Globalisierung 4.0

Bild: World Economic Forum / Benedikt Von Loebell/CC BY-NC-2.0

Das Weltwirtschaftsforum zwischen Diskussion über unsere technologische Zukunft und der immer unerträglicher werdenden Eitelkeit einer stumpfen globalen Finanzelite

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"Alle Jahre wieder" könnte die Devise des Events lauten, der jedes Jahr Ende Januar in dem beschaulichen Schweizerischen Alpendörfchen Davos stattfindet. Da versammeln sich 3000 Menschen, darunter zahlreiche Personen in hohen Positionen in Wirtschaft, Politik, Kultur und akademischer Forschung und diskutieren über den Zustand der Welt.

Die Mottos dieser Veranstaltungen könnten hehrer nicht klingen: "Eine gemeinsame Zukunft in einer zerrissenen Welt" (2018), "Empfängliche und verantwortliche Führung" (2017), "Die vierte industrielle Revolution meistern" (2016), oder auch (besonders schön) "Die Neugestaltung der Welt: Folgerungen für die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft" (2014) und "Den Zustand der Welt verbessern: Umdenken, neu designen, erneuern" (2010). Man könnte meinen, hier seien echte Weltverbesserer am Werk.

Dieses Jahr lautet das Motto "Globalisierung 4.0: Gestaltung einer globalen Architektur im Zeitalter der vierten industriellen Revolution". Man erkennt schon am Titel: Es geht um den technologischen Wandel und wie er die Gesellschaft umgestaltet. Man kann dem Veranstalter zugutehalten, dass er damit genau das zentrale Thema gefunden hat, das die Welt und unsere Gesellschaft erschüttert: die Auswirkungen einer technologischen Entwicklung, die immer schneller verläuft und den Menschen schier den Atem raubt.

So war 2018 Jahr erneut ein Jahr bahnbrechender wissenschaftlicher und technologischer Durchbrüche: Zum Beispiel in der Zellbiologie, wo Forscher nun live beobachten können, wie sich Zellen, auch Embryonalzellen, durch die Aktivität einzelner Gene zu Geweben zusammenfinden, oder beim Einsatz des CRISPR-Geneditierungsverfahrens zur Genmanipulation an ungeborenen Embryos, mit neuen 3D-Druck-Technologien, immer ausgereifteren Algorithmen der Künstlichen Intelligenz, dem Bau eines 72-Qubit Quantencomputers durch Google und vielen anderen Entwicklungen, in denen sich zukünftige Supertechnologien manifestieren.

Den Sinn und Zweck der Veranstaltung beschreibt die diesjährige Einladung wie folgt: "In einer Welt, die sich in einer Zeit des transformierenden Wandels hauptsächlich mit Krisenmanagement beschäftigt, wollen wir in einem Moment des transformativen Wandels den Geist von Davos nutzen, um die Zukunft konstruktiv und kollaborativ zu gestalten." Noch so eine tolle Absichtserklärung. Doch spätestens hier lässt uns etwas zögern, dies auch wirklich für bare Münze zu nehmen.

Wenn der "Geist von Davos", wie hier suggeriert, die Macht besitzt, "die Zukunft konstruktiv und kollaborativ zu gestalten", warum hat er dies mit all den vergangenen Veranstaltungen nicht schon längst getan (das WEF gibt es schon seit fast 50 Jahren)? Warum befindet sich die Welt dann überhaupt in einem Zustand, wie ihn der unmittelbar vor Beginn des WEF publizierte Jahresbericht der Veranstalter beschreibt: Krisen überall!

Soziale Krise, politische Krise, Wirtschafts- und Handelskrise, Finanz- und Schuldenkrise, Bildungskrise, Energiekrise, demografische Krise, Flüchtlingskrise, Glaubwürdigkeitskrise, Kulturkrise, Glaubenskrise, ökologische Krise, psychologische Krise - die heutige Zeit scheint von Krisen bestimmt zu sein, schenkt man der 14. Ausgabe des globalen WEF-Risikobericht vom Januar 2019 Glauben.

Konkret drohen extreme Wetterereignisse, Naturkatastrophen, Wassermangel, das Scheitern unserer Anstrengungen gegen den Klimawandel, ökonomische und Handelskrisen, technologische Krisen (wie Datenklau, Cyber-Attacken, künstliche Krankheitserreger), psychologische Krisen (mehr psychiatrische Erkrankungen und allgemeine Unzufriedenheit), sowie - als ständiges Grundrauschen - der allgemeine Sitten- und Werteverfall mitsamt dem Niedergang des demokratischen Konsens durch politischen Extremismus, der die Gesellschaft entzweit.

Doch was der Bericht kaum erwähnt: Zu all dem gesellen sich die Bedrohungen, die durch unseren menschlichen Erfindungsreichtum hervorgerufen werden: Künstliche Super-Intelligenz übernimmt das Ruder, Geningenieure designen Menschen, Neurotechnologien kontrollieren unseren Geist und Big Data erfasst unsere Persönlichkeit besser, als wir dies selbst tun. Die schiere Geschwindigkeit des technologischen Wandels überfordert uns gedanklich wie emotional. Denn anders als früher sind wissenschaftliche und technologische Durchbrüche nicht mehr Sache von Jahrzehnten, sie finden heute im monatlichen Takt statt.

