NSU-Schauplatz Brandenburg: Nach der Stasi kam das BfV

Hat der Neonazi und V-Mann Carsten Szczepanski auch für das Bundesamt gearbeitet? - Im Untersuchungsausschuss in Potsdam verdichten sich die Hinweise

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Scheibchenweise Neues im Kapitel BfV-Szczepanski. Die Hinweise verdichten sich, dass der ehemalige Neonazi Carsten Szczepanski nicht nur für den Verfassungsschutz in Brandenburg gearbeitet hat, sondern zuvor auch für das Bundesamt in Köln (BfV). Das wiederum bedeutet, dass er den Mordversuch an dem nigerianischen Asylbewerber Steve E. 1992 als V-Mann verübt hätte. Und es wäre ein weiteres Beispiel dafür, dass V-Leute, die angeblich nur Taten aufklären sollen, selber schwere Straftäter sein können, selbst wenn sie im staatlichen Auftrag unterwegs sind. Szczepanski ist Teil der NSU-Geschichte, weil er in Chemnitz Personen kannte, die mit dem untergetauchten NSU-Kerntrio in enger Verbindung standen.

Im Untersuchungsausschuss von Brandenburg ergab sich jetzt, dass die erste Vernehmung mit Szczepanski nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 nicht etwa das Bundeskriminalamt und die Bundesanwaltschaft vornahmen, sondern ausgerechnet das BfV. Die große Frage ist damit: Gibt es auch im Bundesamt für Verfassungsschutz eine Szczepanski-Akte?

Gesichert und bestätigt ist, dass Szczepanski 1994 vom Landesamt für Verfassungsschutz in Brandenburg als V-Mann verpflichtet wurde und den Decknamen "Piatto" erhielt. 2000 wurde die Zusammenarbeit beendet. Interessanterweise hat Szczepanski wiederholt erklärt, er habe schon etwa ab 1991 für eine Sicherheitsbehörde bearbeitet. Von offizieller Seite gab es nie eine Bestätigung oder Verneinung der Frage, was aber nach allen Erfahrungen mit Auskünften der Verfassungsschutz-Behörden nichts bedeutet.

Zweimal wurde der heute 48-Jährige in diesem Jahr vom NSU-Untersuchungsausschuss in Potsdam als Zeuge vernommen. Dabei machte er Aussagen, die eine mögliche Liaison mit dem BfV wahrscheinlicher erscheinen lassen. So erklärte er, nach seiner Abschaltung im Sommer 2000 sei er noch von Mitarbeitern des BfV vernommen worden. Und auch seine erste Befragung nach dem NSU-Skandal nahm im Juni 2012 der Nachrichtendienst vor und nicht etwa die Behörden, die die Ermittlungen in Sachen NSU zentral führen: Bundesanwaltschaft (BAW) und das BKA. Das erklärte jetzt im Untersuchungsausschuss von Brandenburg der BAW-Vertreter Stefan Schmidt. Schmidt gehörte bis Anfang 2018 in Karlsruhe zum NSU-Ermittlungsreferat und war anfänglich einer der insgesamt vier Sitzungsvertreter der Anklagebehörde im Zschäpe-Prozess in München.

2012, nach der Aufdeckung des NSU-Skandals, waren über 400 Kriminalbeamte an den Ermittlungen beteiligt. Als Szczepanski im Juni 2012 vernommen werden sollte, stellte die oberste Ermittlungsführerin allerdings fest, dass das BfV schneller gewesen war. Es hatte sich den Spitzel im Ruhestand bereits vorgenommen. Für ein laufendes Ermittlungsverfahren derart unüblich, so Schmidt, dass der Generalbundesanwalt (GBA) eine Besprechung mit dem BfV anberaumte. Dabei machte er klar, dass seine Behörde zusammen mit dem BKA die alleinige Regie bei den Ermittlungen beanspruche und sich keine anderen Behörden einmischen sollen.

