Organe - vom Geben und Nehmen

Der Bedarf an Organen ist nach wie vor höher als das Angebot. Die Spendenbereitschaft stagniert. Ein Lösungsvorschlag

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Das Problem

Transplantierte Organe können Leben retten. Dass wir heute nahezu jedes Organ außer dem Gehirn ersetzen können, ist eine bedeutende Leistung der modernen Medizin und für nicht wenige Betroffene eine Verheißung.

Das Problem ist nur: Die Nachfrage nach Organen übertrifft ständig das Angebot. Jahrelang (Originaldaten von Eurotransplant) war die Spendenbereitschaft in Deutschland gering und eher sogar rückläufig. Im vergangenen Jahr ist sie zwar gestiegen, aber noch immer kommen auf einen Organspender rund zehn Kranke auf der Warteliste. Dass den meisten Spendern mehrere Organe entnommen werden können, bessert die Quote immerhin auf etwa 1:4. Trotzdem sterben viele Menschen an ihren Krankheiten, ehe sie das möglicherweise rettende Organ erhalten.

Um diese Kluft zu verringern, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jüngst vorgeschlagen, von der in Deutschland geltenden Entscheidungsregelung umzusteigen auf die Widerspruchsregelung, die in vielen anderen Ländern gilt. Organspender würde dann nach festgestelltem Hirntod nicht mehr nur derjenige, der sich zuvor explizit dazu bereiterklärt hat, sondern jeder, der nicht ausdrücklich widersprochen hat.

Gegen diesen Widerspruch erhebt sich wiederum Widerspruch. Zum einen aus guten rechtsphilosophischen Gründen, unterstellt diese Regelung doch, der Körper eines Toten falle im Regelfall automatisch als Verfügungsmasse an die Gesellschaft bzw. den Staat. Warum sollte für meinen Körper gelten, was für meine Bibliothek eindeutig nicht gilt?

Schlechte Argumente

Zum anderen aber gibt es in der Bevölkerung ein breites Unbehagen gegen das Organspenden, das sich beispielsweise jederzeit in den Kommentarspalten zum Thema (etwa hier) artikuliert. Und da gibt es schlechte und gute Argumente. Die schlechten kann man in vollständiger Sammlung in diesem ärgerlichen Text des umstrittenen "Patientenanwalts" Georg Meinecke nachlesen, der mir vor einigen Tagen in die Hände fiel. "Ärgerlich" allein schon deshalb, weil nach wenigen Sätzen klar wird, dass der Titel lügt: "Organspende - Ja oder nein?"

Um "Ja" geht es an keiner Stelle. Sondern um ein Sperrfeuer von Unterstellungen, Verleumdungen, Fehlinformationen, Irrtümern und Ammenmärchen (hier eine hilfreiche Widerlegung Satz für Satz). Nein, Haare können nicht innerhalb von Stunden weiß werden. Nein, ein transplantiertes Organ verändert nicht die Persönlichkeit des Empfängers. Nein, das metaphorisch so genannte "Bauchhirn" denkt nicht. Und nein, Hirntote empfinden keine Schmerzen, und sie stehen auch nicht auf und werden wieder gesund.

Vor allem an der Hirntoddefinition entzündet sich das verbreitete Unbehagen. Als Hirntod gilt in den deutschsprachigen Ländern (anders als z.B. in den USA) der Ganzhirntod - also nicht nur der Ausfall der "Bewusstsein" tragenden Großhirnrinde oder des alle autonomen Funktionen lenkenden Stammhirns, sondern von sämtlichem Nervengewebe, das sich im Schädel befindet. Und "Ausfall" bedeutet wiederum nicht nur eine Funkstille im EEG, sondern eine unumkehrbare Schädigung: Die Durchblutung bricht zusammen, was mit Ultraschallangiographie oder Bildgebung überprüft wird; alle im Gehirn ausgelösten Reflexe - etwa Reaktionen auf starke Schmerzen - fallen aus; die spontane Atmung erlischt. In diesen Zustand fangen die Zellen des Gehirns bereits an, sich zu zersetzen. Es gibt kein Zurück. Das Bewusstsein ist erloschen; das, was man in vorwissenschaftlicher Sprache als "Seele" bezeichnen würde, hat den Körper endgültig und unwiederbringlich verlassen.

Obgleich sie unausrottbar von Transplantationsgegner bemüht werden - sozusagen metaphorische ebenso wie tatsächliche Zombies -, gibt es die Fälle von "überlebenden Hirntoten" nicht. Die Diagnose muss von mindestens zwei unabhängigen Ärzten im Abstand von mindestens zwölf Stunden (bei sekundären Hirnschädigungen sogar 72 Stunden) gestellt werden. Sie umfasst - wie oben angedeutet - ebenso die Untersuchung von Hirnstammreflexen (Lidschlussreflex, Pupillenreflex) wie auch die apparative Messung von Blutversorgung und elektrischer Aktivität des Gehirns. Zwar steht es jedem frei, den Ärzten in dieser Hinsicht nicht zu vertrauen. Aber ein echtes Argument ist so eine Unterstellung nicht.

