Volksparteien als klassische Regierungsorgane

Die Parlamente sind nur zum Abnicken bestimmt - 4. Teil

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Als auf dem Höhepunkt der Euro-Staatsschuldenkrise 2011 Entscheidungen über die Verwendung von vielen Milliarden Euro im Wesentlichen in Zweiergesprächen zwischen der deutschen Bundeskanzlerin und dem französischen Staatspräsidenten getroffen wurden, beschwerten sich sogar einige Bundestagsabgeordnete der Regierungsfraktion, der Bundestag diene nur noch dazu, diese Entscheidungen ergeben "abzunicken".

Das Problem dabei war: Nur dazu sind sie immer schon wirklich da. Sonst zu nix. Sie nicken immer nur ab, was die Regierung ihnen aufträgt. Das ist ihr Lebenszweck und -sinn. Aber in der theoretischen Fiktion demokratischer Prozesse und Strukturen, sollen die Entscheidungen stets in der anderen Richtung gehen: von unten nach oben statt von oben nach unten.

Die Folge: Die Wähler haben es von Anfang an bemerkt, dass Wirklichkeit und Theorie weit auseinanderklaffen und bringen der Realität das gesunde Misstrauen entgegen, das sie verdient. Es war immer ein gigantischer Fehler scheindemokratischer Machthaber, ihre potenziellen Wähler für zu blöd zu halten. Selbst der Vizepräsident des Bundestags meinte in einem Interview: "Da werden die Abgeordneten, übrigens auch die eigenen der Koalition, zunehmend als Abnickverein betrachtet."1 Und der Präsident des Bundestags hatte sich schon mehrfach zuvor im gleichen Sinne geäußert.

Doch die Konstruktion der repräsentativen Parteiendemokratie und die Struktur der Volksparteien lassen überhaupt nichts anderes zu: Würde das Parlament Beschlüsse mit der Regierungsmehrheit am Ende nicht abnicken, wäre der Zusammenbruch der Regierung die unvermeidliche Folge. Also haben die Fraktionen der Regierung sie abgenickt und nicken weiter alles ab, was man ihnen vor die Füße wirft. Das wird im Prinzip ewig so bleiben, und daran wird sich nie etwas ändern. Die Struktur der parlamentarischen Parteiendemokratie macht es unvermeidlich, dass die Parlamente in ihnen nur als Abnickvereine richtig funktionieren können. Das allmähliche Dahinschwinden der klassischen Volksparteien lässt indes darauf hoffen, dass im längeren Zeitverlauf die verkrusteten Strukturen aufbrechen.

So oder so ist der Deutsche Bundestag, wie jedes andere Parlament auch, ein Abnickverein - und das schon seit sehr vielen Jahren. Das ist keine Entwicklung, die sich erst in den letzten Jahren Bahn gebrochen hat. Mitunter hält sich in der Bevölkerung noch die Illusion, wenigstens in den großen Plenardebatten werde in offener Kontroverse um die beste Lösung gerungen. Doch das ist nichts als ein Trugbild.

Da wird in aller Form eine Scheindebatte mit strikter Rollenverteilung inszeniert, in der jedes Detail von den Fraktionsvorständen im Vorhinein festgelegt ist. Die Fraktionsvorstände bestimmen ohnehin bei jeder Plenardebatte, wer wie lange sprechen darf oder soll und wer gefälligst seinen Mund zu halten hat.

Konkret weist der Ältestenrat des Bundestags den Fraktionen bei Plenardebatten ein Kontingent an Redezeit zu. Das richtet sich natürlich nach der Stärke der Fraktionen. So haben die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD im 19. Bundestag in der Zeit der großen Koalition die meiste Redezeit, um in ungefähr 80 Prozent der Redezeit, die überhaupt zur Verfügung steht, den Taten und Untaten der der eigenen Regierung zuzujubeln.

Das ist bis ins allerletzte Detail minutiös geregelt. Für jede Fraktion ist genauestens festgelegt, wie viele Minuten lang ihre Redner sprechen dürfen. Dabei unterscheidet man wie in der Mode sechs Konfektionsgrößen der Debattendauer: Kurz, Standard, Mittel, Lang, XL und XXL.

