Wie gleich ist Gleichheit?

Die Soziologin Laura Wiesböck über die Aushöhlung von Gleichheit, Privilegien, die Situation der Frauen und die Abwertung von sozialen Gruppen

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Sind wirklich alle Menschen gleich? Diese Frage stellt die Autorin und Soziologin Laura Wiesböck aus Wien in ihrem Buch "In besserer Gesellschaft". Der Untertitel klärt darüber auf, wohin sich das Augenmerk besonders richtet: "Der selbstgerechte Blick auf die Anderen". Laut der Autorin beruht in vielen Fällen der eigene Wert auf der Abwertung der Anderen, der Fremden, der Ungewollten. Heute scheint es einfach zu sein, medienwirksam Bewertungen abzugeben, die eigene Meinung schnell zu verbreiten, um damit letztlich Ungleichheiten zu verfestigen und die eigene Identität zu stärken. Was es damit auf sich hat und was man eventuell dagegen tun könnte, ist Inhalt des folgenden Gesprächs.

Gleichheit ist ein großes Ziel heutiger Politik. Zumindest wird sie häufig beschworen! Wenn ich Ihr Buch richtig verstehe, ist da jedoch noch viel zu tun?

Laura Wiesböck: Was wir heute in vielen westlichen Demokratien beobachten können, ist die Kolonisierung des politischen Systems durch Interessen der Großfinanz. Politiker/innen dienen mehr den Interessen von wirtschaftlichen Eliten statt dem Gemeinwohl, zentrale Institutionen des Wohlfahrtstaates werden zerstört und das soziale Leben nach den Regeln des Marktes ausgerichtet. In diesem Zustand der "Postdemokratie", wie es der Soziologe Colin Crouch bezeichnet, bleibt Bürger/innen nur noch die Illusion demokratischer Rechte. Dahingehend sehe ich genau das Gegenteil: Die Prämisse der Gleichheit wird heute politisch ausgehöhlt.

Sie führen in Ihrem Buch die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern an. Ist dies auch der Beginn der ökonomischen und politischen Ungleichheit?

Laura Wiesböck. Bild: © Pia Wiesböck

Laura Wiesböck: Trotz steigender Erwerbsbeteiligung von Frauen bleiben Unterschiede zwischen den Geschlechtern beim Beschäftigungsausmaß, den Betreuungspflichten und dem Einkommen bestehen. Frauen arbeiten überdurchschnittlich häufig in schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen und verfügen damit über ein geringeres Einkommen. Zudem ist das Privatleben vieler Paare immer noch vom Rollenmodell des Mannes als "Haupternährer" geprägt. Danach verdienen Männer zumeist den Familienunterhalt, Frauen übernehmen die unbezahlte Hausarbeit und "verdienen ein bisschen dazu". Das hat langfristig existenzielle Konsequenzen. Denn Teilzeitarbeit bedeutet auch Teilpension. Die überwiegende Übernahme von unbezahlter Arbeit (Haushalt, Pflege, Kinder) bedeutet mitunter lange Kindererziehungszeiten ohne Einkommen, die zusätzlich als Nachteil am Arbeitsmarkt gesehen werden.

Die Ungleichheit ist auch im Erwerbsleben zwischen verschiedenen Berufen und Branchen groß. Das Frausein verschärft diesen Konflikt. Warum ist die Annäherung der Entlohnung 2019 noch ein großes Problem?

Laura Wiesböck: Weil es politisch gewollt ist. Die Teilung der Arbeit in bezahlte und unbezahlte Arbeit ist weder zufällig noch ohne Wirkung. Sie beeinflusst die Teilhabe von Frauen an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidungen und an der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Das zeichnet ein Bild der ökonomischen, politischen und sozialen Machtverhältnisse.

In Summe führen die niedrigeren Erwerbseinkommen und Versicherungsverläufe von Frauen, die vor allem durch Zeiten der Kindererziehung Lücken aufweisen, zu niedrigeren Pensionen und anderen sozialen Risiken, wie Armutsgefährdung. Frauen sind EU-weit häufiger von Altersarmut betroffen, als Männer. Das wäre vermeidbar.

Privilegien sind Vorteile, die nicht selbst erarbeitet worden sind

Sie beschreiben diese Zustände. Wie aber kann man diese ändern?