Gute Argumente

Trotzdem gibt es auch nachvollziehbare Vorbehalte gegen eine Organentnahme. Der Hirntod ist ja nicht dasselbe wie der Tod des Menschen. Tod ist ein Zustand, aber Sterben ist ein Prozess, der zum Tode hinführt. Wie auf einer abschüssigen Rampe gleiten wir am Ende aus dem Leben hinaus, manche schneller, manche langsamer. Der Hirntod ist nur eine Landmarke auf dieser Rampe.

Zwar befindet sich das Gehirn in Auflösung, aber der gesamte übrige Körper - alles, was sich außerhalb des Schädels befindet - funktioniert noch, oder wird am Funktionieren gehalten. Das Herz schlägt noch - was es allerdings auch außerhalb des Körpers tun würde, was ich bei Froschherzen jahrelang in Praktikumsversuchen selbst beobachtet habe. Die Haut ist warm (meist durch Wärmedecken), die Verdauung läuft weiter. Das Immunsystem tut seinen Dienst, Haare und Nägel wachsen, und in einigen spektakulären Fällen ernährten sogar Schwangere ihr ungeborenes Kind.

Angehörige, die Abschied nehmen wollen, werden sich vielleicht schwer tun damit, den warmen Körper ihres Familienmitglieds als Leiche zu akzeptieren, die sie dem Messer überantworten sollen. Vielleicht möchten sie ihn in Ruhe bis zum Ende sterben lassen. Vielleicht möchte das mancher auch selbst. Die Organe sind dann freilich unbrauchbar - aber ist das ein legitimer Einwand?

Zumal es küchenphilosophischer Unfug ist, wenn einer behauptet: "Ich bin mein Gehirn, und wenn das tot ist, bin ich auch tot." Solch ein Gehirn-Körper-Dualismus ist seit Jahrzehnten en vogue und wird schon ebenso lange kritisiert. Ich weiß nicht, was ich bin - und anscheinend ist das Wörtchen "ich" dem Philosophen ja sowieso verboten -, aber sicherlich erschöpft sich dieses "Ich" nicht in dem Denkklumpen zwischen meinen Ohren. Für mich wie für jeden, der mich sieht, gehört meine körperliche Gestalt dazu, auch meine Stimme, die so einzigartig ist wie meine Fingerabdrücke. Auch meine Art zu gehen, mein Eigengeruch, mein Immunsystem. Und nicht zuletzt tragen auch die Mikroben in meinem Darm und das Nervensystem in meinen Eingeweiden maßgeblich dazu bei, wer und wie ich bin.

Das wäre also ein Einwand: Dass man die Würde des Sterbens achten sollte, indem man es ungestört bis zur völligen Auflösung des Ichs fortschreiten lässt.

Ein anderer Einwand sorgt sich um das Menschenbild, das hinter der Transplantationsmedizin steht. Schon vor gut sechzig Jahren untersuchte Günther Anders, einer der hellsichtigsten und sprachmächtigsten Philosophen des letzten Jahrhunderts, die "Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution", wie es im Untertitel seiner "Antiquiertheit des Menschen" heißt. Eine seiner Entdeckungen war die "prometheische Scham", welche der Mensch empfindet angesichts seiner eigenen Erzeugnissen, der Maschinen, die ihm, ihrem Schöpfer, in jeder Hinsicht überlegen sind: unsterblich, leistungsfähig ohne Schlaf, beliebig reproduzierbar. Diese Scham führe dazu, dass der Mensch sich die Maschine zum Vorbild nimmt.

Belege dafür, dass Anders recht hatte, gibt es täglich und überall, von der Typographie bis zum Tanz, von der Fabrikhalle bis zum Fitnessstudio. Und eben auch: in der Medizin. Wer ein kaputtes Organ durch ein Ersatzteil aus einem Schrottkörper austauscht, behandelt den Menschen als Maschine. Dazu mag der aus der Narkose erwachte Organempfänger erwidern: "Dass ich als Maschine behandelt werde, macht mich noch lange nicht zu einer solchen. Aber ich lebe." Ob er recht hat? Oder gilt auch hier das Thomas-Theorem?

Man kann sich fragen, ob nicht eine andere Medizin möglich und wünschenswert wäre. Eine, die den ganzen Menschen behandelt, und nicht bloß seine Teile. Eine, die vorbeugt, statt zu reparieren. Im Alten China, so las ich einst - und vielleicht stimmt es sogar -, bezahlten die Patienten den Arzt, solange sie gesund waren, und stellten die Zahlungen ein, wenn sie erkrankten. Mir ist das immer als sehr inspirierendes Modell erschienen.

