Rojava - Auf der Suche nach Erdogans Terroristen

Ankunft in Semalka/Nordsyrien Foto: Elke Dangeleit

Warum ist Europa nicht daran interessiert, dass das größte Volk der Welt ohne Staat Frieden findet?

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Alles deutet mittlerweile auf einen unmittelbar bevorstehenden Einmarsch der Türkei hin. Nach Einschätzungen von lokalen Beobachtern besteht Erdogans Plan darin, im Gebiet der Grenzstadt Tall Abyad, (kurdisch: Gire Spi) bis Raʾs al-ʿAin (kurdisch: Serekaniye) einen Keil zu treiben, damit Kobane vom Kanton Cizire (häufig auch: Dschasira oder Jazira) abgetrennt wird. Dort soll dann an Stelle eines "arabischen Gürtels" ein "türkischer Gürtel" geschaffen werden.

Wie beim Einmarsch in Afrin Anfang dieses Jahres ist es auffällig still in Europas Politzentralen. Lediglich die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini äußerte Besorgnis über die türkischen Angriffspläne auf Nordsyrien. Unsere Autorin machte sich im Oktober auf den Weg nach Nordsyrien, um Erdogans "Terroristen" zu suchen.

Ankunft

Im Büro der Grenzstation auf irakischer Seite sind die Grenzformalitäten schnell erledigt. Mit mir wollen noch weitere Europäer, Holländer, Franzosen, Amerikanern u.a. nach Semalka, wie die Grenzstation auf syrischer Seite heißt. Sie kommen in Gruppen und scheinen von Hilfsorganisationen zu sein. Es gibt also doch internationale Hilfe in Nordsyrien.

Ich frage mich, warum sich Deutschland so schwer damit tut. Auf einer Sicherheitskonferenz in Bahrain erklärte Verteidigungsministerin Ursula van der Leyen, eine Wiederaufbauhilfe, von der Assad profitieren würde, sei nicht vorstellbar. Dabei wäre doch eine lokale Wiederaufbauhilfe im auch schon seit Assads Zeiten benachteiligten Norden des Landes eine Unterstützung, von der nicht das Assad-Regime, sondern die Menschen der selbstverwalteten Region profitieren würden.

In weniger als 5 Minuten sind wir mit einer kleinen Fähre am anderen Tigris-Ufer angekommen.

Ein Grenzbeamter begrüßt uns freundlich und geleitet uns zur Gepäckkontrolle. Die penible Kontrolle ließ ich hier gerne über mich ergehen - wer will schon, dass sich IS-Leute wegen laxer Kontrolle einschmuggeln? Auch hier sind die Passformalitäten schnell erledigt. Auch hier äußerst freundliche Beamte - nicht nur uns Ausländern gegenüber. Bis jetzt habe ich noch keine martialisch dreinblickenden, bis unter die Zähne bewaffneten Milizen gesehen. Die bewaffneten Grenzbeamten sind eher locker und dezent.

Ich bin bei den beiden Bürgermeistern von al-Malikiya, kurdisch: Dêrik, einer Stadt im letzten syrischen Zipfel zwischen der Türkei und dem Irak, angemeldet. In Nordsyrien sind alle wichtigen Positionen mit einem Mann und einer Frau als Doppelspitze besetzt. Die Bürgermeisterin erwartet mich auf der Grenzstation persönlich mit ihrer Stellvertreterin. In al-Malikiya/Dêrik geht es gleich ins Rathaus, wo ich dem Ko-Bürgermeister und der Belegschaft vorgestellt werde.

Mein Anliegen: Ich will so viel wie möglich über das System der Selbstverwaltung lernen, mit möglichst vielen Menschen unterschiedlicher Ethnien, Religionen und politischen Meinungen sprechen, möglichst viel von der Umgebung kennenlernen.

