Granatbarsch: Ikone aus der Tiefe

Granat- oder Kaiserbarsch bzw. Orange roughy (Hoplostethus atlanticus), hier im Melbourne Museum. Bild Pengo / CC-BY-SA-3.0

Im Zwielicht der Tiefe - Teil 1

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Die internationalen Fischfangflotten fahnden seit Jahrzehnten auch in der Tiefsee nach Neuzugängen für den Speiseplan. Dabei werden mitunter Arten gefangen, die aufgrund der Besonderheiten ihrer Lebensweise eine industrielle Befischung nicht verkraften, jedoch - zumindest kurzfristig - einträgliche Geschäfte versprechen. Wie der Granatbarsch.

Es war Anfang der 1990er Jahre, als ein Frischfischtrawler im südafrikanischen Kapstadt anlegte und eine Ladung Granatbarsch entlud, die den Fischern beim Befischen der Flanken eines Seebergs eher zufällig ins Netz gegangen war. Die Eignerfirma des Trawlers, eigentlich auf den Export von Seehecht nach Europa spezialisiert, gab den Fisch an die gastronomischen Erlebnisbereiche der Hafengegend weiter, die damit vorbeischlendernde Tagestouristen beköstigten. Die werden diese Premiere des Granatbarschs in Südafrika als denkwürdiges Ereignis in Erinnerung behalten haben. Denn man hatte in der Aufregung vergessen, den Chefs am Grill mitzuteilen, beim Filetieren des Fischs die Haut zu entfernen, unter der sich die eingelagerten Öldrüsen des Granatbarschs befinden. Die Gäste quittierten diese Unterlassung mit Magenkrämpfen, Erbrechen oder akutem, ölig-orangefarbenem Durchfall.

Der Granatbarsch weist darüber hinaus weitere Besonderheiten auf. Bei Analysen der Otolithen (Ohrsteine) gefangener Exemplare, gewissermaßen eine Art Datenschreiber des Fischlebens, hatten Meeresbiologen in den 1990er Jahren festgestellt, dass die untersuchten Fische um den Ersten Weltkrieg herum geboren worden sein mussten. Und der älteste in Neuseeland gefangene Granatbarsch wurde ganz und gar auf 149 Lebensjahre taxiert. Im Falle von Granatbarschen und anderen Tiefseearten lehnt die kommerzielle Fischerei diese bei anderen Fischarten routinemäßig angewandte Methode zur Altersbestimmung als ungeeignet ab. Denn das Alter hat Auswirkungen auf den Schutzstatus der Fische. Und geradezu verkaufshemmend ist ein sich mit dem Ergebnis unausweichlich einstellendes Unbehagen: Vermutlich isst niemand gern Tiere, die "älter als die eigene Großmutter" sind. Eine weitere unangenehme Folge des hohen Alters: Granatbarsche sind bis zum Stehkragen mit Quecksilber angereichert.

Im englischen Sprachraum hatte man zur Ankurbelung des Konsums bisher als unverkäuflich geltender Arten zunächst an einer verkaufsfördernden Verbalkosmetik gearbeitet, um das Image dieser Fische aufzupolieren. Zwischen 1973 und 1981 ließ der US National Marine Fisheries Service (NMFS) für 8,5 Millionen US-Dollar feststellen, welche Namen "unternutzter" Fischarten geändert werden sollten. Die 1957 "Slimeheads" getaufte Fischfamilie wurde 1979 appetitanregender in "Orange roughy" umbenannt. Mit Erfolg: Die USA liegen bis heute beim Granatbarsch-Verzehr vorn.

Granatbarsche können eine Länge von 75 Zentimetern erreichen. Sie leben dicht an Seebergen und über Unterwasserplateaus im Atlantik, Pazifik und im Indischen Ozean, meist in Tiefen zwischen 450 und 1.800 Metern. Granatbarsche bilden oft dicht stehende Gruppen, die das Ziel einer spezialisierten Schleppnetzfischerei sind. Dabei gehen heute vorwiegend Fische zwischen 35 und 45 Zentimetern Länge ins Netz. Aufgrund der Geländegegebenheiten ist die Befischung oft schwierig, bei vielen Hols wird nur ein paar Minuten geschleppt. Totalverluste der Fanggeschirre samt Sensoren kommen häufiger vor. Oftmals werden dabei Kaltwasserkorallen in Mitleidenschaft gezogen.

