Die Aufregung um Claas Relotius ist Heuchelei

Grafik: TP

Solange das Narrativ stimmt, ist Recherche entbehrlich

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Dieser Tage überbieten sich die Medienvertreter mit larmoyanten Kommentaren über den "Journalisten des Jahres" Claas Relotius, dessen Geschichten erzählende Arbeitsweise jahrelang vom Medien-Biotop mit etlichen Journalistenpreisen nachhaltig bestätigt wurde. Während in anderen Branchen Preisträger ihre Auszeichnungen zurücksenden, wenn diese an ihrer unwürdige Personen vergeben werden, wird das bei den zahlreichen leichtfertig an Relotius vergebenen Trophäen nicht passieren.

Relotius tut nichts anderes als das, was von ihm erwartet wurde: Geschichten zu liefern, die das erwünschte Narrativ bedienen, regelmäßig Klickzahlen zu liefern und unerwünschte Beiträge zu vermeiden. Letzteres ist fundamental, denn nicht ein einziger deutscher Journalist erwähnte jüngst die Kriegsverbrechen eines US-Präsidenten, dem Deutschland die Reibungslosigkeit der Wiedervereinigung mitzuverdanken hat (Auf den Hund gekommen). So bedachte man etwa Relotius mit dem Deutschen Reporterpreis für ein wohlfeiles Rührstück über einen syrischen Jungen, der angeblich meinte, durch einen Streich den Bürgerkrieg ausgelöst zu haben.

Mit seiner kreativen Berichterstattung bewegte sich Relotius sogar innerhalb der Maßstäbe des Deutschen Presserats, dem eine sehr ähnliche Geschichte über ein syrisches Kind vorgelegt wurde, nämlich die infame und für jeden professionellen Journalisten sofort durchschaubare Propaganda mit dem angeblichen Twittermädchen im Syrienkrieg.

Gleicher Planet, anderer "Stern"

Ein ähnlich wie Relotius begabter stern-Redakteur hatte die von nahezu allen Medien aufgegriffene Fabel über ein angeblich aus dem syrischen Bürgerkrieg twitterndes Mädchen völlig unkritisch und auf besonders peinliche Weise transportiert. So schrieb der Textkünstler über eine dschihadistische Propagandistin, die ihre kleine Tochter als politische Botschafterin inszenierte, ein jeglichem journalistischen Handwerk spottendes Rührstück.

Dabei halluzinierte der stern „Worte aus dem Mund einer Siebenjährigen“, obwohl diese nachweislich weder englisch verstand noch über das Vokabular der getwitterten Texte verfügte. Stattdessen plädierte die Siebenjährige für den 3. Weltkrieg und feuerte „Manchester United“ an. Der professionelle Journalist tat auf Twitter sogar kund, für Bana zu beten. Seine Gebete wurden erhört, denn Menschenfreund Erdogan ließ Bana ausfliegen, um ebenfalls mit ihr schöne Propaganda zu machen.

Der (aus Branchenvertretern zusammengesetzte) Deutsche Presserat befand jedoch, „dass die Berichterstattung so differenziert sei, dass daraus nicht der Eindruck entstehe, Bana habe allein getwittert“. Außerdem lege die Redaktion „verlässliche Quellen dar, auf die sich der Autor bei seiner Berichterstattung gestützt habe“. Daher sei kein Verstoß gegen das Gebot zur Recherche nach Ziffer 2 des Pressekodex festzustellen. Auf Ziffer 3, der zufolge veröffentlichte Nachrichten oder Behauptungen, die sich nachträglich als falsch erweisen, unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtig zu stellen seien, ging der Presserat erst gar nicht ein.

Presse gegen Pressefreiheit

Statt sich bei den Lesern für das unkritische Durchreichen von Kriegspropaganda zu entschuldigen, zerrte der stern einen insoweit kritischen Blogger vor die berüchtigten Hamburger Pressegerichte. Dabei hatte der stern – der eigentlich für die Pressefreiheit kämpfen sollte – den Erlass einer einstweiligen Verfügung mit einem sechsstelligen Streitwert beantragt, die anfangs sogar dem Landgericht Hamburg als vermessen erschien. Ohne, dass der Blogger in Kenntnis vom Antrag gesetzt worden war, wurde über den Antrag bis hin zum Oberlandesgericht Hamburg verhandelt.

Ohne, dass dem Blogger über insgesamt eineinhalb Monate Gelegenheit zur Rechtsverteidigung gegeben worden war, flatterte ihm dann die teure Unterlassungsverfügung ins Haus. Kürzlich urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass solche "einseitigen Geheimverfahren" ab sofort als verfassungswidrig gelten. Der stern verfolgt seine Klage gegen Blogger unerbittlich weiter, denn selbstverständlich sind stern-Geschichtenerzähler keine "Fakenewsproduzenten", sondern gewissenhafte Qualitätsautoren, die sich auf verlässliche Quellen stützen (z.B. Twitter).

Auch im kommenden Jahr werden die Journalisten hierzulande Hunderte Medienpreise einander gegenseitig verleihen und uns damit die Wahrheit weisen.

Disclosure: Der Autor ist Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht und vertritt den im Beitrag genannten Blogger.