Fußgänger halten 75 Zentimeter Sicherheitsabstand zu anderen Passanten ein

Unterführung im Bahnhof Eindhoven. Bild: Alessandro Corbetta

Physiker wollen die Regeln der Kollisionsvermeidung von Fußgängern herausgefunden haben, aber wahrscheinlich Entscheidendes dürften sie außer Acht gelassen haben

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Wir gehen normalerweise auf der Straße zusammen mit anderen Menschen, ohne groß darauf zu achten, wie man es vermeiden kann, mit einem anderen Passanten zusammenzustoßen. Unwillkürlich entscheiden wir uns permanent und richten unser Verhalten irgendwie in Synchronisation mit dem der anderen aus. Das funktioniert auch in Gewühl nach in aller Regel uns unbewussten Regeln, sieht man mal davon ab, dass man nicht abrupt die Richtung oder die Geschwindigkeit ändern oder direkt gegen den Strom laufen sollte.

Doch manchmal kommt man ins Stocken, d.h. man kommt gleichzeitig mit dem anderen Passanten in eine Situation, in der man nicht mehr abschätzen kann, was der jeweils andere machen wird. Dann treten bewusste Entscheidungen beidseitig ein, die die Verwirrung noch vergrößern können, bis man sich meist durch Gesten und Anlächeln auf einen neuen Modus des Aneinandervorbeigehens verständigt und dann wieder in den gewohnten Takt in Synchronisation mit den Mitmenschen übergeht. Klar wird allerdings durch das Unterbrechen des Gewohnten, wie hochkomplex die flüssige Bewegung in Menschenmengen ist, die eine Vielzahl von schnellen Entscheidungen und hohe Aufmerksamkeit auf Signale verlangt.

Ein internationales Wissenschaftlerteam aus Physikern und Mathematikern hat nun empirisch versucht herauszubekommen, wie sich Fußgänger interaktiv verhalten, um Zusammenstöße zu vermeiden, was mit der wechselseitigen Aufrechterhaltung eines gewissen räumlichen Abstands zu den anderen Passanten zu tun hat und einem jeweils beabsichtigten Weg. Der wird durch das Entkommen anderer Menschen in Abhängigkeit zur Größe des vorhandenen Raums durch "soziale Kräfte" permanent verändert und angepasst. Die Wissenschaftler haben versucht, diese Dynamik quantitativ zu modellieren, was auch heißt, das Verhalten von Fußgängern, die in entgegengesetzten Richtungen aufeinander zulaufen, in Form einer Fluktuationsstatistik vorhersagen zu können. Ihr Artikel ist in Physical Review E erschienen. Man wird vermutlich sofort einwenden können, dass die "sozialen Kräfte" je nach Kulturen verschieden sind, ebenso wie Menschen schon in unterschiedlichen Städten unterschiedlich schnell laufen oder unterschiedlich Autofahren.

Um empirisch die Interaktionen vieler Menschen zu messen, haben die Wissenschaftler eine 70 Meter lange Unterführung vom Busterminal zum Bahnhof Eindhoven ausgewählt, der neun Meter breit ist und aufgrund der Durchgangsmauern nur zwei einander entgegen gerichtete Bewegungsrichtungen zulässt, Quergänger sind sozusagen ausgeschlossen, was die Situation vereinfacht. Die Fluktuation ist höchst unterschiedlich, manchmal gingen Menschen völlig ungestört alleine, manchmal wenige gegen eine Menge oder es kam zu dichtem, wechselseitigem Gedränge. Gewählt wurde ein 3 Meter langer Abschnitt in der Bewegungsrichtung aus dem Bahnhof oder in ihn. Beobachtet wurden die Passanten mit vier Kinect-Kameras, die an der Decke angebracht waren, täglich 24 Stunden lang von Oktober 2014 bis März 2015. Durchschnittlich wurden täglich 100.000 Passagen und insgesamt um die 5 Millionen erfasst. Um die individuellen Bewegungstrajektorien zu identifizieren, wurden Algorithmen zur Einzelpartikelverfolgung eingesetzt.

Wenn sich beabsichtigte Gehwege annähern

Grundlage für den beabsichtigten Gehweg ist das Verhalten von ungestörten Passanten, die alleine gehen und dabei weitgehend einen geraden Weg beschreiten, allerdings kommt es auch hier zu kleinen, zufälligen Fluktuationen. Aber Menschen können rennen oder drehen auch manchmal um, was zu seltenen großen Abweichungen führt. Aber das kommt nur in einem von 1000 Fällen vor, scheint aber eine Konstante zu sein, denn dasselbe Verhältnis hatten die Wissenschaftler auch schon bei der Beobachtung eines Gangs zu einer Mensa der TU festgestellt.

Die Wissenschaftler glauben, dass aus ihren Daten vorhergesagt werden kann, wie viele Menschen aus einer bestimmten Anzahl in einem begrenzten Transitraum rennen, gehen, umkehren oder zusammenstoßen werden. So haben sie festgestellt, dass 9000 Passanten im Bahnhof nach der Bewegungsrichtung zusammenstoßen könnten. Aber nur 40 Paare seien tatsächlich aneinandergeraten, der Rest habe die Richtung verändert, um eine Kollision zu vermeiden.

Bei nur zwei entgegenlaufenden Passanten kommt es zu Ausweichmanövern dann, wenn die Pfade sich auf eine Distanz von 140 cm oder weniger zu nähern beginnen. Dann könnte sie sich bereits mit der ausgestreckten Hand erreichen. Die Gehgeschwindigkeit wird dann auch reduziert und es wird eine Minimaldistanz von 75 cm beachtet. Kollisionen kommen sehr selten vor. Nicht analysiert wurde das Verhalten in Menschenmengen, wenn die offenbar leitenden Distanzen zum Bewegungspfad des anderen Passanten für eine beabsichtigte Gehrichtung nicht mehr einzuhalten sind und man sich schnell hin- und herbewegen muss.

Allessandro Corbetta, Mitautor der Studie, geht davon aus, dass es zwei entscheidende "soziale Interaktionskräfte" gibt, die das Gehverhalten regeln: "eine Kraft über große Entfernung, die auf dem Sehen basiert, und eine über kurze Entfernung, um harte Kontakte zu verhindern. Als Folge dieser Kräfte verändern Menschen ihre eingeschlagenen Wege, um Kollisionen zu verhindern."

Da scheint aber nur der physikalische Ansatz durchzuschlagen, der nicht sieht, dass Menschen sich auch gegenseitig abschätzen, inwieweit sie sich durchsetzen können oder lieber nachgeben sollen. Dabei kann die Größe oder das Gewicht eine Rolle spielen, das Geschlecht sowieso, aber auch die Bestimmtheit, mit der ein Weg beschritten wird, sowie die eigene Befindlichkeit, ob man eine Kollision riskieren will, ohne klein beizugeben bzw. höflich zu sein. Das mag statistisch keine Bedeutung bei großen Zahlen spielen, aber ganz sicher für das individuelle Verhalten, das aber statistisch vernachlässigt werden kann, wenn es um allgemeine Gesetzmäßigkeiten geht. Da hat man den kaum zu überwindenden Konflikt zwischen einer naturwissenschaftlichen Perspektive und der erfahrenen Lebenswelt.