Unter der Herrschaft einer Form der milden Funktionärsdiktatur

Der Niedergang der klassischen Volksparteien ist unaufhaltsam - Teil 2

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Die soziale Struktur aller Volksparteien unterscheidet sich in allen Ländern drastisch von der der wahlberechtigten Bevölkerung. Zwischen den Volksparteien und dem Volk liegen Welten. Da gibt es kaum Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten.

Parteimitglieder haben eine überdurchschnittlich hohe formale Bildung und arbeiten zu einem wesentlich höheren Anteil als der Bevölkerungsschnitt im öffentlichen Dienst. Krass unterrepräsentiert sind jüngere Leute im Alter von 18 bis 40 Jahren und Frauen. Während sich nur 8 Prozent der Wahlberechtigten der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht zurechnen, tun das 30 Prozent der Mitglieder aller politischen Parteien.1

Nach der Berufsstruktur ihrer Mitglieder haben sich die Parteien im Laufe der Jahrzehnte zunehmend aneinander angeglichen: Die SPD ist keine Arbeiterpartei mehr, die CDU/CSU keine Partei von Unternehmern und Landwirten und die FDP nicht mehr die Partei des alten und auch nicht des neuen Mittelstands. Alle versuchen, auf möglichst breiter Basis die Mitte für sich zu gewinnen.

Das Dilemma einer politischen Missgeburt. Der Niedergang der klassischen Volksparteien ist unaufhaltsam - Teil 1

Im Laufe der 1950er, 1960er und 1970er Jahre haben sich die politischen Parteien radikal verändert. Beherrschte davor noch der Gegensatz zwischen Arbeiterparteien und bürgerlichen Parteien die politische Landschaft, so haben sich alle Parteien seither in der Struktur ihrer Mitglieder stark angeglichen: Sie sind ein Spiegel der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) geworden und haben sich von ihren traditionellen sozialen Milieus losgelöst. Unter den Mitgliedern aller Parteien dominieren nun Beamte, öffentliche Angestellte und Rentner.2

Eine Schieflage besteht auch in der Alterszusammensetzung. Fast die Hälfte aller Parteimitglieder ist zwischen 41 und 60 Jahre alt, in der Bevölkerung gehört nur ein Drittel in diese Altersgruppe. Dramatisch ist die Unterrepräsentation von Frauen: 74 Prozent aller Parteimitglieder sind Männer, folglich sind nur 26 Prozent Frauen.

Besonders Angehörige des öffentlichen Dienstes sind in allen Parteien so stark überrepräsentiert, dass Beobachter seit langem "eine personale Verschränkung zwischen Mitgliederorganisation der Parteien und Staatsverwaltung"3 konstatieren. Unter der Dominanz von Staatsbediensteten und Rentnern verschwindet fast das Gewicht von Arbeitern und Angestellten aus der privaten Wirtschaft: In der Bevölkerung machen sie zwar 34 Prozent aus, in den Parteien jedoch nur 20 Prozent.

Allen politischen Parteien fehlt der Nachwuchs. Und der, der noch da ist, wendet sich frustriert ab. Die goldene Zeit der Mitgliederparteien ist vorbei. Das betrifft vor allem die SPD. So konnte die CDU 2008 zwar stolz verkünden, dass sie erstmals mehr Mitglieder hat als die SPD, die sich mehr als hundert Jahre stolz als die klassische Mitgliederpartei rühmte. Doch auch das ist nur vordergründig ein Erfolg. Er täuscht darüber hinweg, dass die beiden großen Parteien kaum weniger als halb so viele Menschen binden wie noch 30 Jahre zuvor.

Die Zahl sinkt weiter und wird weiter sinken. Es ist ein säkularer Trend, der sich auf die eine oder andere Weise in allen entwickelten repräsentativen Demokratien abspielt. Die politischen Parteien waren ein Phänomen des ideologischen Zeitalters, in dem weltanschauliche Organisationen einander gegenüberstanden und um Anhänger wetteiferten.

Die Volksparteien wiederum waren und sind zum Teil noch immer ein Phänomen, das die ganze Verlogenheit der repräsentativ-demokratischen Scheinwelt für jedermann erkennbar entlarvt. Kein Wunder, dass nach und nach selbst die dümmsten Wähler längst ahnten oder gar klar erkannten, dass die Politik der Volksparteien anderen Interessen dient als denen des gemeinen Volkes. Die etablierten Politiker haben viel zu lange Zeit geglaubt, sie könnten die Wähler hinters Licht führen. Sie haben sich fatal geirrt.

