Warum man Burn-out nicht als Modeerscheinung abtun sollte

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Kritik an einer Aufklärungsinitiative der Daimler und Benz Stiftung

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"Dieser Zug ist verspätet wegen eines Unfalls mit Personenschaden." Für Bahnreisende gehört diese Mitteilung leider zum Alltag. Hinter der sauberen Formulierung verbirgt sich meistens ein Schienensuizid: Ein Mensch hielt sein Leben für sinnlos, für gescheitert, es geht nie wieder bergauf, ruiniert und dazu kommen vielleicht noch erdrückende Schuldgefühle.

Wahrscheinlich war dieser Mensch ein Mann, denn Männer bringen sich in Deutschland rund dreimal so häufig selbst um. Dafür wählen sie in der Regel harte, man möchte fast sagen "männliche" Methoden: sich erschießen, sofern eine Waffe verfügbar ist, sich erhängen, von der Brücke oder dem Hochhaus stürzen - oder eben vor einen Zug.

Es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen den Methoden und der Suizidrate. Frauen versuchen nämlich öfter als Männer, ihr Leben zu beenden. Sie wählen dafür aber eher "unmännliche" Methoden wie eine Überdosis Tabletten oder das Aufschneiden der Pulsschlagadern. Die Wahrscheinlichkeit, diese Versuche zu überleben, ist viel höher.

Mehr Bewusstsein für psychische Störungen

Seit vielen Jahren nun gab es immer wieder Initiativen dafür, Bewusstsein für psychische Störungen zu erzeugen: Es trifft mehr, als man denkt. Und Hilfe ist möglich. Bisweilen wurden Prominente dafür eingespannt, das "Stigma" solcher Probleme abzubauen. Oder sie waren schlicht selbst betroffen und ihr Zustand ließ sich nicht mehr länger vor der Öffentlichkeit verbergen.

Die Medienberichterstattung ist aber nicht immer geglückt. Bisweilen ist sie gar ein Griff ins Klo und scheint sie humanitäre Errungenschaften der Zivilgesellschaft ungeschehen machen zu wollen. Ein Beispiel hierfür ist der Artikel "Die Krankheitskranken" von Jan Schweizer, immerhin Redakteur im Ressort Wissen der "Zeit". Darin erfahren wir gleich am Anfang: "Hypochonder belasten unser Gesundheitssystem."

In diffamierender wie stigmatisierender Weise geht es dann weiter: "Gesund, aber sorgenvoll zum Arzt zu gehen grassiert wie ein Virus." Da ist dem Zeit-Redakteur wohl entgangen, dass psychisches Wohlbefinden laut der berühmten WHO-Definition von Gesundheit in den Bereich der Medizin gehört. Das ist ja auch erst seit 1946 beschlossene Sache.

Angstmacher in den Medien

Dabei ist diese Kritik von Seiten der Medien überhaupt nicht ehrlich. Immerhin verunsichern sie ihr Publikum permanent mit Gesundheitsmeldungen: Schon kleinste Mengen Alkohol seien gefährlich; zu wenig Sport ungesund, zu viel aber auch; bitte sitzen Sie nicht länger als 30 Minuten am Stück, denn das könnte ihr Leben verkürzen.

Dass es in vielen solcher Fälle um kleine statistische Risiken geht, die im Einzelfall wenig aussagen, wird der Öffentlichkeit dabei nur selten vermittelt. Vielleicht haben es die Journalisten auch selbst nicht verstanden. Hauptsache Hypochonder-Bashing. Dabei gibt es Bevölkerungsgruppen, die zu selten oder zu spät zum Arzt gehen, schlicht weil sie Krankheitssymptome nicht ernst nehmen. Und die sterben dann früher.

Nun hat die Daimler und Benz Stiftung einige Seiten der Januarausgabe von Gehirn&Geist gekauft, einer Zeitschrift für Psychologie und Hirnforschung. In vier Artikeln geht es um die "Seele im Netz: Die psychologischen Folgen der Digitalisierung", wobei nur einer der vier von einem Psychiater/Psychotherapeuten geschrieben wurde.

Den Auftakt der Aufklärungsinitiative bildete der Artikel "Der Tanz ums Ich macht nicht glücklich" von Jens Bergmann. Der Autor ist stellvertretender Chefredakteur von "Brand eins" und veröffentlichte 2015 auch das thematisch verwandte Buch: "Der Tanz ums Ich: Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie." Bergmann vergleicht damit die historische Neurasthenie (Nervenschwäche; nervliche Erschöpfung) mit dem heutigen Burn-out-Syndrom.

