Der geplatzte Traum von der perfekten Reportage

Bild: Engin Akyurt/Pixabay.com/CC0

Relotius entstammt der Digital-Natives-Generation, in der Journalismus so verstanden wird: Handy hochhalten, Kamera einschalten und ab ins Netz

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Da ich den "Spiegel" nur noch bei meinem Hausarzt lese, muss es in dessen Wartezimmer gewesen sein, wo ich in Kontakt mit Claas Relotius gekommen bin. Zumindest mit seinem in dem Nachrichtenmagazin erschienen Artikel über "Jaegers Grenze", eine Bürgerwehr in Arizona. Mich hatte die Geschichte interessiert, weil ich selbst vom Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko berichtet habe, freilich aus Texas. Der Rio Grande ist dort übrigens nur knietief, man kann ihn einfach zu Fuß durchwaten.

Der Artikel von Relotius war toll geschrieben, so empfand ich damals beim Lesen, mit vielen interessanten Details, anscheinend hatte der Reporter mehrere Tage mit der Miliz im Gelände verbracht. "Sieh an", war damals meine Reaktion, "der Spiegel hat es doch drauf!" Diese Dichte der Beschreibung war mir nicht gegeben. Und ich erinnere mich noch an das Gefühl des Verwundertseins, wie der Reporter es schafft, sich so einer Truppe anzuschließen.

Seit Mittwoch, dem 19. Dezember, ist klar, dass diese und viele anderen Geschichten von Relotius ganz oder in Teilen erfunden sind. Sagt jedenfalls die Spiegel-Redaktion, die von einem "Betrugsfall im eigenen Haus" spricht und davon, dass ihr Star-Reporter "in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert" habe. Aufgeflogen ist die ganze Sache, weil ein Kollege, der Co-Autor der "Jaeger"-Geschichte, anhand von Fotos Lunte gerochen hatte. Denn die Bürgerwehr-Story ist mit Bildern des Fotografen Jonny Milano illustriert. Diese Fotografien erschienen aber bereits in 2016 in der New York Times und der bärtige Mann, der sich in der Spiegel-Story "Jaeger" nennt, wird dort mit seinem vollen Namen genannt: Chris Maloof. Und als Co-Autor Juan Moreno diesen Mann ausfindig macht und befragt, sagt dieser, einen Spiegelreporter namens Claas Relotius habe er nie gesehen.

Sieht man sich die Fotografien von Jonny Milano an, so zeigen diese uniformierte und bewaffnete Männer zwischen Gestrüpp und Gestein. Die Fotos wirken sehr perfekt, von Bild- und Lichtgestaltung her. Fotografische Aufnahmen von bester Qualität, kaum zu toppen. Vor gut einem Monat habe ich mir ein neues Bildbearbeitungsprogramm für den Computer zugelegt. Natürlich wusste ich da schon, dass man Bilder auf vielfältige Weise verbessern und verändern kann. Was ich aber noch nicht so wirklich realisiert hatte, war das Ausmaß dessen, was heute möglich ist. Aus flauen Fotos werden Bilder mit strahlenden Farben, der matte Himmel wird blau mit Wolkenzeichnung oder er stammt gar von einem anderen Foto, Sonnenstrahlen können beliebig platziert und Dinge und Menschen spurlos gelöscht werden. Aus einem mittelmäßigen Foto wird so eine neue, strahlende Wirklichkeit und wer das weiß, wundert sich nicht mehr über die geradezu übernatürliche Schönheit und Klarheit von Landschaften und Menschen in den Werbe-Prospekten.

Wir wissen, so manches Foto der Zeitgeschichte ist gestellt, der Fotograf hat ein bisschen nachgeholfen. Ergänzt wird dies nun durch die technischen Möglichkeiten der Algorithmen. Und der Journalismus? Soll der immer noch das alte Lied von Wahrheit und Wahrhaftigkeit singen?