In der Standardversion, die akkurat 38 Minuten lang dauern darf, hat die CDU/CSU 17 Minuten, die SPD hat 11, die Linke und das Bündnis/Die Grünen jeweils 5 Minuten, um sich zu einem Thema zu äußern. Mit anderen Worten: Die große Koalition darf insgesamt 28 Minuten lang ihre eigenen Ruhmestaten bejubeln, die Opposition gerade mal 10 Minuten lang ein bisschen meckern. Das ist der Schlüssel für alle Debatten: Fast 75 Prozent der gesamten Redezeit für die große Koalition, um sich selbst zu beweihräuchern, gerade mal ein Viertel für die Opposition.

Auch diese Zeit wird von oben nach unten, von den Fraktionsvorständen an ihre Abgeordneten vergeben. Nicht etwa, dass ein einzelner Abgeordneter auf die abwegige Idee verfiele: "Ich möchte zu dem Thema mal was sagen." Da könnte ja jeder daherkommen.

Die ach so freien Parlamentarier selbst haben das nicht zu entscheiden. Die haben überhaupt nichts zu sagen, was man ihnen vorher nicht ausdrücklich erlaubt hat. Von einer offenen und freien Debatte, in der die Abgeordneten von ihrem Gewissen getrieben ans Rednerpult drängen, kann überhaupt keine Rede sein. Die hat es im Bundestag nie gegeben.

Wer glaubt, dass die Abgeordneten ans Rednerpult eilen, weil ihnen ein akutes Thema wichtig ist, der irrt. Welcher Abgeordnete überhaupt und wie lange sprechen darf, wird von oben festgelegt, vom Fraktionsvorstand; und nicht etwa von den einzelnen Abgeordneten. Außer Abnicken dürfen die so gut wie überhaupt nichts. Da stirbt die letzte Hoffnung auf das rudimentäre Bestehen der demokratischen Idee.

Zwar durchschauen die Wähler nicht en détail alle Winkelzüge im ausgefeilten Räderwerk des parlamentarischen Rederechts. Aber sie haben längst begriffen, dass vor ihren Augen ein abgekartetes Spiel inszeniert wird und die Freiheit des einzelnen Abgeordneten längst auf dem Altar des politischen Ränkespiels gemeuchelt wurde.

Kasperltheater statt offener Debatte freier Parlamentarier

Tatsächlich findet dort ein von vorne bis hinten durchgeplantes, durchorganisiertes und durchinszeniertes Kasperltheater statt, in dessen Drehbuch bis ins letzte Detail festgelegt ist, wer wann was und wie lange darf und auch, wer die Klappe zu halten hat.

Wie festgefahren diese Praxis schon seit Jahren ist, wurde deutlich in der Debatte über den Euro-Rettungsschirm vom September 2011. Da gab es in der FDP und in der CDU eine Reihe von Abgeordneten, die gegen die Zustimmung der Regierungsfraktionen waren und sich in der Debatte zu diesem Thema äußern wollten. Und der Bundestagspräsident Norbert Lammert besaß tatsächlich die ungeheure Frechheit, zweien dieser Abgeordneten eine Redeerlaubnis zu erteilen und so die kalkulierte Inszenierung zu unterlaufen.

Allerdings handelte er sich damit heftigen Ärger aus seiner eigenen Partei, der CDU, ein. Seine Entscheidung, zwei "Abweichler" aus den Koalitionsfraktionen reden zu lassen, sei rechtlich höchst zweifelhaft, und das Vorgehen sei außerdem noch nicht einmal mit dem Ältestenrat abgestimmt gewesen, hieß es. Was für eine Unverschämtheit. Da durften zwei Parlamentarier einfach ohne Erlaubnis von oben drei Minuten lang reden.

Der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestags prüfte gar die Rechtmäßigkeit von Lammerts Vorgehen, um ihn disziplinarisch zu maßregeln. Die Fraktionschefs protestierten, und der Ältestenrat erteilte eine Rüge. So viel zum Thema Redefreiheit für freie Abgeordnete, die nur ihrem Gewissen verantwortlich sind.