Es wird viel gestorben in diesem Krieg

Der nächste Tag beginnt mit einem Besuch des Gefallenenfriedhofs. Er umfasst mehr als 700 Gräber von gefallenen YPG/YPJ- oder Asayis-Angehörigen (Asayis ist der Name der Polizei). Kurden, Araber, Christen, aber auch Internationalisten haben hier ihre letzte Ruhe gefunden. Sie alle sind umgekommen im Kampf gegen den IS oder wurden ermordet durch die türkische Armee bei ihren Angriffen aus der Luft und am Boden auf syrischem Territorium. Die nächsten Gräber sind schon in Vorbereitung.

Es wird viel gestorben in diesem Krieg, den der Westen beenden hätte können, wenn er denn wollte. Wir gehen durch die Gräberreihen, fast alle sind bestückt mit Bildern und Fotos dieser überwiegend jungen Menschen. Gesichter von jungen Menschen, die für eine demokratische Idee im Nahen Osten gestorben sind. Die sich den Schlächtern des IS entgegengestellt haben. Die auch uns in Europa vor dem IS geschützt haben und noch schützen. Plötzlich bekommen die Nachrichten über die Gefallenen Gesichter. Es sind nicht mehr nur Nachrichten, die man liest, hier liegen ihre Körper. Hier trauern ihre Angehörigen.

Ich lerne auf dem Friedhof die Organisation der Hinterbliebenen kennen. Ich erfahre, dass auch die Familien der Bürgermeister Opfer zu beklagen haben: ein Onkel der Bürgermeisterin ist gefallen, der Bruder des Bürgermeisters auch. Seine Mutter ist seitdem eine gebrochene Frau. Die Menschen starben bei türkischen Luftangriffen, in Rakka und anderen Orten im Kampf gegen den IS. Entlang der türkischen Grenzmauer wurden und werden immer wieder Bauern erschossen, die ihre Felder bestellen möchten, Kinder, die in der Nähe spielen.

Ich werde gefragt, was ich denke und fühle, mir versagt die Stimme. Krieg ist immer ungerecht, unmenschlich. Mir fallen die geschändeten und zerstörten Friedhöfe der Kurden, Aleviten, Eziden (häufig auch: Jesiden), Armenier in der Türkei und in Afrin ein. Das ist das Schlimmste, was man Menschen antun kann, den Ort der Trauer, des Gedenkens zu zerstören. Ich denke an die Samstagsmütter in der Türkei, die seit 20 Jahren demonstrieren, weil das türkische Militär ihre Söhne und Töchter hat verschwinden lassen. Heißt: Sie wurden ermordet und irgendwo "entsorgt".

Ich wünschte, Merkel und die anderen verantwortlichen Politiker würden sich solches vor Augen halten, weil es deutsche Waffen sind, mit denen hier gemordet wird. Ich frage mich: Warum gesteht man den Kurden nicht ihr seit Jahrtausenden bewohntes Siedlungsgebiet zu? Warum ist Europa nicht daran interessiert, dass das größte Volk der Welt ohne Staat Frieden findet? Warum lässt die Welt zu, dass diese Kultur vernichtet wird?

Friedhof der Gefallenen bei Dêrik. Foto: Elke Dangeleit

Wer entscheidet über Krieg und Frieden in Syrien?

Wenn man sich anschaut, wer über Krieg oder Frieden in Syrien debattiert und entscheidet, können Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Friedensbemühungen aufkommen. Da sitzen im Oktober am Wochenende in Istanbul Putin, Merkel und Macron mit dem eigentlichen Kriegstreiber in Nordsyrien, Erdogan am Tisch.

Putin hält eine demokratische und politische Lösung für möglich und fordert für Idlib erneut eine demilitarisierte Zone. Dafür sollte die Türkei sorgen. Bis heute ist das nicht gelungen. Im Gegenteil: immer mehr islamistische Milizen dringen ins von der Türkei völkerrechtswidrig besetzte Afrin ein und vertreiben die kurdische, christliche und ezidische Bevölkerung. Die Türkei stiehlt die Olivenernte aus der Region und füllt die Löcher ihrer maroden Wirtschaft mit geklauten Millionen. Millionen, die eigentlich den Olivenbauern in Nordsyrien zustehen.