Direkt am folgenden Tag fand die zweite Vernehmung Szczepanskis statt. Zu der erschien er kurioserweise mit einer Aussagegenehmigung, die er, obwohl einst doch nur Freelancer im Verfassungsschutz (VS), im Jahr 2004 erhalten hatte, als er vor dem Amtsgericht in Königs Wusterhausen als Zeuge auftreten musste. Doch diese acht Jahre alte Quasi-VS-Aussagegenehmigung machte er nun auch gegenüber den NSU-Ermittlern geltend. Das sei ihnen auch aufgefallen, erklärte Staatsanwalt Stefan Schmidt auf Nachfrage im Ausschuss, aber die Aussagegenehmigung habe Gültigkeit gehabt. "Obwohl es um ganz andere Sachverhalte und Fragestellungen ging?", wollte eine Abgeordnete ungläubig wissen. Und Schmidt: Szczepanski habe alle Fragen, die sie hatten, ausreichend beantwortet.

Warum das Bundesamt eine Quelle eines Landesamtes vernommen hatte und welches Interesse das BfV damit in den NSU-Ermittlungen verfolgte, konnte der BAW-Vertreter nicht beantworten. Seine Behörde hatte das BfV nicht danach gefragt.

Hat der Verfassungsschutz seinen früheren Mitarbeiter für die anstehende Vernehmung gebrieft? Wollte er sich einen Informationsvorsprung vor den Ermittlern verschaffen? Wollte er bestimmte Informationen sichern? Mindestens stellt sich aber die Frage, wo die Szczepanski-Vernehmung im Kölner Bundesamt abgelegt ist. Jedenfalls Stoff genug für den nächsten notwendigen BfV-Zeugen im Untersuchungsausschuss.

War Carsten Szczepanski auch eine Quelle des Bundesamtes? Die Frage lässt sich nur entschlüsseln, wenn man die Rolle betrachtet, die das BfV in Ostdeutschland nach 1989 spielte.

Nach der Wende herrschte im Osten zunächst geheimdiensttechnisch Tabula rasa

Neue bundesdeutsche Verfassungsschutzämter mussten erst aufgebaut werden, was aber nach den Erfahrungen der ostdeutschen Gesellschaft mit der Stasi heikel war. Das Bedürfnis nach Geheimdiensten hielt sich sehr in Grenzen. Doch schon bald schafften die CDU-regierten ostdeutschen Länder die rechtlichen Voraussetzungen dafür. Sie übernahmen die VS-Gesetze aus dem Westen und mit eingeflogenem Personal der BRD-Sicherheitsnomenklatur sollten die entsprechenden Strukturen aufgebaut werden.

Bis auf Brandenburg. Das Land war ein Sonderfall. Es wurde von einer rot-gelb-grünen Ampelkoalition regiert. Vor allem die Bürgerrechtler bei den Bündnisgrünen sperrten sich nach ihren Stasi-Erfahrungen gegen Geheimdienste im allgemeinen und gegen Spitzel und Telefonabhörungen im besonderen.

Doch der Druck wuchs. Die Exekutive wollte im neugewonnenen Land auf kein Herrschaftsinstrument verzichten. Man suchte nach Legitimationen für die Etablierung eines Verfassungsschutzes. Aufkommende Neonazi-Umtriebe lieferten eine. Immer wieder wurden auch Ex-Stasi-Untergrund-Aktivitäten und -Strukturen kolportiert, für deren Aufdeckung ein Nachrichtendienst gebraucht werde.

Schließlich entschied sich auch Brandenburg für einen Verfassungsschutz. Das Amt wurde als eine Abteilung an das Innenministerium angegliedert. Telefonüberwachungen, Observationen und der Einsatz menschlicher Quellen blieb aber weiterhin nicht erlaubt. Dann, wurde gedroht, würde eben das BfV in Köln das nachrichtendienstliche Vakuum füllen, sprich: in Brandenburg selber Spitzel anwerben und einsetzen. 1993 konnte der Dienst in Brandenburg dann eigene Quellen führen.

