Christen in der Türkei - zwischen Opportunismus und Widerstand

Chaldäische St.-Anton-Kirche in Diyarbakir. Foto: MikaelF / CC BY-SA 3.0

Möglichst nicht auffallen, möglichst nicht anecken, damit man in Ruhe gelassen wird

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Die Situation religiöser Minderheiten in der Türkei ist ein dunkles, schwieriges Kapitel in der Geschichte der Türkei und dem vorangegangenen Osmanischen Reich. Der Völkermord an den Armeniern 1915 betraf auch christliche Minderheiten wie die Aramäer (auch assyrische Christen genannt) oder die Eziden, die mehrheitlich im Südosten lebten. Auch sie litten unter Massakern, Enteignung und Vertreibung. Zigtausende wurden ebenfalls Opfer der marodierenden Söldner-Einheiten, an denen auch die kurdischen Hamidiye-Milizen beteiligt waren.

(Einschub: Die Hamidiye-Stammesmilizen wurden Ende des 19. Jahrhunderts von Sultan Abdülhamid II. ins Leben gerufen. 1915 bedienten sich die Jungtürken häufig der Hamidiye-Veteranen zur Deportation von Armeniern, "die die Gelegenheit nutzten, um sich und ihre Familien in großem Maßstab zu bereichern" (vgl. Die kurdische Verantwortung für den Massenmord an Armeniern).

Damit sich die kurdischen Hamidiye beteiligen, wurden ihnen Steuern erlassen und ihnen erlaubt, sich das Eigentum der Armenier und Christen einzuverleiben. Daraus entstanden, wie auch bei den beteiligten türkischen Soldaten, teilweise die späteren Großgrundbesitzer (Agas), deren Familien heute noch zum Teil als 'Dorfschützer' in den kurdischen Gebieten gegen die oppositionelle kurdische Bevölkerung tätig sind.

Nach dem Vorbild der Hamidiye-Milizen entwickelte nämlich der türkische Staat das Dorfschützersystem gegen die PKK. Dazu wurden ganze Stämme und Clans von der Regierung ausgebildet, bezahlt, bewaffnet und paramilitärisch eingesetzt. Zeitweise existierten 70.000 Dorfschützer.)

Heute leben in ihrer ursprünglichen Heimat kaum noch Aramäer. Überlebende Aramäer, Eziden, Aleviten, aber auch ethnische Minderheiten wie die Armenier und Kurden unterlagen einem extremen Assimilierungsdruck. Viele konvertierten zum Islam, um zu überleben.

Istanbuls Flughafen im asiatischen Teil der Stadt ist nach der Tochter von Atatürk benannt: Sabiha Gökcen. Sie war eine der ersten Pilotinnen, die Kampfeinsätze gegen die religiösen und ethnischen Minderheiten in der Türkei flog. Sabiha Gökcen war ein armenisches Waisenkind, das in Atatürks Familie türkisiert wurde - als Vorbild und Botschaft für alle in der Türkei lebenden Minderheiten: "Seht her, zu was ihr es bringen könnt, wenn ihr eure kulturelle und religiöse Identität zu Gunsten der türkischen Identität aufgebt. Ein Volk, eine Sprache, ein Vaterland."

Das ist der Kanon, in den heute noch fast alle Parteien, von der säkularen kemalistischen CHP bis zur faschistischen MHP, einstimmen.

Er findet sich aber auch bei den konservativen Christen und Kurden wieder - eben den Assimilierten. Das und der jahrhundertealte Zwist zwischen der katholischen Kirche und den Ost-Kirchen, zu denen die aramäische Kirche gehört, muss bei der Berichterstattung über z.B. die Christen mitgedacht werden. Sait Susin, Vorsitzender der syrisch-orthodoxen Kirchengemeinde von Istanbul, ist einer von jenen, die versuchen, sich mit dem repressiven türkischen Staat zu arrangieren.

Dazu gehört, besser kein Wort über den Völkermord an den Armeniern zu verlieren, kein Wort darüber, dass es der türkische Staat war und gegenwärtig wieder ist, der für die Vertreibungen und Vernichtungen der christlich-aramäischen Dörfer im Tur Abdin, in Mardin und Diyarbakir verantwortlich ist.