Laura Wiesböck: Von zentraler Bedeutung ist es meiner Ansicht nach, sich ein umfassendes Bild über eigene Privilegien zu machen. Privilegien sind Vorteile, die nicht selbst erarbeitet worden sind, gesellschaftlich hoch bewertet werden und auf bestimmte Gruppen beschränkt sind. Ob man als Mann oder Frau geboren wird, kann man nicht beeinflussen, das Geschlecht beeinflusst aber in hohem Maß die eigenen Lebenschancen. Gleiches gilt für die Hautfarbe, die Nationalität, die sexuelle Orientierung oder die soziale Herkunft der Eltern.

All diese Faktoren entsprechen dem Lotterieprinzip, man selbst hat keinen Einfluss darauf, sie können aber weitreichende Konsequenzen haben. Die Wahrscheinlichkeit von Polizisten kriminalisiert oder in den USA sogar erschossen zu werden, ist für Schwarze weitaus höher als für Weiße. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer sexueller Übergriffe zu werden, ist für Frauen weitaus höher als für Männer.

Privilegien sind für deren Inhaber/innen nun aber oft nicht sichtbar. Es ist für das Selbstbild zuträglicher, die Illusion zu haben, dass man seine Erfolge selbst erarbeitet hat, und dabei zu ignorieren, dass man etwa als weißer Mann in eine vermögende Familie mit vielen Kontakten hineingeboren wurde und damit bereits bessere Startchancen hatte als viele andere.

Bild: © Pia Wiesböck

Ist die eigene Persönlichkeit gefestigt und gewillt genug, sich seinen eigenen Privilegien bewusst zu werden, besteht die Möglichkeit, damit Empathie zu fördern, das Verständnis zu erhöhen und eine Rolle bei der Korrektur von bestehenden Ungleichheiten zu spielen. "With privilege comes responsibility", sagt Noam Chomsky.

Es fällt auf, dass häufig mit zweierlei Maß gemessen wird. Auffällig, dass das eigene Wohl stets unangetastet bleibt. Muss man, um Gleichheit durchzusetzen, nicht auch selbst etwas (ab-)geben?

Laura Wiesböck: Die Frage ist, was abgegeben werden muss, um dem Ideal der Gleichwertigkeit näher zu kommen. Wenn wir genau hinsehen, wird klar, dass es dabei häufig um Privilegien - also nicht selbst erarbeitete gesellschaftliche Vorteile - geht.

So wären etwa hohe Steuern auf große Erbschaften und Schenkungen im Sinne der Gerechtigkeit für die arbeitenden Leistungsträger*innen, denn Erbschaften sind leistungslose Vermögenstransfers, die die gesellschaftliche Hierarchie formen und soziale Ungleichheit verschärfen. Doch politische Eliten, die durch wirtschaftliche Interessen kolonisiert werden, sind auf die Sicherung der eigenen Privilegien ausgerichtet. Das verstärkt die Sozialhierarchie, in der die eigene Position nur marginal von der Eigenleistung definiert wird.

Und dann gibt es aber auch Bereiche, in denen keine persönlichen Privilegien abgegeben werden, etwa wenn es um die Ehe von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften geht.

"Das Mantra, dass sich Leistung lohnt, ist eine glatte Lüge"

Menschen, die unfreiwillig in eine Situation geraten sind, werden mit bestimmten Bezeichnungen fixiert. Beispiel: Hartz-IV-Empfänger in Deutschland oder Flüchtlinge. Die Fremdzuschreibungen sind meist unschön, verbunden mit der Überzeugung, dass diese Leute selbstverschuldet in diese Situation geraten. Was ist an dem Einwurf dran, dass man des eigenen Glückes Schmied sein sollte?

Laura Wiesböck: Sehr wenig. Das Mantra, dass sich Leistung lohnt, ist eine glatte Lüge, denn Arbeit schützt mittlerweile nicht mehr vor Armut. In Deutschland sehen wir eine steigende Anzahl an "working poor", also Menschen, die Vollzeit arbeiten und ein Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle haben. Waren es 2004 noch knapp 1,9 Millionen arbeitende Arme, sind es 2014 bereits fast 4,1 Millionen.