Tatsächlich hatte Lammert den Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) und Klaus-Peter Willsch (CDU), die beim Thema Euro-Rettungsschirm anderer Meinung waren als die Mehrheit ihrer Fraktionskollegen, Redezeit im Plenum zur Verfügung gestellt. Ihre eigenen Fraktionen hatten sich zuvor nämlich geweigert, sie auf die Rednerlisten setzen. Die hatten den beiden ihren Maulkorb schon vorher umgehängt.

Der Bundestagspräsident berief sich in seiner Entscheidung auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1989. Das hatte sich allerdings auf einen fraktionslosen Abgeordneten bezogen, der aus eigenen freien Stücken vor dem Plenum reden wollte und das erst durfte, nachdem das Verfassungsgericht ihm seinen Segen erteilt hatte. Ob das Rederecht also überhaupt auch für Fraktionsabgeordnete gilt, ist danach durchaus noch immer zweifelhaft. Bedeutsam aber ist, dass die Fraktionsführungen sich mit Zähnen und Klauen dagegen wehren, wenn jemand auch nur den Versuch unternimmt, ihre Debatteninszenierung zu durchkreuzen, indem er ohne Erlaubnis von oben eine kurze Rede hält.

Doch tatsächlich passen derart kleinkarierte Rederestriktionen für Bundestagsabgeordnete so ganz und gar nicht zu den überlieferten Idealen von Demokratie, Gewissensfreiheit und parlamentarischer Debattenkultur.

Lediglich aus den Reihen der Opposition kamen vereinzelte und auch eher zaghafte Stimmen, die den Bundestagspräsidenten unterstützten. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) erklärte gar in der "Frankfurter Rundschau", auch Minderheitsmeinungen müssten im Parlament zu Wort kommen dürfen. Wenn ein hoher parlamentarischer Würdenträger sich genötigt sieht, so etwas öffentlich zu sagen, zeigt das doch nur, dass im Bundestag noch nicht einmal Minderheitsmeinungen eine Chance haben, zu Wort zu kommen. Ja, wo denn sonst?

Das muss man sich in aller Deutlichkeit vor Augen führen: Die Debatten-Unkultur im Deutschen Bundestag ist bereits so weit heruntergekommen, dass ein Funktionsträger sich veranlasst sieht, leidenschaftlich dafür zu plädieren, auch Minderheitsmeinungen - wie geschehen - wenigstens für drei Minuten und keine Minute länger Gehör zu verschaffen.

Als ob das im Parlament, der Stätte von freien und offenen politischen Debatten, nicht eine demokratische Selbstverständlichkeit sein sollte. Kann ein Parlament überhaupt noch tiefer sinken? Und so lange derartig verhärtete Strukturen in den Fraktionen für demokratisch gelten, kann es zu einer lebendigen Demokratie in Deutschland nicht kommen. Die Volksparteien halten sich in den von ihnen selbst geschaffenen Strukturen in einer babylonischen Gefangenschaft gefangen, aus der es kein Entrinnen gibt.

In Deutschland war die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gegen den Rettungsschirm für den Euro und die damit verbundenen ökonomischen Risiken.2 Und im Bundestag wird die Plenardebatte über dieses Thema so stranguliert, dass sich Empörung darüber breitmacht, wenn ein Bundestagspräsident zwei "Abweichlern" - die immerhin die Meinung der Bevölkerungsmehrheit artikulierten - je drei Minuten Redezeit einräumt. Der Graben zwischen der breiten Bevölkerung und ihren Repräsentanten ist schon sehr, sehr tief: ein Abgrund.

Kann noch deutlicher demonstriert werden, dass sich das Parlament längst von der Bevölkerung, die es angeblich repräsentiert, völlig abgekoppelt hat? Diejenigen, die wenigstens noch die Meinung der Bevölkerungsmehrheit vertreten, gelten im Bundestags-Neusprech inzwischen als "Abweichler". Und diejenigen, die von der Mehrheit der Bevölkerung abweichen, sind die Mehrheit.