In Idlib verschanzen sich die Hardcore-Islamisten, denen die Türkei egal ist, außer dass sie als logistische Basis dient. Völlig unbeantwortet ist auch die Frage, warum sich ausgerechnet die Türkei in Syrien engagieren soll, wenn Putin immer wieder betont, die Syrer sollen ihr Schicksal selbst bestimmen. Geopolitik ist manchmal unlogisch.

Macron geht es um den Kampf gegen den Terror. Welchen Terror er meint, bleibt im Dunkeln. Wenn er den Terror vom IS, al-Qaida, Al Nusra und Co. meint, warum arbeiten die französischen Truppen nicht mit den Syrian Democratic Forces (SDF) zusammen, die als einzige Bodentruppe erfolgreich gegen den IS kämpft?

Warum nutzen Putin und Macron nicht ihre Beziehungen zu Assad, um ihn mit Vertretern der nordsyrischen Föderation an einen Tisch zu bekommen, um über eine Autonomielösung zu sprechen, damit wenigstens der Norden zur Ruhe kommt und sich die SDF auf den Kampf gegen die Reste des IS in Deir el Zor konzentrieren können?

Vertreter der demokratischen Föderation machten schon mehrfach Gesprächsangebote an die syrische Regierung, die von jener ignoriert wurden, zuletzt am 15. Dezember, angesichts des drohenden türkischen Angriffs.

Merkel setzt auf eine politische Lösung mittels eines 150- köpfigen verfassungsgebenden Komitees in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen (UN). Ende des Jahres soll dieses Komitee in Genf die Arbeit aufnehmen. Ein Drittel der Beteiligten sollen die UN stellen. Danach sollen die Syrer wählen dürfen, auch die im Ausland lebenden.

Aber ein verfassungsgebendes Komitee ohne syrische Vertreter, die Vertreter der Kurden und anderen Bevölkerungsgruppen des Nordens, die immerhin ein Drittel Syriens ausmachen, ergibt keinen Sinn. Das ist nichts anderes als heiße Luft, um nicht mit leeren Händen nach Hause zu gehen. Das sieht nach taktischem Agieren aus, das Erdogan in die Hände spielt, damit er weitere Fakten à la Afrin schaffen kann.

Und Erdogan? Grinst sich eins, fühlt sich bestätigt und kündigt einen weiteren Angriffskrieg gegen die nordsyrische Föderation an? Er werde auch die Regionen östlich des Euphrat angreifen um "die Bedrohung unserer nationalen Sicherheit zu vernichten", erklärte er bei in der gemeinsamen Abschlussrunde beim Vierergipfel mit Merkel, Macron und Putin im Herbst: "Die Türkei wird weder innerhalb ihrer Grenzen noch in gleich welchem Gebiet Syriens das Anwachsen von Terrorgruppen tolerieren."

Er machte damit klar, dass nicht etwa der IS oder al-Qaida gemeint sind, sondern die demokratische Partei von Nordsyrien PYD und die syrischen demokratischen Kräfte (SDF), die dem IS den Kampf angesagt haben.

Ezidisches Flüchtlingscamp bei Dêrik. Foto: Elke Dangeleit

Trotz weltweiter gegenteiliger Pressemeldungen und Filmbelege behauptet er gebetsmühlenartig, in Dscharablus, Al-Bab und Afrin sei durch das "Engagement" der Türkei jetzt Frieden eingekehrt und die Menschen würden zurückkehren. In Letzterem hat Erdogan recht. Es kehren Menschen zurück.

Aber nicht die rechtmäßigen, ehemaligen Bewohner, sondern die von der Türkei und seinen Proxytruppen angesiedelten, ihm genehmen Syrer. Die Menschen von Afrin wurden zu Geflüchteten. Ich treffe bei einem Besuch im Ezidencamp "Newroz" am Rande von Dêrik Familien aus Afrin ebenso wie in einem fast verlassenen assyrischen Dorf am Khabur-Fluss. Die Menschen sind solidarisch hier und versuchen zu helfen, wo es geht.