Die soziale Kluft allein über die sogenannte Leistung zu legitimieren, bezeichnet der Ökonom Thomas Piketty als Rechtfertigungsapparat des meritokratischen Extremismus. Das meritokratische Prinzip möchte uns glaubhaft machen, dass jedes Mitglied der Gesellschaft seine "verdiente" wirtschaftliche Position annimmt. Dementsprechend wird der öffentliche Diskurs rund um das Thema Arbeitslosigkeit immer stärker zu einer moralischen Wertigkeitsprüfung.

Auf der emotionalen Ebene lässt sich mit derartigen Bildern relativ einfach moralische Empörung über mutmaßlich Schuldige hervorrufen. Und diese scharf gezogene moralische Grenzlinie setzt Prozesse der Entsolidarisierung in Gang. Arbeitslose werden damit zum Objekt kollektiver Abwertung. War die Arbeitslosenversicherung ehemals eine finanzielle Leistung für Versicherte, wird sie heute im öffentlichen Diskurs als finanzieller Anreiz für Menschen mit geringer Erwerbsorientierung dargestellt, die auf Kosten anderer leben wollen.

Bild: © Pia Wiesböck

Aber gibt es nicht auch Menschen, die nicht arbeiten wollen?2

Laura Wiesböck: Ja, in manchen Fällen ist Arbeitslosigkeit tatsächlich freiwillig und liegt an fehlendem Interesse oder der persönlichen Entscheidung für eine berufliche Auszeit, das ist unbestritten. Aber neben subjektiven Motiven gibt es viele andere Ursachen, warum man gerade keinen Job hat, zum Beispiel wirtschaftlich krisenhafte Entwicklungen, Technologisierung und Automation, die Auslagerung von Arbeit in sogenannte "Billiglohnländer", Diskriminierung gegenüber Älteren, Frauen, körperlich Beeinträchtigten, ausländischen Arbeitnehmer*innen, Vorbestraften oder Langzeitarbeitslosen, fehlende soziale Unterstützung, fehlende Chancen persönlicher Entwicklung, persönliche Schicksalsschläge, größere Konkurrenz am Arbeitsmarkt, mangelnde Infrastruktur und vieles mehr.

Die Debatte rund um das Thema Arbeitslosigkeit zeichnet sich also stark durch mangelnde Differenzierung und einseitige Verantwortlichkeitszuweisung aus.

Problematisch sind Erwartungen und Vorstellungen, die sozialen Druck auf Individuen ausüben. Andererseits schreiben Sie in Ihrem Buch auch kritisch zum Individualkult, wie er in neoliberalen Kontexten häufig beschworen wird. Was fehlt heute wirklich: Sozialbewusstsein oder ein gesundes Individuum?

Laura Wiesböck: Hier gibt es keine einfachen Antworten. Ich würde in dieser Sache ein Bewusstmachen der eigenen Privilegien forcieren. Wenn für jemanden die eigene Sicherheit und ein Leben in Würde nicht in Gefahr sind, dann werden Themen wie Diskriminierung und Ungleichheit schnell einmal anstrengend und ermüdend. Diejenigen, die sich wünschen, dass das Gejammere aufhöre, sollten sich allerdings daran erinnern, dass manche Menschen dabei um ihre Sicherheit kämpfen.

Die Haltung zu vertreten, man solle sich beruhigen und erst einmal sehen, was passiert, wenn rechtspopulistische Parteien an die Macht kommen, verweist auf eine privilegierte Position, die nicht gefährdet ist. Für andere stellen sich damit existenzielle Fragen: Ist mein Recht zu heiraten in Gefahr? Werde ich jetzt noch gesundheitlich versichert sein? Ist mein Aufenthalt im Land auch in Zukunft möglich? Wird der selbstbestimmte Umgang mit meinem Körper weiterhin gewährleistet?

Heute zählt jeder Mensch als Künstler*in (des eigenen Lebens). In der Kunst gelten Grenzüberschreitungen als innovativ. Im sozialen Miteinander geht es eher darum, die eigenen Grenzen und die der anderen Menschen zu kennen. Hat dieser Widerspruch auch Auswirkungen auf die gesellschaftliche Ungleichheit?

Laura Wiesböck: Dem würde ich widersprechen. Die Selbststilisierung als Künstler*in ist milieuspezifisch und unterliegt Stadt-Land-Unterschieden. Und ich sehe auch keinen Widerspruch. Denn Grenzen bewusst zu überschreiten, bedeutet auch, sie zu kennen.