Der Neoliberalismus hat mit dem digitalen Internet gemeinsam, dass beide der Optimierung, der Effizienzsteigerung, dem Bewertungs- und Bemessungswahn huldigen. Fotos werden nicht nur optimaler, sondern sind auch immer schneller verfügbar. Demgegenüber ist der Journalismus der Wahrhaftigkeit ein Fossil: Hingehen, reden, nachfragen, anschauen, nachdenken, aufschreiben, schreiben - ja geht's noch? Wenn die Dinge nicht ruck-zuck auf dem Smartphone zu lesen sind, kräht niemand mehr danach. Relotius entstammt der Digital-Natives-Generation, in der Journalismus so verstanden wird: Handy hochhalten, Kamera einschalten und ab ins Netz.

Permanente Selbstoptimierung hin zum perfekten Produkt

Und was ist das denn noch: Wahrheit? Wenn der Spiegel-Reporter so tut, als sei er im Foltercamp Guantanamo mit dabei gewesen, dann ist das Haltung. Aus der Naturwissenschaft wissen wir, dass das Messinstrument selbst das Messergebnis verändert. Und ist der Journalist nichts anderes als selbst ein Faktor, der die Wirklichkeit, die er beschreiben soll, durch seine Anwesenheit verändert? Und sind dann erfundene Details wie das an einer Kette getrage Kreuz jener Frau, die Hinrichtungen aufsucht, aber die Relotius niemals getroffen hat, nicht auch eine mögliche Wirklichkeit, so wie das Computerprogramm fehlende Bildteile in einer Fotografie rechnerisch ergänzt beziehungsweise simuliert?

Relotius hat mit seinen gefakten Stories einen Traum realisiert: Den Traum von der perfekten journalistischen Reportage. Kein Wunder, dass er diverse Journalistenpreise eingeheimst hat.

Der Mann ist jung, 33 Jahre alt, blond, großgewachsen und gut aussehend. Wie der jüngere Bruder von Tagesthemenmoderator Ingo Zamperoni. Wie weit käme in diesen Medien ein kleiner Dicker mit Arbeiterhintergrund, wie in etwa der Schauspieler Axel Prahl verkörpert? Bis zur Pforte? Und ist das Aussehen dieser journalistischen Alpha-Tiere vielleicht kein Zufall, sondern entspringt der Logik eines neu strukturierten journalistischen Feldes, in dem der (An)Schein gegenüber dem Sein an Gewicht gewonnen hat?

Die Anforderungen, die Relotius glaubte erfüllen zu müssen, sind die der digitalen (neoliberalen) Welt (und eines sich immer rasender gebärdenden Live-Journalismus): Die permanente Selbstoptimierung hin zum perfekten Produkt und die Ausschöpfung der Wirklichkeit, was aber in der Wirklichkeit nur als Simulation möglich ist, ganz im Gegensatz zum digitalen Universum, in dem es nichts zu schöpfen gibt, außer dem ohnehin bereits Geschöpften.

Die Reportagen von Relotius entsprechen mit ihrer Perfektion einer erfundenen oder simulierten Welt folgerichtig den Ansprüchen einer Gesellschaft, deren Mitglieder ständig dazu angehalten werden, über den nach außen gezeigten Schein die eigenen Vermarktungschancen auf den "Märkten" zu steigern. "Es ist totaler Zeitgeist", sagt Co-Autor Moreno (in der SZ) über den Anspruch der Chefredaktion an die Reportage. Umso größer das Entsetzen, wenn die Luft entweicht und die aufgeblasene Identität in sich zusammenfällt.

Übrigens, der Fall Relotius ist keineswegs der Tiefpunkt einer 70-jährigen Spiegel-Geschichte, wie es die Chefredaktion schreibt. Der wurde bereits erreicht, als der Spiegel sich dem neoliberalen Mainstream anschloss, seine aufklärerische Haltung aufgab und damit entbehrlich wurde.