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele erklärte in der "Mitteldeutschen Zeitung": "Ich habe zehn Jahre lang versucht, Rederecht zu Afghanistan zu bekommen. Das ist mir bis heute nicht gewährt worden." Wie gesagt: von seiner eigenen Fraktion.

Kontroversen sind ausschließlich zwischen den Fraktionen erwünscht. Und da geht es um den Nachweis, dass die eigene Fraktion Recht und die anderen Fraktionen Unrecht haben und schon immer hatten. Sonst gar nichts. Deshalb haben politische Debatten zwischen den Repräsentanten von Volksparteien stets das hohe Niveau von Wirtshausschlägereien zwischen Betrunkenen. Und das kann erst besser werden, wenn die Entscheidungsstrukturen in den Parlamenten lösungsorientiert werden. Wenn sie jedoch rechthabenorientiert bleiben, bleibt die Debattenunkultur so, wie sie ist. Und der Niedergang der Volksparteien kann auch nicht besser werden.

Und wenn diejenigen, die sich dem Fraktionszwang beugten, wenigstens gewusst hätten, worüber sie abstimmen. Viele hatte keine Ahnung, worum es überhaupt im Einzelnen ging. Sie folgten gehorsam und blind den Anweisungen ihrer Fraktionsführungen. Das TV-Magazin "Panorama" befragte einzelne Abgeordnete über Details der Erweiterung des Euro-Rettungsschirms, dem sie am nächsten Tag mit großer Mehrheit zustimmen wollten.

Abgeordnete haben keine Ahnung, stimmen aber treudoof ab

Befragt, wie hoch der deutsche Anteil an den Kreditbürgschaften wohl sein könnte, konnten zahlreiche Abgeordnete nicht einmal den genauen Betrag beziffern (211 Milliarden Euro). An welche Länder schon zuvor Kredite ausgezahlt worden waren (Irland und Portugal), wussten manche auch nicht und nannten stattdessen Griechenland. Und vollends ins Schwimmen gerieten die Parlamentarier bei der Frage, ob mit dem Rettungsschirm auch Banken gerettet werden können. Wusste keiner. So verhält sich ein tumbes Stimmvieh, aber ganz sicher nicht die politische Elite in einer Demokratie.

Abgefragt wurden, dem Anschein nach, einfachste Informationen, deren Antworten jedermann schon kennt, der nur ab und an die "Bild"-Zeitung liest. Doch die ach so arbeitsamen, fleißigen Bundestagsabgeordneten wursteln dermaßen schlampig vor sich hin, dass sie nicht einmal primitivste Wissensfragen beantworten konnten. Sie hatten nämlich keine Ahnung.

Aber eins wussten sie ganz genau: Wie sie abzustimmen hatten. Offensichtlich reicht es den meisten völlig hin, wenn sie die Entscheidungen ihrer Fraktionsvorsitzenden abnicken dürfen, ohne auch nur zu wissen, was sie da überhaupt abnicken. Und auf verschrobene Weise haben sie ja auch irgendwie Recht: Was sollen sie sich mit dem Zeug auch noch weiter beschäftigen, wenn sie sowieso nur zum Abnicken da sind?

Heribert Prantl schrieb damals über den "demokratischen Pöbel Bundestag"3:

Der Bundestag schluckt - und stimmt zu bei allem, was ihm von der Bundesregierung vorgesetzt wird, so es ihm überhaupt vorgesetzt wird. … So war und ist es bei allen EU-Gesetzen und Verträgen. So war und ist es bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr; hier mussten Parlamentarier gar ihre Zustimmungsrechte erst einmal im Wege der Organklage beim Bundesverfassungsgericht erstreiten. Zu konstatieren ist also ein merkwürdiger, demokratiewidriger Striptease der Legislative, der jetzt, in der Finanz- und Wirtschaftskrise, seinen Höhepunkt findet: Der Kaiser der Demokratie, der Bundestag, ist nackt. Er sagt nichts, er will nichts sagen, er hat nichts zu sagen. Das Parlament … hakt die Multi-Milliarden-Aktionen der Kanzlerin, des Finanz- und des Wirtschaftsministers ab, als handele es sich um die 23. Durchführungsverordnung zum Einkommensteuergesetz. … Die wichtigsten Wirtschaftsgesetze werden, im Auftrag der Regierung, von internationalen Anwaltskanzleien vorgefertigt. Es wird "durchregiert".