Der Granatbarsch wird mit 20-40 Jahren spät geschlechtsreif und bringt als K-Stratege episodisch wenige, dafür jedoch konkurrenzfähige Nachkommen zur Welt, die auch Zeiten mit Nahrungsmangel überstehen können. Werden zu viele Alttiere weggefangen, ist der Fortbestand der Population schnell bedroht - ein in allen Weltmeeren wiederkehrendes Motiv. Der Granatbarsch ist durch seine Lebensweise nicht in der Lage, einem hohen Fischereidruck zu widerstehen, deshalb wird seine Befischung als ökologisch und wirtschaftlich fragwürdig angesehen. Doch ein Filetpreis von rund 50 EUR das Kilo im Einzelhandel ist ein nicht zu unterschätzender Anreiz, selbst wenn die Bestände absolut gesehen klein sind, ebenso wie das aktuelle Ausmaß der ihr nachstellenden Fischerei. Der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) sieht in den Gewässern der Europäischen Union momentan zum Beispiel keine Möglichkeit, den Granatbarsch nachhaltig zu befischen.

Exkurs: Hydrauliköl statt Omega-3

Eine Besonderheit vieler Tiefseefische ist die Zusammensetzung ihrer Lipide. Die Lipide von küstennah, bis in mittlere Tiefen lebenden Fischen bestehen zu über 90% aus Triglyceriden, die der Tiefseefische jedoch fast ausschließlich aus Wachsestern, die Flüssigwachse bilden. Wachsester sind mit langkettigen gesättigten oder einfach ungesättigten Alkoholen veresterte Fettsäuren. Meeresbiologen nehmen an, dass diese Wachse vor allem als Energiereserven dienen, die helfen, längere Hungerperioden zu überstehen.

Granatbarsche sind demnach keine gute Quelle für ungesättigte essenzielle Fettsäuren, wie sie in fettreichen Fischen wie Sardinen und Makrelen verestert in Form ihrer Triglyceride vorkommen. Doch ihre Öle sollen trotzdem Verwendung finden: In Neuseeland laufen Forschungen, die einen möglichen Einsatz von Granatbarsch-Öl als Hydrauliköl-Ersatz, hochdruckbeständiges Schmiermittel bis hin zu Kerzen und als Bestandteil von Shampoos und Poliermitteln untersuchen. Diese Öle werden als wertvolle Ergänzung der knappen Wachsesterquellen des Landes betrachtet, die hauptsächlich aus Walratöl und aus dem Öl der Jojoba-Pflanze stammen.

Theorie trifft Praxis

Granatbarsche kommen auch im Nordostatlantik vor. Ihre Bestände nordwestlich vor Irland wurden seit Beginn der 1990er Jahre befischt. Die Franzosen fingen 1992 hier über 3.000 Tonnen, danach gingen die Fänge zurück und stagnierten.

Im Jahr 2000 wurde dann ein Programm zur fördergeldgetriebenen Entwicklung einer irischen Granatbarsch-Fischerei aufgelegt. Zehn Trawler begannen nördlich und westlich der Porcupine-Bank mit ihrer Arbeit. Im ersten Jahr holte die Flotte eine Tonne nach oben, 2002 waren es schon mehr als 5.000 Tonnen. Das Programm sah in den ersten beiden Jahren die Anwesenheit von Beobachtern an Bord vor, die umfänglich Daten zu Fangzahlen- und Plätzen registrierten. Danach fuhren die Boote unbeobachtet, und die Skipper wurden zusehends geheimniskrämerisch, was Informationen über ihre produktivsten Fangplätze anbelangte. Sie fühlten sich durch die überraschende Einführung einer Fangquote vor den Kopf gestoßen - 2003 durften sie nur noch 300 Tonnen fangen. Sie hatten bis dahin geglaubt, in eine quotenfreie Fischerei investiert zu haben. Außerdem fingen sie gerade erst an, ihr investiertes Geld zu amortisieren. Aufgrund der hohen Kosten wurden die ersten Fangschiffe aus dem Geschäft gedrängt.

