grundposition:

"Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und die demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.

Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." 3

Mit dieser Aussage bringt Marx in konzentrierter Form die integrale Einheit von kritischer Wirklichkeitsanalyse, radikal-humanistischer Perspektive und revolutionärer Praxis als Grundcharakteristikum seiner theoretischen Konzeption zum Ausdruck, auf der letztendlich auch die Anziehungskraft des "Marxismus" beruht.

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