Möglichst nicht auffallen, möglichst nicht anecken, damit man in Ruhe gelassen wird, bzw. Annehmlichkeiten bekommt, ist die Überlebensstrategie. Da wird dann auch über den Angriff auf Afrin geschwiegen, bzw. dieser sogar befürwortet. Was kümmern uns unsere Brüder und Schwestern in Syrien. Belohnt wurde dieses loyale Verhalten nun mit einer neuen Kirche im Istanbuler Bezirk Yesilköy.

In Istanbul sollen nach Susins Aussage noch 17.000 Christen leben - die Mehrheit davon in Yesilköy, was eine eigene Kirche in Yesilköy absolut rechtfertigt. Es gibt im Moment nur eine einzige aramäische Kirche in ganz Istanbul, in Yesilköy gar keine. Assyrische Christen sind mehrheitlich brave Kirchengänger, da dies für sie auch der Ort ist, wo sie ihre Kultur leben können, ihre Sprache sprechen dürfen. Denn Aramäisch ist wie Kurdisch in der Türkei als Verkehrs- und Unterrichtssprache verboten.

Erster Kirchenneubau seit 100 Jahren in der Westtürkei

Die Istanbuler Gemeinde bat die türkische Regierung um ein Gelände für einen Kirchenneubau und bekam auch tatsächlich ein Gelände in Yesilköy zugewiesen. Wie sich dann herausstellte, befand sich aber auf diesem Gelände ein alter katholischer Friedhof, der seit mehr als 50 Jahren nicht mehr genutzt wird. Ein türkisches Gesetz sieht vor, dass Friedhöfe, die seit 50 Jahren nicht genutzt werden, an den türkischen Staat fallen.

Das ist nebenbei bemerkt, der Grund, warum Eziden, Christen und Armenier ihre Friedhöfe bei den zerstörten und entvölkerten Dörfern im Südosten weiter pflegen - damit sie nicht enteignet werden. Die katholische Kirche ihrerseits beharrte aber darauf, dass das Gelände nach wir vor Besitz der katholischen Kirche sei, auch wenn diese es nicht mehr nutze. Demnach könne der türkische Staat das Gelände nicht einfach an die verfeindete syrisch-orthodoxe Kirche geben.

Erdogan wird geschmunzelt haben, dass sich die beiden christlichen Kirchen streiten, konnte er so doch als Gönner punkten und sich nicht nur in der gleichgeschalteten heimischen Presse als Schützer religiöser Minderheiten präsentieren. Vermutlich in Unkenntnis der politischen Instrumentalisierung der Christen durch die AKP-Regierung, übernahmen westliche Journalisten unkommentiert die Darstellung des Gemeindevorstehers Susin in Istanbul:

Wir haben von den Behörden nur Unterstützung erfahren bei diesem Projekt, von der Regierung bis zur Stadtverwaltung. Präsident Erdogan selbst hat sich von Anfang an dafür eingesetzt...wir Christen und Juden in der Türkei erleben in den letzten 15 Jahren eine Zeit der Ruhe und Sicherheit, wie wir sie in der Geschichte der Türkischen Republik noch nie erlebt haben. Wir dürfen eigene Schulen eröffnen und jetzt auch die Kirche bauen - davon konnten wir bis in die 90er Jahre noch nicht einmal träumen.

Sait Susin

Wirklich? Der aramäische Rechtsanwalt Erkan Metin beklagt: "Hier wird uns gesagt, stellt eure Identität nicht in den Vordergrund, erhebt eure Stimme nicht. Andernfalls lassen wir euch hier nicht leben."

In diesem Zusammenhang wäre zu erwähnen, dass die Syrisch-Orthodoxe und Syrisch-Katholische Kirche nicht als Kirchenträger anerkannt ist. Die Ausbildung von christlichen Geistlichen ist in der Türkei verboten und christliche Materialien gibt es nur in türkischer Sprache. Der Istanbuler Gemeindevorsteher scheint zudem die Situation des Südostens auszublenden.

Unterdrückung und Diskriminierung von Christen in der Osttürkei

Von Ruhe und Sicherheit träumen nämlich heute die Christen, Eziden und auch die Kurden im Südosten der Türkei. Dort prozessieren Kirchengemeinden seit Jahren gegen Enteignungen, Landnahme oder Umwandlung ihrer Kirchen in Moscheen. Eigene Schulen, die aramäisch oder kurdisch unterrichten, gibt es nicht.

Noch 2014 wurde in christlichen Dörfern nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt, dass die aramäische Sprache heimlich weiter gelehrt werde. Das einzige aramäische Dorf in der Nähe von Cizre, besaß 2014 den einzigen Pastor in der Umgebung, der das Aramäisch noch beherrschte - und offensiv lehrte.

