Gefangen zwischen Wohlstandsgenuss und Zukunftsangst

Ein wenig mehr Optimismus zum Jahresbeginn 2019

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Betrachten wir den kollektiven Gemütszustand der Moderne, werden wir Zeuge eines nur allzu merkwürdigen Paradoxons: Immer mehr Menschen führen ein Leben in unvergleichbarem Komfort, in nahezu totaler Sicherheit, mit einem höchsten Maß an Gesundheit bis ins hohe Alter und besitzen einen Lebenskomfort, wie er noch wenige Generation zuvor als hoffnungslos utopisch angesehen wurde.

Zahlreiche Indikatoren der menschlichen Lebensqualität auf diesem Planeten weisen konstant in nur eine Richtung: aufwärts. Gleichzeitig denkt die überwiegende Mehrheit der Menschen: Der Zustand der Welt ist schlecht, und er wird immer schlechter. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Ipsos sehen nur 17% der Menschen in Deutschland dem neuen Jahr 2019 mit großer Zuversicht und Optimismus entgegen. Viele Menschen malen sich eine Zukunft aus, in der alles, was wir kennen, zerstört oder gar die Menschheit als Ganzes ausgelöscht wird: Wir haben Angst und sind pessimistisch und leben zugleich so gut wie nie zuvor. Wie passt das zusammen?

Ein nüchterner Blick auf das, was vor uns liegt, zeigt: Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass wir den Krebs besiegen, als dass uns ein Killervirus dahinrafft, eher wird es gar keinen Krieg mehr geben als eine atomare militärische Vernichtung der Welt, und der globale Sieg über den Hunger ist ein sehr viel realistischeres Szenario als der Rückfall in die Massenarmut.

Doch lesen wir nicht immer wieder über all die schlimmen Entwicklungen in der Welt? "Neuer Killervirus aus Afrika", "Raubüberfall in Innenstadt" oder "Das Niveau des Abiturs immer schwächer" heißt es fast jeden zweiten Tag auf dem Cover der Tageszeitungen. Dagegen sehen wir nie Schlagzeilen wie "Weniger Menschen an Malaria gestorben" (oder Typhus, Gelbfieber oder andere Krankheiten), "Lebenserwartung gestiegen", "Kindersterblichkeit seit Jahren zurückgegangen", "Tod im Kindsbett fast auf null", "Immer weniger Menschen sterben am Hunger" (oder alternativ: an Arbeitsunfällen, Naturkatastrophen, Terroranschlägen, Hinrichtungen und Suiziden), "Immer weniger Unfälle mit Öltankern auf den Ozeanen" oder "Jugendliche wissen heute weltweit mehr als jede Generation vor ihnen". Und dies, obwohl letztere Schlagzeilen den Zustand und die Entwicklungen in unserer Welt weitaus besser widerspiegeln als erstere.

Endgültig ironisch wird es, wenn wir betrachten, wer als der "Schuldige" an der erwarteten Verschlechterung oder Zerstörung unserer Lebensbedingungen betrachtet wird: Es ist der wissenschaftliche und technologische Fortschritt und damit genau die Kraft, die es erst möglich gemacht hat, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die so ziemlich alle vergangenen Hoffnungsszenarien einer Utopie an Paradieshaftigkeit längst übertroffen haben. Und dabei haben die meisten Menschen noch gar nicht auf dem Radarschirm: Wir stehen am Anfang einer noch atemberaubenderen technologischen Entwicklung als die, die wir in den letzten 20 Jahren erlebt haben. Wer behauptet, dass die Zukunft im Jahr 2045 dem Bild gleicht, wie es in bekannten Science-Fiction-Romanen gezeichnet wird, liegt höchstwahrscheinlich falsch. Wer allerdings glaubt, sie ähnele nicht der in einem Science-Fiction Roman, der liegt garantiert falsch.

Unsere Zukunft ist in keinster Weise irgendwie vorherbestimmt

In meinem Buch "Supermacht Wissenschaft" (2017) habe ich aufgezeigt, dass zukünftig Technologien nicht nur die Natur um uns herum verändern, wie dies in der Vergangenheit geschah, sondern nun auch den Menschen selbst umformen. Die Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung unserer Biologie, unserer Psyche und Wahrnehmung, unseres Bewusstseins und unserer gesamten Identität zeichnet sich bereits ab. Wie wir damit umgehen und diese Möglichkeiten gestalten, bestimmt die Zukunft unseres Menschseins, sowie die unserer individuellen Freiheit.

Der Grund, warum viele Menschen Angst vor der Zukunft haben, ist, dass sie glauben, dass der technologische Fortschritt in all seiner Gewaltigkeit eine autonome Kraft darstellt, die einfach so wirkt, ohne dass wir irgendetwas daran ändern könnten. Daher sind wir ihren Entwicklungen unrettbar ausgesetzt. Doch sind wir das wirklich? Sind wir tatsächlich nur passive Zuschauer oder Leidtragende, über die neue Technologien einfach so hinwegrollen. Ich meine, nein. Unsere Zukunft ist in keinster Weise irgendwie vorherbestimmt. Wir können sie tatsächlich selber gestalten, und dies zu unserer aller Besseren.