Heribert Prant

Das sind keine einmaligen Ausrutscher. Die ARD-Sendung "Panorama" hat öfter mal solche Befragungen von Abgeordneten durchgeführt. Die haben sich jedes Mal unsterblich blamiert. So berichtete "Panorama" 2005 über die Abstimmung des Bundestags über die EU-Verfassung. Dabei wurden stichprobenweise verschiedene Abgeordnete nach ihren Kenntnissen über das europäische Verfassungswerk befragt. Es stellte sich schnell heraus, dass unter den 16 Befragten kein einziger auch nur eine Frage richtig beantworten konnte.

Der Verzicht auf eigene Verantwortung selbst in Schicksalsfragen der Nation ist längst so weit gediehen, dass sie sich als gehorsames Stimmviech verhalten, ohne nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, was sie anrichten. Und das wirft ein bedrückend stimmendes Bild auf die Volksvertreter: Sie sind vorwiegend damit beschäftigt, sich im täglichen Politbetrieb durchzuschlagen und ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Alles andere interessiert sie nicht mehr.

Der Gedanke, dass sie eine Verantwortung für das Volk tragen (sollten), ist ihnen zutiefst fremd. Und dass sie sich dafür ordentlich vorbereiten, in eine Thematik einarbeiten und dann sachverständig urteilen können müssten, kommt ihnen nicht einmal in den Sinn. Schließlich haben sie ja ihre Einpeitscher, die ihnen rechtzeitig mitteilen, wie sie abstimmen müssen. Wozu braucht man da Sachverstand? Und wozu braucht man dafür ein Parlament mit 709 Abnickern?

Parlamentarier, die brav das Pfötchen heben

Die demokratischen Politiker verhalten sich wie dressierte Hunde, denen man nur zurufen muss "Heb’s Pfötchen", und schon heben sie gehorsam ihre Pfoten. Die Entscheidungsinkompetenz von Parlamenten ist allen Beobachtern schon seit einigen Jahrzehnten bekannt. So schrieb der Berliner Politikwissenschaftler Johannes Agnoli bereits 19674:

Fraglos ist das Parlament als "Legislative" und als Körperschaft, in der Volksinteressen gesetzgeberisch Ausdruck finden sollten, gegenüber der "Exekutive" bis zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Es ist nicht mehr in der Lage, selbständig Entscheidungen zu treffen, da es als Ganzes nicht mehr an den konkreten Vorbereitungen der Gesetze und an der Aufarbeitung des Materials beteiligt wird.

Auch im Parlament bilden sich oligarchische Zentren, die den größten Teil der Abgeordneten aus dem engeren Informationskreis ausschließen und so den Eintritt in den eigentlichen Entscheidungsmechanismus verwehren. ... Überall in der westlichen Welt kann - hinter der Fassade verfassungsmäßig ausgewogener Gewalten- und Kompetenztrennungen - eine weitgehende Symbiose der Parlamentsführung mit den Spitzen des Exekutivapparates beobachtet werden…

Der "harte Kern" des Parlaments wird jedoch nicht entmachtet. Nicht alle Entscheidungen werden "anderswo" getroffen, da ein Teil der entscheidenden Gruppen wenn nicht als Parlament, so doch im Parlament wirkt. ...

Und genau das ist für eine erfolgreiche Herrschaftsmethode unerlässlich: dass ein Teil der politischen und gesellschaftlichen Oligarchien sichtbar im Parlament tätig (also dem Schein nach öffentlich kontrollierbar), sichtbar vom Volke gewählt (damit zum Herrschaftsakt demokratisch legitimiert) und sichtbar Träger von Macht (und in der Lage, moralisch verpflichtende Wählerwünsche durchzusetzen) ist. Wäre dem anders, würde die Bevölkerung sich gar nicht auf das parlamentarische Spiel einlassen, und sie würde die Wahlen nicht mehr als den wesentlichen Ausdruck ihrer politischen Freiheit betrachten. Mit einem Wort: erst die Präsenz der Macht im Parlament (und nicht etwa: die Macht des Parlaments) ermöglicht die Erfüllung der Aufgaben, die ihm als Organ (als Ganzem) zukommen.