Das neue Amt in Brandenburg leitete erneut ein Westimport: Wolfgang Pfaff, ehemaliger Bundesanwalt mit SPD-Parteibuch, der in Karlsruhe Leiter der Terrorfahndung war.

Heute ist Pfaff 85 Jahre alt. Nach mehreren erfolglosen Anläufen konnte der Ausschuss ihn jetzt als Zeuge befragen. Er bestätigte, dass damals die angebliche Gefahr eines "Aufstandes der Stasi" an ihn herangetragen wurde. Daraufhin habe er sich mit einem ehemaligen Stasi-Offizier getroffen und nachgefragt, was an den Gerüchten dran sei. Der Mann habe Entwarnung gegeben. Und der VS-Chef hatte in ihm seine eigene "Quelle".

Pfaff erklärte weiter, er sei regelmäßig in Köln beim BfV zum Austausch gewesen. Leiter des Verfassungsschutzes in Brandenburg war er bis 1996. Den V-Mann "Piatto" gab es seit 1994. Im Jahr 1995 schrieb Paff in zwei Briefen, die dem Ausschuss vorliegen, über "Kontakte Szczepanskis zu Verfassungsschutzbehörden" und zu "Sicherheitsbehörden", also im Plural. Dokumente mit seiner Unterschrift, die auch eine Verbindung Szczepanski-BfV einschließen können.

Doch jetzt, im Dezember 2018, fällt dem alten Mann die Erinnerung schwer. Den Namen "Szczepanski" höre er zum ersten Mal, sagt er. Das stimmt zwar nicht, aber ist vermutlich nur Ausdruck der Verfassung des Zeugen. Die Abgeordneten beenden nach einer Stunde seine Befragung.

Wann wurde Szczepanski vom BfV möglicherweise rekrutiert?

Im Februar 1992 begann die Bundesanwaltschaft mit Ermittlungen gegen ihn wegen Ku-Klux-Klan-Umtrieben und Bildung einer terroristischen Vereinigung. Im selben Monat wurde er in Brandenburg von der Polizei aufgespürt und in Gewahrsam genommen. Der Hinweis kam von einer Quelle. Aus Brandenburg kann sie nicht gewesen sein, weil der Einsatz von Quellen damals rechtlich noch nicht erlaubt war.

Szczepanski jedenfalls musste über Nacht in der Zelle bleiben. Eine solche Situation gab er bei seiner Zeugenbefragung an, als er sich zur Zusammenarbeit bereit erklärt habe. Am folgenden Tag, einem Sonntag, wurde er wieder entlassen. Am Montag erschien er selbständig zur Vernehmung mit BKA-Beamten, die drei Tage dauerten.

Hatte sich der Eingesperrte zur Zusammenarbeit bereit erklärt? Was ist am Sonntag im Knast genau geschehen? Der Anwalt des Opfers Steve E. hat viele Unterlagen zu Szczepanski, aber die zu diesem Tag fehlen. Wer den Festgenommenen am Sonntag und mit welcher Maßgabe entlassen hat, ist unklar.

Stark zwei Monate später, Anfang Mai 1992, gehörte Szczepanski zu einer Gruppe von Rechtsextremisten, die den Nigerianer Steve E. lebensbedrohlich misshandelten. Doch bemerkenswerter Weise wurde Szczepanski, obwohl er einer das Aufhetzer war, verschont. Erst zwei Jahre später wurde er wegen "versuchten Mordes" in U-Haft genommen. Dort bat er um Kontakt zum Verfassungsschutz und wurde dann vom Landesamt als VM "Piatto" verpflichtet.

Hat das BfV dem LfV seine Quelle überlassen? Ist das der Hintergrund, warum das Bundesamt danach an allen wichtigen Informationen, die "Piatto" besorgte, teilhaben konnte? Alle sogenannten Deckblatt-Meldungen gingen auch nach Köln. Erklärt das, warum das BfV 2000 nach der Enttarnung des Schützlings mit ihm sprach, wie 2012 nach dem Bekanntwerden des NSU-Skandals?