Im sozialen Umfeld haben Grenzüberschreitungen, finde ich, andere Konsequenzen als im künstlerischen. Aber gut … Sie sprechen zudem die Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit an. Ermöglicht das vielleicht ein unverkrampfteres Verhältnis zur Lohnarbeit? Man kann selbst entscheiden, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man die Energie für die Arbeit einsetzt und man kann auch Mittagsschlaf halten, wenn die Energie fehlt. Man ist an keine Stempeluhr gebunden.

Bild: © Pia Wiesböck

Laura Wiesböck: Ich bin mir nicht sicher, ob eine Trennung zwischen Berufs- und Privatleben eine "Verkrampfung" darstellt, aber das muss jede*r für sich entscheiden. Was wir allerdings beobachten können, ist, dass in der Selbstständigkeit das Privatleben für die Erwerbsarbeit instrumentalisiert wird. Private Potenziale und persönliche Ressourcen, wie die Freizeit oder der Wohnraum, werden dem Beruf untergeordnet.

Diese Form der Entgrenzung trifft im Übrigen nicht nur auf Selbstständige zu. Auch von angestellten Arbeitskräften wird ein immer größerer Einsatz gefordert. Bei der Vergabe von Arbeitsplätzen werden mitunter jene, die sich dem grenzüberschreitenden Zugriff des Arbeitgebers zur Verfügung stellen, bevorzugt. Moderne Kommunikationstechnologien tragen wesentlich zum Verschwimmen der Sphären bei. Durch die Erosion der Unterscheidung zwischen Arbeit und Privatem entstehen neue Handlungsanforderungen und mentale Beanspruchungen. Die permanente Belastung sowie der Druck und das Risiko, zu scheitern, können sich in Stress, der Unfähigkeit abzuschalten, Angst- und Depressionserkrankungen sowie Erschöpfungszuständen zeigen. Die suggerierte Befreiung kann zur Arbeit ohne Ende werden.

Ich zitiere von S. 165: "Der Drang, die aufregenden Facetten des eigenen Lebens online zu inszenieren, kann nun nicht nur einem selbst, sondern auch anderen Menschen Leid zufügen. Neben Formen der Entfremdung von sich selbst und der eigenen Umgebung können auch Neidgefühle initiiert werden. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien ist der Vergleich mit anderen zu jeder Sekunde möglich. Via Smartphone ist man rund um die Uhr im Bilde über seine vermeintlichen Freund*innen und deren angebliche Erfolge. Menschen lassen sich von visuellen Selbstdarstellungen im Internet beeinflussen, selbst wenn sie wissen, dass diese nicht der Realität entsprechen." Diese Beobachtung wirkt technologiekritisch und kulturpessimistisch auf mich. Man könnte aus einer gewissen Perspektive diese Entwicklungen als positiv und gewollt darstellen.

Laura Wiesböck: Zuerst einmal: Kritik ist immer wichtig, auch bei Technologien, insbesondere jenen, die gezielt das Wissen, das Denken und das Empfinden eines großen Teils der Gesellschaft adressieren und mitformen. Eine kritische Betrachtung dieser Entwicklung ist eine notwendige Aufgabe der Sozialwissenschaften.

In meinem Buch war es nun die Motivation, Abwertungsprozesse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ausgehend darzustellen. Das umfassende Aufzeigen der Vor- und Nachzüge von Social Media-Nutzung war nicht mein Ziel. Das habe ich an anderer Stelle gemacht, zum Beispiel, wenn es um die Nutzung von Online-Dating-Plattformen geht.

Abschließend - Ist der Mythos Gleichheit eine Spirale, die sich weiter und weiter dreht, so dass sich die "Schere zwischen Arm und Reich" schließlich überdreht, also: auflöst und es nur noch die bessere Gesellschaft gibt?

Laura Wiesböck: Wachsende Ungleichheit ist weder eine Spirale noch eine Schere, sie ist ein Risiko für die Stabilität und die weitere Entwicklung der Gesellschaft, wirtschaftlich, wenn der Anteil des Arbeitseinkommens am Volkseinkommen kleiner wird, sozial, wenn Diversität und Solidarität durch Abwertungslinien zerschnitten wird, und moralisch, wenn Menschen mit Geld mehr Wert sind als jene ohne Geld. Deshalb sollten wir wachsam bleiben und genau hinsehen - auch bei uns selbst.

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