Johannes Agnoli

Allerdings ist die Untergrabung der Haushaltshoheit und die generelle Selbstentmannung des Bundestags unter dem Einfluss der Euro- und Finanzkrise noch ein paar Schritte weiter fortgeschritten: Der ursprüngliche Entwurf des Gesetzes zum "europäischen Stabilisierungsmechanismus" von 2010 ermächtigte das Bundesfinanzministerium, für Notkredite Gewährleistungen von bis zu 123 Milliarden Euro zu übernehmen. Der Haushaltausschuss des Bundestages sei davon lediglich zu unterrichten.

Nach Protesten aus dem Parlament verfiel man auf den Zusatz, vor der Übernahme solcher Gewährleistungen "bemühe" sich die Bundesregierung, "Einvernehmen" mit dem Haushaltsausschuss herzustellen: Die Hunderte von Milliarden zur Stabilisierung des Euro sollen nicht ohne maßgebliche Beteiligung des Gesetzgebers beschlossen werden können. Eigentlich völlig egal; denn im Haushaltsausschuss haben die Regierungsvertreter ja sowieso die Mehrheit.

Auf längere Sicht allerdings ist die Entscheidungsinkompetenz der politischen Entscheider der breiten Bevölkerungsmehrheit nicht entgangen. Sie erkennen das Dilemma zwar nicht mit analytischer Schärfe, aber im Laufe der langen Jahre mit entscheidungsunfähigen Regierenden an ihrer Spitze spüren sie, dass sie von einem Haufen entscheidungsschwacher Idioten hingehalten werden, die alle Probleme im Wesentlichen vor sich hinschieben. Und weil ihnen das allerdings glasklar ist, verlieren sie von Wahl und Wahl das Vertrauen in die Volksparteien und ihre Repräsentanten.

Inzwischen hat die europäische Politik im Zuge der Euro-Staatsschuldenkrise die nationalen Parlamente ins Abseits gedrückt. Das wäre schon an sich eine einzige Katastrophe. Doch damit nicht genug. Die nationalen Parlamente wehren sich nicht, sie lassen das mit sich geschehen und wirken noch aktiv an der eigenen Entmachtung mit.

Wenn die Parlamente oder gar die Völker - angeblich ja die Souveräne der Politik - nicht "richtig" abstimmen, dann lässt die europäische Politik eben so lange wählen, bis das Richtige dabei herauskommt. So geschah es 2007 beim Lissabon-Vertrag, als die Iren zweimal abstimmen mussten und das französische Parlament dem eigenen Volk die Abstimmung verweigerte.

Immerhin hatten Franzosen und Niederländer 2005 die EU-Verfassung - den praktisch identischen Vorläufer des Lissabon-Vertrags - mit Mehrheit abgelehnt. Also wurde beim Lissabon-Vertrag so getrickst, dass eine Zustimmung der Bevölkerungen nicht mehr notwendig war. Die nationalen Parlamente ließen das ohne ein Wort des Protests mit sich machen.

In Deutschland reagierten die meisten Abgeordneten erst, als das Bundesverfassungsgericht sie darauf hinwies, dass die Beteiligungsrechte des Bundestags durch das deutsche Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag nicht ausreichend gewahrt wurden.

Man könnte das auch so formulieren: Der Bundestag und seine wackeren Abgeordneten wollten ihre verfassungsgemäßen Rechte gar nicht wahrnehmen. Sie hatten sich in vielen Jahrzehnten des Abnickens schon so erfolgreich selbst entmannt, dass sie nun nicht einmal mehr merkten, was ihnen fehlte…

2011 bei den Abstimmungen zum Euro-Rettungsschirm wurde das noch deutlicher. Obwohl den Abgeordneten bis zuletzt entscheidende Informationen vorenthalten wurden und die wenigsten überblickten, was sie binnen Stunden entscheiden sollten, beugten sie sich dem Druck der Finanzbranche, des Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU-Gremien und der Bundesregierung.