Dazu kommt, dass die verschiedenen Wissenschaftsbereiche heute auf sehr komplexe Weise eng miteinander verzahnt sind. Die Technologie der Zukunft entsteht in einem Raum, der von neuen Quantentechnologien zu Computer- und Optimierungsalgorithmen reicht, von der Nanochemie zur Reproduktionsgenetik, von der künstlichen Intelligenz zur Robotik, von der Atomphysik in bildgebenden Verfahren zur Hirn- und Bewusstseinsforschung. Dazu entsteht seit einigen Jahren etwas völlig Neues: Zur Vereinnahmung der uns umgebenden Natur durch den Menschen, welche seit Jahrtausenden unsere Kultur- und Technikgeschichte ausgezeichnet hat, gesellt sich ein zweites Projekt: die genetische, biologische, medizinische, neurologische und bewusstseinstechnologische Um- und Neugestaltung unser selbst und unserer körperlichen und geistigen Anlagen und Fähigkeiten.

Der Verdacht, dass die gesamte Veranstaltung in Davos eine einzige Show-Veranstaltung darstellt, ein Schaulaufen der Mächtigen und Reichen mit all ihren Eitelkeiten und ihrem Narzissmus, vergleichbar mit der Hollywood-Show um die Oskar-Verleihung, ist nicht neu. Und wer sich den Geist von Davos und das alljährliche Geplärre um das WEF herum einmal ganz genau anschaut, kommt nicht ganz um die Frage herum: Was haben diese ganzen Veranstaltungen bisher eigentlich gebracht? Außer Spesen - und die sind enorm - nichts gewesen?

Unheilige Allianz aus Arroganz, Ignoranz und Gier einer entrückten globalen Finanzelite

Und noch ein weiterer Punkt zwingt uns zum Überlegen: die wachsende Zahl an sehr zweifelhaften und kriminellen Figuren, die jährlich nach Davos pilgern, um der Welt ihre Aufwartung zu machen, wie beispielsweise der Mordbeschöniger Adel al-Ahmad al-Jubeir aus Saudi-Arabien, der so berüchtigte wie korrupte aserbaidschanische Autokrat Ilham Alijew, der afrikanische Ausbeuter und Staatspräsident von Ruanda Paul Kagame, der Betrüger und tschechische Regierungschef Andrej Babis oder der CEO von Glencore Victor Glasenberg, der wieder und wieder seine komplette ethische Indifferenz feiert, während seine Firma ihr Geschäftsmodell explizit auf Korruption, Verstöße gegen Umweltauflagen und Ausbeutung von Land und Bevölkerung in Drittwelt-Staaten ausgerichtet hat. Und nicht zuletzt nimmt auch der neue brasilianische Präsident Jair Bolsonaro teil, der eine Geste zum tödlichen Gebrauch von Schusswaffen zu seinem Symbol und Markenzeichen erkoren hat.

Glauben die Veranstalter wirklich, dass man mit diesen Menschen ein konstruktives Gespräch führen kann? Oder geht es hier vielmehr sowieso nur um Deals, geschäftliche Beziehungen und den schnöden Mammon, dass Verbrechern ganz frei von ethischen, sozialen oder ökologischen Belangen eine solche Plattform geboten wird?

In Davos wird viel über neue Technologien diskutiert, aber nur wenige Teilnehmer (der WEF-Gründer Klaus Schwab scheint dazu zu zählen) scheinen wirklich zu ahnen, wie stark uns zukünftige Technologien durschütteln werden. Da wird immer noch hauptsächlich über den letzten hirnrissigen Tweet Donald Trumps gesprochen, über eine neue mögliche Bankenfusion, oder ob die Notenbanken nun die Zinsen erhöhen sollen oder nicht. Und zugleich verändert sich die Welt, ohne dass die hohen Herren (und wenige Damen) das in ihren edlen Hotels und Anzügen mitkriegen.

Der Klimawandel ist ein wichtiges Thema in Davos, doch im persönlichen Verhalten der Davos-Elite lässt sich kein Funken Einsicht dazu erkennen: So ist die Anzahl der Flüge von Teilnehmern, die sich dazu gemüßigt sahen, mit Privatjet und Hubschrauber zu dieser Veranstaltung zu fliegen, auf unglaubliche 1500 angewachsen! Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Doch erscheint es tatsächlich so, dass dieses alljährliche Stelldichein in den Schweizer Bergen nur das widerspiegelt, was wir außerhalb dieser Glamourwelt von Davos das ganze Jahr über erleben: die unheilige Allianz aus Arroganz, Ignoranz und Gier einer entrückten globalen Finanzelite, die längst die echten Probleme dieser Welt nicht mehr zu erfassen vermag und sich stattdessen nur noch in einem unerträglichen Hedonismus zur Schau stellen möchte. Es ist beschämend, was aus dieser Veranstaltung des einstigen Idealisten Klaus Schwab geworden ist.

Der Beitrag von Lars Jaeger erschien zuerst auf seiner Website larsjaeger.ch. Jaeger ist ein schweizerisch-deutscher Unternehmer, Wissenschaftler, Schriftsteller, Finanztheoretiker und alternativer Investmentmanager. Er studierte Physik und Philosophie an der Universität Bonn in Deutschland und der École Polytechnique. Seinen Doktortitel in theoretischer Physik erwarb er in Studien am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden, wo er auch Post-Doc-Studien unternahm. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die zweite Quantenrevolution: Vom Spuk im Mikrokosmos zu neuen Supertechnologien".

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