Die Lösung

Offensichtlich ist es nicht möglich, ex cathedra zu entscheiden, ob es moralisch oder unmoralisch sei, Organe zu verpflanzen. Beide Standpunkte kann man vernünftigerweise einnehmen. Wie könnte angesichts dieser Ambivalenz eine gerechte, allgemein akzeptable Regelung der Organspende aussehen?

Natürlich kann man es mit einigen Forenkommentatoren halten, die offen fragen, wie bitte sich im real galoppierenden Kapitalismus die Erwartung rechtfertigt, dass ich ausgerechnet mich selbst kostenlos hergeben soll. Das ist ein durchaus folgerichtiger und berechtigter Gedanke. Nur bezweifle ich, dass es unsere Gesellschaft gerade menschlicher machen würde, wenn die Kommerzialisierung von Allem auch noch auf die Organe ausgedehnt würde.

Aber es gibt noch einen weiteren Gesichtspunkt, der ebenfalls bisweilen in den Kommentarspalten auftaucht: Nur, wer zu geben bereit ist, sollte auch nehmen dürfen. Das entspricht dem allgemeinen Moralempfinden (und ist folgerichtig eher antikapitalistisch). Jede und jeder kann, was die eigenen Organe anbetrifft, den einen oder den anderen Argumenten den Vorrang geben, ohne damit unmoralisch zu entscheiden. Aber wer die Organspende für sich ablehnt, sich aber bei Bedarf bereitwillig ein Organ einpflanzen ließe, den würde wohl jeder als Heuchler abstempeln.

Aus dieser Überlegung ergibt sich ein einfacher Vorschlag zur Regelung der Organspende: In einer zentralen Datei oder auf dem Chip der Krankenkarte lässt jeder Bürger seine Bereitschaft zur Organspende eintragen - und zwar mit dem Datum der Entscheidung! Das Anrecht jedes Einzelnen, im Bedarfsfall ein Organ zu erhalten, bestimmt sich dementsprechend aus dem Anteil an der seit dem 16. Geburtstag (oder welches Alter man für angemessen erachtet) oder der Einführung des Gesetzes (je nachdem, was später kommt) vergangenen Zeit, den der Betreffende selbst als Spender bereit gestanden hat.

Wer also mit Einführung des Gesetzes ein "Ja" eintragen lässt, liegt bei 100% und kommt oben auf die Warteliste. Wer hingegen erst, nachdem er die Diagnose einer Leberzirrhose erhalten hat, den Haken schnell noch auf "Ja" setzt, muss sich hinten anstellen. Die Menge der möglichen Organspender wäre immer gleich der Menge der möglichen Organempfänger. Der Rest wäre Schicksal.

Ein naheliegender Einwand ist der Datenschutz. Aber zum einen kommt er zu spät: Auf der elektronischen Gesundheitskarte steht ohnehin schon sehr viel. Und zum anderen sehe ich keinen Grund zur Geheimhaltung. Nach meinem Verständnis gehört es zur Reife und Verantwortlichkeit, seine Überzeugungen und Entscheidungen offen vertreten zu können.

Die Überflüssigkeit

Die Diskussion um die Organspende ist in vielerlei Hinsicht interessant, erfordert sie doch medizinische und neurobiologische Argumente ebenso wie philosophische und juristische. Sie zwingt zur Beschäftigung mit dem Thema "Tod" und berührt anthropologische Grundfragen.

Und doch drängt sich der Eindruck auf, dass sie nicht aus diesen guten Gründen geführt wird, sondern aus der Profilneurose eines Politikers mit markantem Profil. Weshalb? Wegen einer Zahl: 1200. Das ist die ziemlich konstant bleibende Anzahl von Menschen, an denen jedes Jahr der Hirntod festgestellt wird, die also als Organspender überhaupt infrage kämen. Sie liegt um nur noch rund ein Drittel über der letztjährigen Anzahl der Spender. Dass sich der Anteil der Spender, egal mit welcher Regelung, noch nennenswert steigern ließe, ist angesichts der starken Vorbehalte in der Bevölkerung unwahrscheinlich.

Es ist also schlicht falsch, wenn der Eindruck erweckt wird, es gäbe einen riesigen Fundus ungenutzter Organe, den gesetzliche Regeln erschließen müssten. Ein paar Hundert - mehr nicht. Die Wartezeit auf eine Niere würde sich von vier auf vielleicht drei Jahre verkürzen. Statt dass alle acht Stunden ein Patient stürbe, ehe er ein Organ erhält, wie uns dramatisch vorgerechnet wird (aufs Jahr gerechnet ist das z.B. nur ein Drittel der Verkehrstoten), würden daraus vielleicht zehn oder zwölf Stunden. Das soll kein Argument dagegen sein, die Sache zu diskutieren und vernünftig (s.o.) zu regeln. Aber es rückt die Debatte vielleicht ins Verhältnis.