Abermals musste das Bundesverfassungsgericht den Parlamentariern erklären, welche Rechte und Pflichten sie laut Grundgesetz überhaupt haben. Ohne die Aufklärung durch das Gericht wäre ihnen das gar nicht aufgefallen. Stolze und selbstbewusste Parlamentarier sind das nicht, wohl eher unterwürfige Abnick-Heloten.

Doch während die Parlamente in Deutschland und Frankreich nur ausgetrickst wurden und sich willig austricksen lassen, bestimmen in anderen EU-Ländern IWF und EU direkt, was die Parlamente zu tun und zu unterlassen haben. Ob Griechenland die Mehrwertsteuer erhöhen muss, ob Italien das Renteneintrittsalter senken oder Portugal die Staatsunternehmen privatisieren muss - das entscheiden nicht die gewählten Volksvertreter, sondern die Finanzexperten und Protektoratsverwalter der EU.

Auf das angeblich vornehmste Privileg des Parlaments, die Budgethoheit, verzichten sie ohne ein Wort der Klage. Ja, die nationalen Parlamente scheinen heute sogar Spaß daran zu finden, sich selbst zu entmannen.

Die "Schuldenbremse", die überall in die nationalen Verfassungen eingebaut wurde, bedeutet ja nichts anderes als die Preisgabe der parlamentarischen Budgethoheit. In Zukunft wird über die Höhe der nationalen Haushalte nicht mehr im Parlament, sondern vor Gericht oder in EU-Gremien entschieden.

Die schleichende Aushöhlung der Verfassung schreitet voran

Die Parlamente gaben mit ihrer Selbstentmachtung zu verstehen, dass sie noch nicht einmal erkannt haben, welche Verantwortung mit ihrer Tätigkeit verbunden wäre, wenn sie denn bereit wären, sie zu tragen. Sie sind völlig damit zufrieden, wenn sie so weiter wursteln können wie bisher und gut und üppig alimentiert werden.

Ein bisschen weniger Verantwortung ist gar nicht mal so schlecht. Das entlastet ja auch. Hauptsache die Versorgung bleibt gleich oder wird vielleicht sogar ein bisschen angehoben. Die Parlamentarier sind jetzt schon überversorgt, aber wenn sie alsbald auch noch überüberversorgt würden, hätten sie ganz gewiss nichts dagegen, besonders wenn sie dafür noch ein wenig Verantwortung aufgeben müssten.

Die Strukturen haben sich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode verfestigt und verhärtet. Die Oligarchen petrifizieren ihre Macht. Ein deutliches Zeichen, dass eine Besserung der Verhältnisse nicht kommen wird und alles nur noch schlimmer kommt.

Im August 2011 formulierte der Journalist Hans-Ulrich Jörges, selbst das "landläufige Bild von der Herrschaft einer abgelösten Politiker- und Parteienkaste über das Volk" stimme nicht mehr: "Der Verfall der Demokratie, die schleichende Aushöhlung der Verfassung durch eine deprimierende Praxis, ist längst zur Herrschaft auch über die Parteien und, ungleich verheerender, über das Parlament geworden."

Und er schrieb weiter: "Verfassungs- und demokratiewidriges Regieren zieht sich als kennzeichnendes Element durch den politischen Alltag… An Parlament und Partei vorbei wurden schließlich die diversen Euro-Rettungsaktionen inszeniert. Und als Kritik aufkam am Panzerexport nach Saudi-Arabien, verkündete der damalige CDU-Fraktionschef, in Treue zur Kanzlerin, die Selbstentmachtung: Das Parlament, der demokratische Souverän, habe keine Mitsprache. … Nur noch sechs Prozent aller Deutschen und eine erschütternde Restgröße von einem Prozent (!) der Ostdeutschen glauben, dass sie die Politik durch Wahlen in starkem Maße mitbestimmen können. Das ist der Offenbarungseid der repräsentativen Demokratie - und ein Epochenbruch der Politik in Deutschland."

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