Die konsumierte Revolution

Den "Brandstifter-Prozess" von 1967/68 dokumentierten Rainer Langhans und Fritz Teufel auf ihre Weise parodistisch-situationistisch. Bild: Bernhard Wiens

Die "Situationistische Internationale" war der Keim der Studentenbewegung

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Die Anklage lautete auf Aufforderung zur Brandstiftung. Im Prozess vor dem Berliner Landgericht wurde Rainer Langhans und Fritz Teufel vorgeworfen, den Brüsseler Kaufhausbrand vom 22. Mai 1967 mit über 300 Toten mit den Worten verherrlicht zu haben, ein "knisterndes Vietnamgefühl" auszulösen, das auch auf Berliner Kaufhäuser übertragbar sei. Zwischen dem vorsitzenden Richter und dem jungen, damals engagiert linken Rechtsanwalt Horst Mahler entspann sich folgender Dialog:

Vorsitzender: Wem gehört der Koffer?
Mahler: Meiner.
Vorsitzender: Was ist denn da drin, in dem Koffer meine ich?
Mahler: Keine Bomben.
Vorsitzender: Was dann?
Mahler: Surrealistische Literatur.

Entfaltete der französische Surrealismus auch in Deutschland eine Sprengkraft, die ihm nicht zuzutrauen ist, da er doch von Träumen zehrt? André Breton präzisierte: Surrealität ist die Auflösung der gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit. Um diese Auflösung kreisten die Diskurse der "Situationistischen Internationale" (SI), einer Gruppe von Bohèmiens, Künstlern und Schriftstellern, die von 1957-1972 nicht nur in Frankreich bestand. Sie war ein Movens der Studentenrevolte vom Mai 68, von dessen Wucht, verstärkt durch die Arbeiterstreiks, sie zugleich überholt wurde. Als eine "Internationale" hatte sie auch in Deutschland Seitentriebe, so in der Münchener Gruppe SPUR. Subversive Beziehungen verliefen zur deutschen "Spaßguerilla" und ihren provokativ-hedonistischen Aktionen.

Die konsumierte Revolution (9 Bilder)

"Arbeitet niemals". Rekonstruktion eines Graffitos von Guy Debord, 1953. Bild: Lékrivin3 / CC-BY-SA-4.0

Fünf Jahre nach Gründung der "SI" war der Surrealismus nicht mehr gut genug für den Ausbruch aus den tradierten Künsten, die doch nur das Herrschaftssystem unterstützten. Das wurde vice versa auch dem Surrealismus vorgeworfen, da er die Negation des Bestehenden und den Aufbruch zu Neuem mit künstlerischen Mitteln und damit unvollkommen bewerkstellige. Er belasse alles beim Alten. Im Zuge der Politisierung der Gruppe wurden gleich die meisten Künstler und die Kunst als solche herausgedrängt, auf die Straße, wenn man will.1 Wer Kultur schaffen will, muss Kultur zerstören, hieß es zur Einläutung des Endes der Kunst. Der Graffiti-Künstler Banksy ist sich dieser Tradition wohl bewusst. Zum Entsetzen des Publikums zerstörte sich auf einer Auktion sein Bild im Moment des Zuschlags (wie von) selbst.

Die Trennung zwischen Kunst und Leben ist aufzuheben, weil ein zu sich gekommenes Leben in freiem Spiel der künstlerischen Kreativität besteht. Das Spiel mache alle zu Künstlern. Weil jeder Mensch von Natur aus ein Künstler ist, würde Joseph Beuys ergänzen. Allerdings besteht genau an dieser Stelle die Gefahr eines Umschlags. Wenn Kunst und Leben in einer realen politischen Situation verschmolzen werden, wird umgekehrt die Politik ästhetisiert. Darauf beruht die faschistische Propaganda. Die Situationisten behaupten dagegen, dass die politische Praxis, in der die Kunst aufgegangen ist, die Verwirklichung nur noch einer Situation zulasse: der Revolution. Paradise Now.

Dieses politisch unmittelbar herbeigeführte Paradies ginge jedoch entgegen der Intention der Situationisten auf Kosten des befreienden Spiels, des Ausprobierens mehrerer Möglichkeiten. Dabei hatten sie sich selbst an einem faulen Spiel gerieben, an der verpönten "Gesellschaft des Spektakels". Unter diesem Titel veröffentlichte 1967 der geistige Protagonist der Gruppe, Guy Debord, sein Hauptwerk.