Doch wenn wir Teil einer solchen aktiven Gestaltung unserer Zukunft sein wollen (und das sollten wir!), braucht es dreierlei:

  1. Wissen, um was es bei den technologischen Entwicklungen geht
  2. Motivation, Mut und die Bereitschaft zum gestalterischen Engagement
  3. Intellektuelle, philosophische und spirituelle Richtlinien

Im Angesicht der sich anbahnenden Möglichkeiten und der entscheidenden Weggabelung, die direkt vor uns liegen, braucht es diese Qualitäten mehr als je zuvor. Denn wir haben mächtige Gegenspieler. Unternehmen wie Google, Facebook, IBM, Novartis oder Amazon entscheiden bei der Entwicklung und dem Einsatz von Quantencomputern, einer höheren künstlichen Intelligenz oder neuen Gentechnologien nicht unbedingt zum besten Nutzen der Gemeinschaft, Ölfirmen über den Umgang mit klimaschädlichen CO2-Emissionen sicher nicht in unserer aller Sinn. Diesen Firmen geht es immer und ausschließlich um ihre eigene Gewinnoptimierung.

Schon versuchen Konzerne, die Prinzipien zu entwerfen, nach denen unsere Gesellschaft funktionieren soll, statt dass diese das Ergebnis eines demokratischen Prozesses darstellen. So nennt es Facebook seine Mission, "die soziale Infrastruktur zu entwickeln, die den Menschen die Macht gibt, eine globale Gemeinschaft zu bauen, die für uns alle funktioniert". Und hat nicht Amazon bereits unsere Konsumverhalten massiv verändert? Doch sollen die Renditeaussichten der Technologie-Investoren, die Ideologie der Silicon Valley-Transhumanisten und die kapitalistische Verwertungslogik wirklich über unserer aller Zukunft entscheiden?

Neben dem Wissen über Wissenschaft und Technologien und der Bereitschaft und dem Mut zum Engagement (Punkte eins und zwei oben) braucht es vor allem aber auch Punkt drei: Mit welchen Grundsätze und Zielen sollen in der Zukunft Technologien entwickelt werden? Hier kommt zuletzt auch eine spirituelle Dimension ins Spiel. Wir brauchen eine klare geistige wie intellektuelle Orientierung. Was früher der Bezug auf Gott war und der Glaube an eine einzige ewige Wahrheit, muss heute eine innere geistige Qualität sein, ein Zustand unseres Bewusstseins, der unseren Willen darauf ausrichtet,

  • sich nicht mit einfachen Antworten zufriedenzugeben, sondern auch komplizierte Zusammenhänge verstehen zu wollen,
  • Wissen zu stärken und gegebene Wahrheiten immer wieder zu hinterfragen,
  • unser Denken und Handeln auf intellektuelle und ethische Redlichkeit einzustellen.

Angst vor der Zukunft

Viele Menschen spüren, dass Bedeutendes im Gange ist, dass der technologische Wandel die Spielregeln unseres Lebens und Zusammenlebens neu definiert, ja vielleicht sogar den Menschen neu erschafft. Dieses Spüren, ohne genau zu wissen, was passiert, macht Angst und blockiert unser Denken. Ein Jahrmillionen alter Reflex übernimmt dann das Steuer: Rückzug und Flucht.

Die Menschen ziehen sich in das Althergebrachte zurück. Sie sehnen sich die "guten alten Zeiten" herbei, in der alles doch so sicher, klar und eindeutig war (als ob das Leben in den 1950er Jahren so toll und einfach war). Sie betonen das Trennende zwischen den Völkern und Ethnien, anstatt universelle menschliche Gemeinsamkeiten zu erkennen (als ob Deutschland, Frankreich, die USA, oder auch Europa und Amerika die Probleme in der Welt ganz alle lösen könnten). Sie suchen Lösungen in einer autoritären Obrigkeit (die jedoch längst ihre Autorität und die Kontrolle über die Entwicklungen verloren hat). Um uns herum machen Wissenschaftler die unglaublichsten Technologien möglich, und wir befinden uns wie in einer Blase, in der wir noch in einer Welt von Gestern verhaftet sind und Mühe haben, diese Neuerungen überhaupt wahr- und anzunehmen, geschweige denn zu sehen, was sie für uns bedeuten.

Anstatt irrationalen Impulsen nachzugehen, mit dumpfen Parolen gute alte Zeiten zu beschwören, partikuläre Werte und Kulturgüter hochzuhalten und sich gegen alles Neue und Fremde abzuschotten, sollten wir erkennen: Nur im globalen Zusammenspiel, mit Hilfe des geistigen und ethischen Potentials aller Menschen auf diesem Planeten werden wir die Herausforderungen meistern, mit denen uns der technologische Wandel konfrontiert. Dazu braucht es bei jedem einzelnen von uns intellektuelle Neugier, geistige Offenheit und die Bereitschaft zur gemeinsamen Suche nach den besten Wegen. Mit einer solchen Haltung wird sich zuletzt auch die Angst vor dem technologischen Fortschritt auflösen, ja wird diese gar in eine Begeisterung ob ihrer Möglichkeit umschlagen. Es ist gar nicht viel, was es braucht, um die allseits propagierten negativen Entwicklungen abzuwenden, den technologischen Fortschritt human zu gestalten und mit seiner Hilfe für alle Menschen ein wahres Paradies auf Erden zu erschaffen.

Der Beitrag von Lars Jaeger erschien zuerst auf seiner Website larsjaeger.ch. Jaeger ist ein schweizerisch-deutscher Unternehmer, Wissenschaftler, Schriftsteller, Finanztheoretiker und alternativer Investmentmanager. Er studierte Physik und Philosophie an der Universität Bonn in Deutschland und der École Polytechnique. Seinen Doktortitel in theoretischer Physik erwarb er in Studien am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden, wo er auch Post-Doc-Studien unternahm. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die zweite Quantenrevolution: Vom Spuk im Mikrokosmos zu neuen Supertechnologien".

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