"Die Heimat ist der Clan"

Kriminelle Großfamilien: Eine breit angelegte Debatte in NRW nimmt sich eines brennenden Themas an

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Im Online-Themenforum der ambitionierten Ruhr-Konferenz (Slogan: "Menschen machen Metropole") findet sich das Anliegen "Kriminelle Clans" noch vor den Schlüsselthemen Arbeit, Bildung, Digitalisierung und Energie. Hier, in Nordrhein-Westfalen (NRW) mit dem Schwerpunkt Ruhrgebiet, hat sich die organisierte Kriminalität in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Problem erster Ordnung ausgewachsen.

Am Mittwoch stand ein Symposium in Essen zu dem Thema unter dem Motto: "360°-Maßnahmen gegen Clankriminalität". Und offenbarte zugleich, welches Potenzial dem verwandten Thema "Parallelgesellschaften" zukommt.

Gefährliches Selbstverständnis

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen klärt auf: "Wir sind nach Berlin und Bremen eine der Städte, die unter organisierter Kriminalität leiden, deren Täter als krimineller Teil einer Familienstruktur agieren." Die Stadt Essen handele gemeinsam mit der Polizei entschlossen gegen aggressives Auftreten im öffentlichen Raum, gegen illegale wirtschaftliche Aktivitäten und gegen jede Form von Parallelgesellschaft. In Jahrzehnten sei solch eine Parallelgesellschaft entstanden, "mit gefährlichem Selbstverständnis".

Libanesische Großfamilien sind damit vor allem angesprochen. Politik, Polizei und Zivilgesellschaft haben das Problem offenbar verschlafen, eine Einschätzung, die sich aus mehreren Stellungnahmen ableiten lässt. Immerhin geht es aktuell auch um 26 Tötungen oder versuchte Tötung. Die Tatvorwürfe umfassen allein aus den Jahren 2016 bis 2018 über 14.000 Delikte, darunter (ganz vorne) Gewaltstraftaten, Eigentums- und Betrugsvergehen. In NRW wurden in diesem kurzen Zeitraum konkret 6.449 Tatverdächtige ausgemacht, bei jeder fünften Person handelt es sich um eine Frau.

Essens Polizeichef sagt: "Die Problematik wurde 30 Jahre lang unterschätzt. Die Clans konnten sich strukturieren." So erklärte das Landeskriminalamt in einem Lagebild für 2016 bereits: "Die Polizei sieht sich mit kriminellen, ethnisch abgeschotteten Gruppierungen insbesondere im Bereich der Rauschgift-, Gewalt- und Straßenkriminalität konfrontiert." Die Dunkelziffer wird mit "sehr hoch" angesiedelt.

Solche "ethnisch abgeschotteten Gruppierungen" werden jetzt mitsamt ihren Strukturen und auswärtigen Verbindungen genau unter die Lupe genommen. Anders als im Fall der jüngst bekannt gewordenen Akteure und Netzwerke der italienischen Mafia - Telepolis berichtete - treten die libanesischen Familienverbände offen in Erscheinung und protzen mit Villen, "Carposing" (dicke Karren), Goldkettchen und Luxusuhren.

Dabei waren die Ersten in den 1980er Jahren als Flüchtlinge ins Ruhrgebiet gekommen; unter "Heimat" verstehen sie inzwischen jedoch etwas sehr Eigenes. Essens Polizeipräsident Frank Richter erläutert das so: "Die Heimat ist der Clan. Der deutsche Staat mit seiner Werteordnung wird verachtet. Er gilt als schwach."

Heimat als "Territorium"?

Rund 1.300 Tatverdächtige - kriminelle Mitglieder der Familienclans - zählt man aktuell in Essen, etliche in Recklinghausen, Gelsenkirchen, Duisburg, Dortmund und Bochum. Das "Territorium" werde "sehr offen und sehr aggressiv" reklamiert und verteidigt, Polizei und städtische Ordnungskräfte würden als Eindringlinge angesehen, erklärte Thomas Jungbluth vom Landeskriminalamt am Mittwoch auf der Tagung in Essen. Auch der Raum Köln rückt hier verstärkt mit in den Fokus.

Die Teilnehmer des Symposiums, unter ihnen Kriminologen, Polizisten, Theologen, Juristen, Islamwissenschaftler und kommunale Verantwortungsträger befassen sich aber nicht allein mit Kriminalitätsbekämpfung, sondern auch mit den Themen Prävention, Netzwerkarbeit und Ausstiegshilfe. "Wir wollen uns einen Rundum-Blick auf das Problem verschaffen", umschreibt NRW-Innenminister Herbert Reul das nächste Teilziel. Man strebe einen Blick hinter die Kulissen der Familienstrukturen an und möchte die Erfahrungen mit anderen Ländern austauschen.

Zu hoffen ist aber auch: Es sollte nicht um pauschale Verteufelung gehen. Jedoch, auch diese Unterscheidung nehmen die Konferenzteilnehmer offenbar ernst. Ziel sei es auch, zu helfen und Alternativen anzubieten. "Nicht alle Familienmitglieder sind kriminell", ist Reul überzeugt. Und setzt geflissentlich noch eins drauf: Ob jemand tatsächlich seine Rolex am Handgelenk gegen eine Ausbildung zum Busfahrer eintauschen wolle, müsse sich dann zeigen.

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