Scharlatane auf dem Psycho-Markt

An seiner Kritik ist sicher berechtigt, dass sich auch auf dem Markt der psychischen Gesundheit - wie auf jedem Markt - einige Scharlatane herumtreiben, die mit unseriösen Versprechen auf Rattenfang gehen und damit Geld verdienen. Er schüttet aber das Kind mit dem Bade aus, wo er Burn-out schlicht als Modeerscheinung abtut, und erweist vielen Patientinnen und Patienten einen Bärendienst. Dabei stimmt Vieles seiner Beschreibung nur halb oder ist sogar völlig falsch.

Eine beliebte Strategie solcher Artikel besteht darin, irgendein altes Zitat herzunehmen, in dem sich jemand über steigende Belastungen oder Beschleunigung in der Welt beschwert. Bergmann fand hier die an sich interessante Beschreibung Wilhelm Erbs, ein ehemaliger Direktor der Uniklinik Heidelberg:

Alles geht in Hast und Aufregung vor sich… Das Leben in den großen Städten ist immer raffinierter und unruhiger geworden. Die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit des Einzelnen im Kampf ums Dasein sind erheblich gestiegen und nur mit Aufbietung aller seiner geistigen Kräfte kann er sie befriedigen.

Wilhelm Erb, 1893

Ich habe auch irgendwo noch einen Aufsatz Hermann Hesses herumliegen, in dem der Schriftsteller über die Geschwindigkeit des Bahnfahrens klagt. Das wirkt aus heutiger Zeit vielleicht ulkig. Aber was sollen solche Zitate beweisen? Dass heutige Klagen nicht ernstzunehmen sind, weil Menschen immer schon klagten? Dann ist die Aussage Erbs aber eher ungeschickt, denn zu seiner Zeit war die zweite industrielle Revolution in vollem Gange.

Beschleunigung der Beschleunigung

Dabei ist es doch nicht nur so, dass die Beschleunigung wegen der Anpassung des Menschen an erst Maschinen- und heute Computerprozesse ein charakteristisches Merkmal der letzten 200 bis 250 Jahre der Menschheitsgeschichte ist. Vielmehr scheint die Beschleunigung selbst - heute getragen durch Digitalisierung und Globalisierung - zuzunehmen.

Wenn man diesen kurzen Zeitabschnitt mit den Jahrtausenden vergleicht, die uns biologisch für das Leben als Jäger und Sammler optimiert haben, dann ist es erst einmal eine plausible Hypothese, dass die Beschleunigung körperlich und psychisch etwas mit uns macht. Tatsächlich klagen immer mehr Menschen über Stress (Deutsche wollen weniger Stress - doch wie?) und wächst auch der Krankenstand der Berufstätigen immer weiter, was wiederum mit Stress in Zusammenhang gebracht wird (Die Deutschen sind kränker denn je).

Nun sind Jens Bergmann Psychologen ein Dorn im Auge, dann diese "erfinden" gerne mal Krankheiten, um sich anschließend daran zu bereichern. Voraussetzung dafür sei: "…[W]ährend auf körperliche Leiden meist bestimmte objektive festzustellende Indizien hinweisen…, ist dies bei psychischen Leiden nicht der Fall. Bislang sind alle Versuche gescheitert, eindeutige biologische Ursachen für sie zu finden…"

Zur Biologie psychischer Störungen

Nun stimmte ich der Schlussfolgerung mit Blick auf die biologischen Ursachen bekanntermaßen zu (Was heißt es, dass psychische Störungen Gehirnstörungen sind?). Bergmann sitzt hier aber dem Irrtum auf, nur was biologisch sei, sei objektiv messbar oder irgendwie real. Darin äußern sich gleich mehrere Denkfehler:

Erstens sind auch die Diagnosen somatischer Erkrankungen von Normen abhängig, eben dem, was Fachleute als Krankheit kategorisieren. "Krankheit" ist schlicht keine rein natürliche Kategorie. Zweitens können auch Fachleute biologische Befunde unterschiedlich interpretieren, etwa beim Begutachten von Röntgenbildern.

Drittens können Symptome psychischer Störungen durchaus "objektiv" - lieber sage ich: intersubjektiv - festgestellt werden, man denke an Schlafstörungen, Gewichtsverlust oder motorische Trägheit, um einmal drei der neun Kriterien einer Depressiven Störung zu nennen. Im diffuseren Bereich wie Suizidgedanken oder schweren Schuldgefühlen wird es zwar schwieriger, dennoch gibt es hier zuverlässige Messverfahren.