Ein anderer Fisch der Tiefe, dem die Fischereiindustrie nachstellt: der Nördliche Schleimkopf oder Alfonsino (Beryx decadactylus). Er kann bis zu einem Meter lang und fünf Kilogramm schwer werden und lebt vorzugsweise an den Kontinentalabhängen und über unterseeischen Bergen. Bild: Dr. Ken Sulak, USGS, gemeinfrei

Um das sich mit dem Auslaufen der Beobachterarbeit ständig vergrößernde Datenleck zu stopfen, ersann man ein neues Konzept, bei dem die Datenbeschaffung auf die "Etablierung produktiver Beziehungen mit Nutzern" setzte. Die sich zuspitzende Lage in der Granatbarsch-Fischerei ließ vermuten, dass jegliche Versuche zu Forschung und Management unvorhersehbare Reaktionen der Fischer provozieren würden. Stattdessen sollten nun persönliche Begegnungen zwischen Wissenschaftlern und Fischern das gegenseitige Verständnis fördern und in freiwilliger Zusammenarbeit münden.

Mit einem solchen Ansinnen bei den Fischern der Granatbarsch-Fangflotte vorstellig werdend, hatten die Forscher in der Folgezeit einen schweren Stand. Die anfänglich geradezu feindselig eingestellten Fischer unterzogen die Wissenschaftler einem rigiden Testprogramm, in dem Spaßverstehen und Glaubwürdigkeit geprüft wurden, auf den Docks, in der Bar und auf den tagelangen Trawlreisen. Als sich die Wissenschaftler schließlich in harter Arbeit das Vertrauen und den Respekt der Fischer erworben hatten und die Fischer ihrerseits anfingen zu glauben, dass sie mit ihrem Wissen und ihren Bedürfnissen das Management des Bestands beeinflussen könnten, war dieser zusammengebrochen. 2005 beschlossen die irischen Behörden ein zeitweiliges Verbot der Granatbarsch-Fischerei.

Weitere, gerade neu etablierte Granatbarsch-Fischereien erfuhren einen ähnlich jähen Niedergang, wie etwa die vor Namibia. "Boom and bust"-Zyklen sind ein sich seit Anbeginn der industriellen Fischerei wiederholendes Muster - auch in der Tiefsee-Fischerei, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend an Bedeutung gewann und die sich nach Definition der Welternährungsorganisation FAO in Tiefen zwischen 200 und 2.000 Metern abspielt.

So führte die Entdeckung großer Vorkommen des Panzerkopfs (Pentaceros wheeleri) an den Seebergen der Hawaii-Emperor-Kette 1967 zu einer massiven Befischung durch sowjetische und japanische Trawler. In den nächsten zehn Jahren wurden hier eine Million Tonnen des Fischs gefangen. Dessen Bestand wurde dabei derart in Mitleidenschaft gezogen, dass die Fischerei aufgegeben werden musste, da sie sich nicht mehr lohnte.

Zertifiziert vom MSC: Nachhaltig gefangener Granatbarsch aus Neuseeland?

Ähnliche Probleme gab es auch in Neuseeland, doch der Inselstaat gilt heute als Pionier in der Granatbarsch-Fischerei, 80% des weltweiten Fangs kommen von hier. Die intensive Befischung der 1980er und 1990er Jahre hatte die sieben neuseeländischen Bestände auf stellenweise weniger als 10% ihrer Originalgröße ausgedünnt. Anfang der 1990er Jahre wurde schnell klar, dass der Granatbarsch weit weniger produktiv ist, als zunächst angenommen worden war. Die Meereswissenschaftler mussten ihre Bestandsschätzungen nach unten korrigieren. Fangbeschränkungen und Totalverbote halfen bei der Erholung - so war Mitte der 1990er Jahre die jährlich erlaubte Fangmenge von 65.000 auf 25.000 Tonnen abgesenkt worden, um das Jahr 2000 waren es noch 17.000 Tonnen.

