Kinder unter Stress

Eine Studie zeigt: Kids in den Ballungsräumen kämpfen zunehmend mit chronischen Erkrankungen - und das liegt nicht nur an der Stadtluft

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Im neuen DAK-Gutachten "Kinder- und Jugendreport", das am Mittwoch in der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf vorgestellt wurde, steht der Nachwuchs im Fokus. Untersucht wurden die Behandlungsdaten von 110.000 Jungen und Mädchen aus Nordrhein-Westfalen. Mehr als jedes vierte Kind in NRW ist den Ergebnissen zufolge chronisch angeschlagen, leidet in der Fachsprache unter einer "chronisch-somatischen Erkrankung". Neurodermitis, Asthma, Heuschnupfen, entzündliche Darmerkrankungen liegen ganz vorn.

Die Universität Bielefeld mit ihrem Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement hat das Projekt wissenschaftlich betreut. Ausgewertet wurden die Daten von Kindern und Jugendlichen im Alter von bis zu 17 Jahren. Auffällig an den Resultaten ist nicht nur die Vielzahl an "normalen" Erkrankungen wie Grippe oder Bronchitis, sondern auch die steigende Anzahl an Rückenerkrankungen (frühe Muskel-Skelett-Probleme). Fast jedes sechste Kind kommt wenigstens einmal pro Jahr mit Rückenschmerzen zum Arzt, ab dem zwölften Lebensjahr nehmen die Fälle deutlich zu.

"Armut macht krank"

Die Studie befasst sich aber auch mit den Siedlungsstrukturen und bezieht sozio-ökonomische Faktoren ein. Im Vergleich sind die NRW-Kids kränker als im Bundesdurchschnitt: In NRW ist der besonders hohe Anteil an Stadt-Kindern ausschlaggebend. Diese Kids leiden auch häufiger unter Karies und teils extremem Übergewicht. Adipositas, so belegen die Vergleichszahlen, kommt in der Stadt 88 Prozent häufiger vor als auf dem Land.

Klaus Overdiek von der DAK-Landesvertretung NRW sagt: "Der Unterschied zwischen Stadt- und Landkindern ist viel größer als gedacht." In NRW leben rund drei Millionen Kinder. Acht von zehn wohnen in städtischen Gebieten mit mehr als 20.000 Einwohnern. Theodor Windhorst, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, nimmt die sozialen Bedingungen unter die Lupe und macht die Faktoren Bildung, Schulabschluss, Einkommen und Beruf der Eltern verantwortlich. Sein Resümee: "Armut macht krank." Es gebe einen Zusammenhang zwischen dem Einkommens- und Bildungsniveau der Eltern und der Gesundheit ihrer Kinder.

Grafik: DAK

Keine ganz neue Erkenntnis, jedoch: "Das System muss sich ändern", ergänzt Windhorst und mahnt dringend mehr Personal in den Jugendämtern, Präventivmaßnahmen und mehr Kinderärzte an. Sorge mache ihm auch die zunehmende Zahl geschlossener Schwimmbäder und fehlende Vorsorgeangebote in Schulen und Kitas. Man mag ergänzen: Mehr und mehr fehlen Schonräume in den Städten, wo Spielplätze lukrativen Wohnprojekten zum Opfer fallen.

Immer gestresst, dauernd müde?

Psychische Erkrankungen nehmen den Studienergebnissen zufolge ebenso zu wie sogenannt "unspezifische" Allergien - beides Probleme, die offenbar mit vermehrtem Stress zu tun haben. Viele Kinder und Jugendliche erleben Schule als Belastung, Mädchen mehr als Jungen.

Erst kürzlich machten bundesweite Studien zu diesem Themenkomplex Schlagzeilen. Das Forschungszentrum Demografischer Wandel der Frankfurt University of Applied Sciences etwa untersuchte unlängst das Schlafverhalten von Kindern und stellte einen Zusammenhang zu deren Gesundheitszustand und Stressempfinden her. Die Hälfte der Schüler fühlt sich tagsüber erschöpft, rund ein Drittel leidet unter Schlafstörungen.

Laut diesen Befunden gehören die "stark erhöhten Bildschirmzeiten", etwa von Smartphone, Tablet oder dem Fernseher, mit zu den Stresserzeugern. Die Teenager verbrächten auch spätabends viel Zeit mit Handy & Co. Unausgeschlafene und abgespannte Schüler stehen in der Konsequenz nicht nur vermehrt unter Stress, sondern zeigten sich auch anfälliger für Verletzungen.

Der Direktor der Kölner Uni-Kinderklinik und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Jörg Dötsch, findet die neuen DAK-Zahlen zwar etwas hoch gegriffen, lässt aber keinen Zweifel an den herrschenden Defiziten: Kinderkliniken seien überlastet und es fehle an ganzheitlichen Therapieangeboten. "Leider", so Dötsch, "ist unser Gesundheitssystem auf die gestiegene Zahl der chronisch kranken Kinder nicht eingestellt".