Im Schauspiel werden abstrakte gesellschaftliche Beziehungen in leibhaftigen Personen auf der Bühne vorgeführt. Der Schein des Spiels verweist auf etwas, das dahinter liegt, zugleich abwesend und anwesend ist. Das bezieht Debord auf die Gesellschaft insgesamt. Die Beziehung der Menschen untereinander ist vermittelt durch die Waren, und das schlägt rückwirkend auf die Menschen zurück. Sie werden abhängig von der Verselbständigung des Tauschwerts der Ware.

Ist der Mensch eine Ware, wird er wie ein Ding behandelt, sind die allgemeinen Beziehungen der Menschen untereinander Beziehungen von Ding zu Ding, was bedeutet, dass seine Zeit käuflich ist.

Das Spektakel des Kapitalismus macht die Menschen zu Konsumenten der Entfremdung von ihren eigenen Worten und Taten, ihren Wünschen und ihrer Sexualität. Indem die Ware im Prozess ihrer scheinbaren Selbstverwertung "sich selbst in einer von ihr geschaffenen Welt anschaut", macht sie den Menschen zur Ware, die von anderen Waren abhängt. Der Zuschauer des Spektakels findet nicht, was er begehrt, sondern er begehrt nur, was er (vor)findet. Die Ware ist das Opium des Spektakels. Sie ist die Illusion, die die sinnliche Wahrnehmung ersetzt. Die Menschen werden zu Konsumenten käuflicher Illusionen, die sie für ihre eigenen realen Bedürfnisse halten. Die Welt hat sich für sie in ein Schaufenster verwandelt.

Was Debord noch nicht ahnen konnte: Diese Illusionen stellen die Menschen kostenlos der Bewusstseinsindustrie zur Verfügung. Er hat, selbst wenn sein Schreibstil heute etwas krude wirkt, die Marxsche Analyse des Tauschs so weit fortgeschrieben, dass sie auf die Wirkungsweise der Sozialen Netzwerke angewendet werden kann. In diesen werden die Nutzer zu Produkten, die an die Werbewirtschaft verkauft werden.

Die Vorläufer-Bewegung der SI, der 1948 auf Initiative von Isodore Isou gegründete "Lettrismus", setzte auf die Revolte der Jugend. In der Tat entfesselte der Rock'n Roll auch in Deutschland ein erhebliches rebellisches Potential, da die Jugendlichen keiner Glaubenslehre mehr - außer der Technik - anhingen. Die Arbeiterklasse verschwand in der Nachkriegsgeschichte als revolutionäres Subjekt, und die Jugend musste ran.

Sie verschwand noch schneller, aber zyklisch. Debord analysierte, wie die Kultur der Jugendproteste die Verlaufsform des Konsums annahm. Die Jugend wurde zum Markenzeichen der Ware. Jugendlichkeit allüberall. Der Widerstand gegen die Institutionen wird von diesen vereinnahmt (Récupération), dient zu deren Verjüngung und zur Bestätigung ihrer überzeitlichen Beständigkeit. Die Revolte gegen die korrumpierende Warenproduktion endet mit dem Marsch der neuen Zielgruppe ins Warenhaus. Die Ware Jugend.

Aber auch die Situationisten wurden von dem, was sie kritisierten, eingeholt. Sie verfielen dem Analysierten. Ihnen drohte, selbst zum integralen Bestandteil der Spektakelgesellschaft zu werden. Hatten sie sich zunächst geschmeichelt, die geistigen Urheber der 68er-Revolte zu sein, mussten sie dann mit ansehen, wie der Widerstand in einen nur noch größeren Schub des Konsumismus überging. Die neue Jugendbewegung befreite den Kapitalismus von den Fesseln der Tradition und wurde zugleich über die Freiheit des Konsums, das "Große Dürfen", und per narzisstischer Selbstbespiegelung in den Kapitalismus eingebunden. Durch Branding kristallisierten sich Lebensstile heraus. Identität wird designt.

Isou hatte die "permanente kreative Revolution" gefordert. Daraus ging ein Begriff hervor, der die 68er-Revolte beflügeln sollte: Aktion. Adorno wies auf die sozialpsychologischen Aspekte hin: "Übertrifft die Aktionszeit die Reflexionszeit, schlägt die Stunde der wirklichen, (unmittelbaren) Wahrnehmung." Wer die "Tat" begeht, egal welche, wirft in kürzester Reaktionszeit jeden bürgerlichen Ballast ab. Er fühlt sich authentisch. Skrupel sind passé. Der Zustand der permanenten Mobilisierung, des Aufruhrs der Nerven und der Zeichen, kommt der Werbepsychologie gerade recht, um das Publikum anzustacheln. Die "Aktion" ist zum Schlachtruf geworden, um Massenkäufe auszulösen.