Gelbwesten: An der Grenze

Archivbild, 8.Dezember 2018. Bild: Olivier Ortelpa. Lizenz: CC-BY 2.0

"Acte XI": Offizielle Teilnehmerzahlen markieren einen Rückgang. Die schwere Verletzung einer bekannten Persönlichkeit, die sich für Pazifismus einsetzte, allem Anschein nach durch Polizeigewalt, steigert die Empörung

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So leicht lassen sich die "Figuren der alten Welt" (Eric Drouet) nicht von der Macht entfernen. Die Bewegung der Gilet jaunes stößt an Grenzen, nun kommt es darauf an, mit welchen Einfällen sie die Regierung aufs Neue aus der Balance bringen kann, um politische Legitimation für weitergehende Forderungen zu haben. Dass die Zeit für Präsident Macron abgelaufen ist, wie es die Proteste postulieren, dient im Augenblick vor allem der Autosuggestion. Realistisch ist es nicht.

Landesweit 69.000 Teilnehmer am gestrigen "Act XI" der Gilet jaunes, dem elften Protestsamstag in Folge, zählte das französische Innenministerium. Das sind weniger als am Wochenende zuvor, wo die Regierung von 84.000 Teilnehmern gesprochen hatte. Es gibt aber auch ganz andere Zahlen. Wie stets gibt das Syndicat France Police - Policiers en Colère eine weitaus höhere Schätzung, nämlich 330.000, für den gestrigen Samstag, 19 Uhr 30, bekannt.

Zu überprüfen ist das schwerlich. Wer hat schon die Übersicht, um zu ermitteln, wie viele Personen in Gelben Westen sich an Orten in ganz Frankreich getroffen haben? Das sei nicht leicht, heißt es in einer Leser-Zuschrift an Le Monde, weil sich die Demonstranten auch immer wieder die Gelben Westen ausziehen würden.

Die Zeitung antwortet mit dem Verweis darauf, dass man sich an die Angaben des Innenministeriums halte, weil damit doch immerhin eine Vergleichsreihe gegeben sei, die bis zum ersten Protestsamstag am 17. November vergangenen Jahres zurückreiche, und weil sie sich auf Zahlen der jeweiligen Präfekturen gründen. Allerdings ist es wohl auch naiv anzunehmen, dass die Präfekturen völlig korrekt arbeiten. Es steht einiges auf dem Spiel. Die Legitimation in der Demokratie hat viel damit zu tun, wer die größere Zahl hinter sich weiß. Macron verweist auf seine Wähler, die Gilet jaunes auf ihre Unterstützer, die sie mobilisieren können.

Auch wenn aus den Reihen der Organisatoren andere Zahlen kommen, die Mobilisierung gestern wird den Gelben Westen keine zusätzliche politische Wucht eingebracht haben. Das Projekt eines Protestes, der in der Nacht fortgesetzt wird, nach dem Vorbild der Nuit débout-Proteste im Jahr 2016, steht noch am Anfang. Gestern hatte die Polizei offenbar wenig Mühe, das Gros der Teilnehmer von der Place de la République zu vertreiben und sie in der Metro daran zu hindern, dass sie in großen Mengen zurückkommen.

Als nächstes große Projekt wird seit vergangener Woche ein Generalstreik in Frankreich für den 5. Februar plakatiert. Das würde, wenn sich viele anschließen, für einen deutlichen politischen Effekt sorgen. Zweifelhaft ist allerdings, ob die Gilets jaunes eine derartige Mobilisierung organisieren können.

Die Gelbwesten haben keine Streikkasse. Für einen Tag braucht man sie nicht, aber die begrenzten Möglichkeiten und die organisatorische Unerfahrenheit, wenn es um einen Generalstreik geht, spielen natürlich im Kalkül ihres politischen Gegners - immerhin ist es die Regierung mit ihren Möglichkeiten des Zugangs zu Unternehmen und Gewerkschaften - eine Rolle. Ob die Unterstützung der Gewerkschaften, die sich am Wochenende in einigen Städten zeigte, bis 5. Februar so weit anwächst, dass tatsächlich ein Generalstreik durchgeführt werden kann?

Der Protest verlässt mit dieser Dimension auch eine pragmatische Ebene, die mit den Samstagsdemonstrationen verbunden war: die Vereinbarkeit von Arbeit und Protest. Proteste, die unter der Woche stattfinden, sind mit anderen Risiken verbunden, ob dies die Organisatoren der Proteste auffangen können, ist offen.

Für große Empörung sorgte gestern erneut die Polizeigewalt, welche Innenminister Castaner mit jedem Satz, den er dazu äußert, in Abrede stellt. Diesmal traf es einen in sozialen Medien bekannten Vertreter der Gilet jaunes, Jérôme Rodrigues. Er hat wahrscheinlich ein Auge verloren, wie er selbst Bilder mit seiner Verletzung kommentierte.

Noch ist unklar, durch welche "nicht-tödliche" Waffe die brutale Körperverletzung verursacht wurde. Erste Informationen deuten an, dass es eine sogenannte Offensivgranate der Polizei gewesen sein könnte. Die Polizeiaufsichtsbehörde (IGPN) wurde umgehend mit einer Prüfung beauftragt.

Das Interesse an der Untersuchung der "Polizei der Polizei" ist im Fall Jérôme Rodrigues besonders groß. Der Mann hat einen Ruf als ausgesprochener Pazifist und er hat das Geschehen auf der Place de la Bastille bis hin zum "Treffer", in dessen Folge er bewusstlos wurde, mit einem Smartphone über Facebook-Live gefilmt (in Kurzform hier).

Am heutigen Sonntag mobilisieren die Foulards rouges ("rote Halstücher") - in deutschen Medienberichten mit übersetzt, mit ihrer Initiative "Stop. Jetzt reicht es" ("STOP, maintenant ça suffit") zu einem republikanischen Marsch der Freiheiten" . Sie wollen in Paris Präsenz zeigen und "die Demokratie unterstützen" ("Ja zur Demokratie, nein zur Revolution"). Auch diese Bewegung bezeichnet sich wie die Gelbwesten als "apolitisch", unterstützt aber eindeutig die Regierung. Wie diese rückt sie die Gewalt bei den Gelbwesten ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Aufrufe der Organisatoren der Gilets Jaunes-Demonstration hatten das Thema Eindämmung der Gewalt schon seit einiger Zeit als wichtigen Punkt markiert. Seit den Demonstrationen am letzten Samstag hatte man auch mit einer zweistufigen Maßnahme versucht, Gewalt des Schwarzen Blocks, wo man Infiltrationen seitens der Polizei vermutet, auf Distanz zur Protestbewegung zu halten.