Das dürfte sich mittlerweile erledigt haben, mit dem Beginn des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung machte das Militär auch keinen Halt vor christlichen Institutionen, wie die Zerstörung der Kirchen in Diyarbakir-Sur belegt.

Widerspenstige Pastoren ereilte das gleiche Schicksal wie Oppositionspolitiker, sie wurden der Terrorismusunterstützung bezichtigt. Aber auch die assimilierten Christen, die zum Islam konvertierten, sind heute wieder Diskriminierungen ausgesetzt. Sie sind Muslime zweiter Klasse, müssen besonders gläubig auftreten, damit sie nicht angepöbelt werden.

Die Leute sagen uns oft gönnerhaft, immerhin seien wir ja nun zum wahren Glauben gekommen - als hätten wir eine Wohltat erfahren! Meine Vorfahren, meine Familie sind umgebracht worden, und ich soll mich bedanken, weil ich den rechten Glauben bekommen habe. Das sehen die Leute hier wirklich so.Murat Demir, Assyrer, Muslim der dritten Generation

Christen in der Türkei werden auch ökonomisch diskriminiert: Sie haben keinen Zugang zu Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor, zum staatlichen Sicherheitsapparat und zur Justiz. Bei privaten Arbeitgebern, die der Regierung nahestehen, haben sie kaum Jobchancen. Obwohl Christen ebenfalls verpflichtet sind, Militärdienst zu leisten, gibt es keine Beförderungsmöglichkeiten für sie.

Dürfen die Christen in Istanbul nun eine Kirche bauen, wurden im Südosten in den letzten Jahren viele Kirchen enteignet. Im Juli 2017 berichtete World Watch Monitor, in den letzten fünf Jahren seien mindestens 100 seit der Antike bestehende syrisch-orthodoxe Grundstücke, Kirchen, Friedhöfe, und Klöster im Südosten der Türkei beschlagnahmt und auf den türkischen Staat übertragen worden, darunter zwei aktive Klöster und Grundstücke des Klosters Mor Gabriel aus dem 4. Jahrhundert.

Widerstand der Christen

Aber es regt sich Widerstand unter den assyrischen Christen, viele bekennen sich heute selbstbewusst und offensiv zu ihren assyrischen Wurzeln. Dies führt nicht selten zu tätlichen Übergriffen von AKP-Mitgliedern. Selbst im Parlament in Ankara kommt es immer wieder zu Handgreiflichkeiten aufgrund der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit von Abgeordneten. Ein Betroffener ist der Journalist und HDP-Abgeordnete Tuma Çelik.

Çelik lebte 25 Jahre in der Schweiz und wurde als Abgeordneter für die nordkurdische Provinz Mardin in die türkische Nationalversammlung gewählt. Kürzlich wurde er im Parlamentsgebäude in Ankara von dem AKP-Abgeordneten Salih Cora auf dem Weg zur Fraktionssitzung tätlich angegriffen. Die HDP-Abgeordnete und Menschenrechtsvertreterin Başaran sieht in dem Verhalten der AKP/MHP-Koalition eine Ermutigung der Polizei und nationalistischen Bevölkerung, gegen Andersdenkende vorzugehen.

Die Stadt Mardin an der syrischen Grenze war einst eine Hochburg der Aramäer. Viele Aramäer haben wegen der Christenverfolgungen im Zuge des Genozids an den Armeniern 1915 ihre Häuser verlassen und sind ins Ausland geflohen. Die türkischen Regierungen beschlagnahmten ihre leerstehenden Kirchen, Felder und Häuser.

In Mardin leben noch ca. 100 christliche Familien, überwiegend alte Menschen. Vor einigen Jahren lebten noch tausende aramäische Familien in Mardin. Über Erdogans Politik mag keiner sprechen. Die Angst regiert. Der Pfarrer der Gemeinde, Gabriyel Akyüz antwortet auf entsprechende Fragen zwar vorsichtig, aber eindeutig: "Das ist ein politisches Thema. Wir beschäftigen uns nicht mit politischen Themen, sondern mit geistlichen. Diese Welt ist vergänglich. Auch ein Sultanat geht vorüber."

Bis vor Kurzem gab es in Mardin noch eine christliche Co-Bürgermeisterin - die einzige in der Türkei. Sie wurde nach dem gescheiterten Militärputsch von der Regierung Erdogan abgesetzt.