Chemnitz - ein halbes Jahr nach den Ausschreitungen

Bild: Ulrich Heyden

Der Vorsitzende der Partei Die Linke in Chemnitz, Tim Detzner, analysiert im Rückblick die Ausschreitungen in der Stadt nach dem Tod des Deutsch-Kubaners Daniel H. im August 2018

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Bei einem Besuch in Chemnitz versuchte ich zu erfahren, wie die Lage nach den Demonstrationen und Ausschreitungen nach dem Tod des Deutsch-Kubaners Daniel H. im Sommer letzten Jahres jetzt ist. Ich sprach mit Alteingesessenen und Migranten, die erst seit zwei, drei Jahren in Chemnitz wohnen.1

Die Stimmung unter den Migranten ist gemischt. Einige traf ich in ihren Lebensmittelläden, die sie in der Stadt aufgemacht haben. Sie wirkten hoffnungsvoll. Ein junger Syrer erzählte mir aber, dass er immer noch von Rechten auf der Straße provoziert werde. Mehrere junge, in der Region geborene Frauen erzählten, sie hätten absolut nichts gegen Migranten. Und es sei gut, wenn die Flüchtlinge jetzt Arbeitsplätze im Pflegebereich bekommen.

Ein in Chemnitz geborener Lebensmittelverkäufer meinte, dass Migranten oft in seinem Geschäft klauen und im Sommer an der Kasse junge Frauen anfassen. Nein, an Pediga-Demonstrationen würde er sich nicht beteiligen, aber Pegida müsse auch das Recht haben, auf die Straße zu gehen.

Die Dörfer veröden

Der Rentner Uwe K. meint, die Proteste nach dem Tod von Daniel H. im August 2018 hätten auch etwas mit den Frustrationen der Bürger nach der Wende zu tun. Dörfer und Gemeinden im Erzgebirgs-Vorland stürben ab.

Alles, was etwas "weg" von den größeren Städten liegt, nagt entweder am Hungertuch oder blutet regelrecht aus, da gibt es keine Kinderkrippe, keinen Kindergarten oder Schule mehr, keine Arztstation, keinen Tante-Emma-Laden oder keinen Konsum und keine Kneipe - einfach nichts, und das knapp 30 Jahre nach den vollmundigen Versprechen Helmut Kohls in Sachen "blühende Landschaften". Was Du allenthalben findest, sind Industriebrachen oder Industrieruinen.

Allein in Chemnitz seien nach 1990 mehr als 20.000 Plattenbau-Wohnungen "vom Markt genommen" worden. In aller Regel seien in den liquidierten Wohnblocks vorher noch so genannte Sanierungs- oder Modernisierungsmaßnahmen von westdeutschen Firmengruppen vorgenommen worden. Ostdeutsche Firmen, die bei der Ausführung der Modernisierungsarbeiten eingesetzt wurden, seien oft nicht bezahlt worden, weshalb sie dann Pleite gingen.

Der über diese Entwicklung "aufgestaute Frust" breche sich "bei diesem oder jenem Anlass" Bahn oder erfährt noch eine den Ausbruch von Protest initiierende Überhöhung, sei es durch idiotischen Politikersprech oder die Wahnsinnstat eines "Ausländers". Das sei das Fundament der Stimmung der Menschen hier in einer einstmals von Maschinenbau par excellence geprägten Industrie-Region.

Mein Versuch mit verschiedenen Vereinen und Organisationen zu sprechen, die sich in Chemnitz um Flüchtlinge und Migranten kümmern, scheiterte. Obwohl ich mehrere Tage vor meiner Ankunft schriftlich um ein Treffen gebeten hatte, war Niemand dazu bereit. Medien von außerhalb trauen die meist vom Staat finanzierten Vereine offenbar nicht. Nur der 38 Jahre alte Stadtvorsitzende der Partei "Die Linke" Tim Detzner, war bereit zu einem Treffen und einem Interview.

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