Rekonstruierte Granatbarsch-Fänge weltweit. Schwarze Linie: offiziell gemeldete Fänge. Bild: Sea around us

Die Deepwater Group, eine Lobbygruppe, die die Tiefsee-Fischereiindustrie Neuseelands vertritt, hatte zudem eine Zertifizierung der Granatbarsch-Fischerei nach den Nachhaltigkeits-Standards des Marine Stewardship Councils (MSC) angestoßen.

Die neuseeländische Industrie ihrerseits investierte auf dem Weg dahin in eine ausgefeilte Ausrüstung zur hydroakustischen Bestandsaufnahme, die verschiedene Fischarten in Unterwassergemeinschaften auseinanderhalten kann. In Kombination mit Videoübertragungen per Glasfaserkabel kann nun an Bord in Echtzeit gesehen werden, welche Fische genau beprobt werden. Mit den daraus abgeleiteten neuen Bestandsschätzungen entwickelten Meeresbiologen neue Wege, um die Dynamik von Granatbarsch-Populationen genauer modellieren und vorhersagen zu können. In der Folge wurden die Fanggrenzen auf etwa 4% der Bestandsgröße festgelegt, verglichen mit den 15-20% der Jahre zuvor.

Die Bestände sind seither wieder auf etwa 40% ihrer natürlichen Größe angestiegen. Für Fischereimanager liegen sie damit im grünen Bereich, bei dem ein Bestand langlebiger Fische mit vielen erwachsenen Tieren im fortpflanzungsfähigen Alter am produktivsten ist und einen maximal nachhaltigen Ertrag generiert.

Die Granatbarsch-Fischereien Neuseelands fangen jährlich jetzt zwischen 6.000 bis 7.000 Tonnen, mit einem Exportwert von über 33 Millionen US-Dollar. Seit Dezember 2016 sind rund 60% des Gesamtfangs mit dem Nachhaltigkeitssiegel des MSC versehen. Der Granatbarsch, einst ein Symbol für schlechtes Fischereimanagement, soll mit der MSC-Zertifizierung ein Aushängeschild für gutes Fischereimanagement werden. Bis zu welchem Grade die ergriffenen Maßnahmen den Bestand stabilisieren können, ist unter Meeresbiologen und Umweltschützern bis heute umstritten.

Die industrielle Befischung von Oreosomatidae oder kurz Oreos, zu denen der hier abgebildete Neocyttus helgae gehört, nahm Ende der 1970er Jahre an Fahrt auf. Bild: NOAA Photo Library, gemeinfrei

Der Granatbarsch ist nicht die einzige Art aus der Tiefe, die erst in jüngerer Zeit auf den menschlichen Speiseplan geriet und deren Konsum nun zusätzlich als nachhaltig abgesegnet wurde. Da wäre zum Beispiel der Neuseeländische Hoki (Macruronus novaezelandiae) zu nennen, von dem in Deutschland 2017 immerhin 8.400 Tonnen konsumiert wurden. Die MSC-Zertifizierung ist bereits von Umweltschutzgruppen kritisiert worden. Beim MSC hält man dagegen, dass sich der Bestand der betreffenden Hoki-Populationen seit der Zertifizierung im Jahre 2001 bis 2014 verdoppelt habe.

Zunehmend gerät das Geschäftsmodell des MSC in den Fokus der Kritik, doch die Zertifizierer präsentieren davon unbeeindruckt immer neue Arten aus der Tiefe, deren Fang sich als nachhaltig einstufen und damit besser vermarkten lässt, wie etwa 2017, als erstmalig Fischereien auf Atlantischen Rotbarsch (Sebastes fasciatus) und Schwarzen Heilbutt (Reinhardtius hippoglossoides) das MSC-Siegel angeheftet wurde.

Beide Arten werden schon länger befischt und hatten in der Vergangenheit ebenfalls mit den Folgen von Überfischung zu kämpfen. Der kommerziell vor allem in Asien interessante Schwarze Heilbutt wurde 1995 gar zum Auslöser des Buttkriegs zwischen Kanada und Spanien. Beide in Frage kommenden Bestände sollen sich durch jahrelanges, sorgfältiges Management nun wieder erholt haben.

In Erinnerung an António Rodrigues (1948 - 2018), Tiefseefischer.