Entfremdung charakterisiert das Verhältnis der Bürger zur Politik

Der Rückzug der Bürger aus den politischen Parteien ist ein Ausdruck der wachsenden Entfremdung zwischen der Bevölkerung und ihren politischen Repräsentanten. Die CDU hatte schließlich nicht deshalb mehr Mitglieder als die SPD, weil sie so attraktiv geworden war. Der höhere Mitgliederstand ergab sich auf Grund der in der SPD grassierenden Schwindsucht. Auf ihrer rasanten Talfahrt raste die SPD an der traditionell mitgliederschwachen CDU vorbei. Und die CDU rühmte sich nicht etwa der eigenen Attraktivität, sondern der Schwäche der Konkurrenz …

An diesem "historischen Tag" - so der damalige Generalsekretär Roland Pofalla -, dem 30. Juni 2008, hatte die CDU insgesamt 530.755 Mitglieder und damit 761 Mitglieder mehr als die SPD.

Da wird viel ein- und noch mehr ausgetreten. Die Fluktuation ist in allen politischen Parteien extrem hoch. Viele der neuen Mitglieder treten entsetzt wieder aus, nachdem sie erst einmal erlebt haben, wie verpieft es in Ortsvereinen hergeht. Offensichtlich sind das für viele Menschen Stätten des nackten Grauens. Sie ergreifen noch schneller die Flucht, als sie die Mitgliedschaft erworben haben.

Der Exodus aus den Parteien hält jedenfalls ungebrochen an. Und da sich an den Bedingungen, die ihn herbeigeführt haben, nichts ändert, wird er sich noch viele Jahre fortsetzen. Die Mitgliederzahlen der Parteien tendieren auf jeden Fall mit hoher Geschwindigkeit gegen Null.

Mitte der 1970er Jahre hatte allein die SPD noch 1,022 Millionen Mitglieder. CDU und CSU kamen zusammen auf noch einmal so viele. Seitdem geht es mit den Volksparteien rapide bergab. Die Mitgliederzahl der SPD schrumpfte seither rasant und dümpelt 2018 bei 449.870. Es geht weiter bergab.

Das Heer der reitenden Karteileichen

Wenn man bedenkt, dass selbst von den wenigen Mitgliedern eine nicht verlässlich bezifferbare Zahl reine Karteileichen sind, erlaubt das nur die Feststellung: Das politische Establishment der SPD hat den Status einer Mitgliederpartei und damit den besonderen Nimbus der einstigen Arbeiterpartei über Jahrzehnte hinweg gnadenlos versemmelt.

Anders als die bürgerlichen Parteien, in denen sich eher das gehobene Bürgertum locker zusammenschloss, war die alte SPD eine straff organisierte Arbeiterpartei, deren Mitglieder die Partei zum größten Teil auch finanzierten. Heute ist sie nur eine von mehreren bürgerlichen Allerweltsparteien.

Wie dramatisch die innere Auszehrung der Parteien ist, wird deutlich an der Situation der SPD: Selbst nach dem 2. Weltkrieg und den Jahren des Dritten Reichs hatte die Partei 1949 noch 750.000 Mitglieder. Die Terrorherrschaft der Nazis und der Weltkrieg haben nicht so destruktiv zur Auszehrung der Parteien beigetragen wie viele Jahre repräsentativer Demokratiepraxis.

Die Zahl wuchs bis 1976 sogar auf über eine Million und sank von da an ungebremst. Allein in den 20 Jahren von 1995 bis 2015 verlor die SPD rund 372.000 Mitglieder. Und ein Ende ist nicht in Sicht.

Die CDU zählt 2018 gerade mal 425.910 Mitglieder und damit wieder weniger als die SPD. Parteiinterne Rechnungen gehen davon aus, dass sich die Mitgliederzahl im Osten zum Jahr 2019, diejenige im Westen bis 2024 halbieren wird. Wer von den beiden Volksparteien gerade mehr oder auch weniger Mitglieder hat, ist relativ gleichgültig; denn beide stehen auch beim Schrumpfen in edlem Wettbewerb um den vordersten Platz.

Die CSU, die Schwesterpartei der CDU in Bayern, bewegt sich 2018 bei 140.983 Mitgliedern. Tendenz wie bei allen anderen auch sinkend, und das seit Jahren. Die Linke kam Ende 2018 auf 62.298 Mitglieder. Tendenz sinkend.

Lediglich mit dem Bündnis 90/Die Grünen weht bei Mitglieder- und bei Wählerzahlen derzeit ein anhaltender kräftiger Aufwind. Einer der Gründe dafür dürfte es sei, dass die Bündnisgrünen in der Öffentlichkeit am wenigsten als eine der klassischen Altparteien auftritt, auch weniger belastet ist und sich eher wie eine anwachsende Bewegung auftritt.

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