Bedrohliche Verarmung in arabischen Ländern

Tahrirplatz, Kairo, 2011. Foto: Ramy Raoof/ CC BY 2.0

250 Millionen Menschen sind "arm, gefährdet und marginalisiert". Wie mit der Jugendarbeitslosigkeit umgegangen wird, bestimmt die Zukunft der Region

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Bessere Ausbildung heißt längst nicht oder nicht mehr, dass sie auch einen besseren Job garantiert. Diese Aussage gehört zu den bitteren Einsichten in einem Artikel über Aussichten in arabischen Ländern. Dort erklärt Khalid Abu-Ismail, ein UN-Experte für Armut, dass eine bessere Ausbildung und ein größeres Augenmerk für den Gesundheitszustand oder die Fitness anders als noch in früheren Jahrzehnten nicht unbedingt zu einem besseren Leben führen.

Es gibt zu wenig Jobs für qualifizierte Arbeit. Das ist der wunde Punkt.

Man kennt in den Industriestaaten die Aussage, wonach es die Jüngeren nicht mehr so gut haben werden wie die Älteren, zur Genüge. In den arabischen Ländern hat das aber seine eigenen Schärfen. Aus der Perspektive der "Entwicklungshilfe" heraus wurde die Ansicht gepflegt, dass sich alles zum Besseren verändern würde, wenn nur die Schul- und Berufsausbildung und die gesundheitliche Versorgung verbessert würden.

Dieser Ansatz ist zentral etwa für die UN-Berichte zum Arab Human Development - und der Ansatz allein ist schwierig genug, weil damit viele Umwälzungen verbunden sind. Man muss nur "Gleichstellung der Frauen" in diesen Wald der Schwierigkeiten hineinrufen und was dann an Lärm zurückkommt, ist nur eine Kostprobe.

Das gegenwärtige Fazit sieht aber so aus, dass Schulausbildung und bessere Gesundheitspolitik gar nicht reichen. Bei weitem nicht. Ein Musterbeispiel dafür wäre Tunesien, wo, man erinnert sich, die Aufstände von 2010/2011 mit einer Jugendarbeitslosigkeit zu tun hatten, vor der auch eine Universitätsausbildung nicht schützte.

"Hunderte Millionen gestresster, verzweifelter, verarmter Araber"

Früher wurden die Anstrengungen von Familien, die Zeit, Geld und Kraft in eine bessere Qualifikation und berufliches Fortkommen steckten, noch belohnt, erklärt Khalid Abu-Ismail. Jetzt habe viele die Panik ergriffen, wenn es um die Zukunft ihrer Kinder geht.

Es gebe Hunderte Millionen häufig gestresster, verzweifelter, verarmter Araber, die die Mehrheit in ihren Ländern stellen würden, aber aus Mangel an politischen Rechten ihre Situation nicht zum Gegenstand einer besseren politischen Gestaltung machen können.

Die politische Konsequenz daraus ist, dass viele Araber mehr und mehr an den Rand gedrängt werden und sich vom ökonomischen Mainstream entfremden - wie auch in vielen Fällen von den politischen und nationalen Institutionen ihres Landes.

Khalid Abu-Ismail

Khalid Abu-Ismail ist Chef der Abteilung Wirtschaftliche Entwicklung und Armut der UN-Kommission ESCWA (Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien). Zu Wort kommt er in dem Artikel: "Warum wir uns über die arabische Region Sorgen machen müssen", weil er Experte für einen neuen Ansatz zur Bestimmung der Armut ist. Der nennt sich schön zeitgeistig "multiperspektivisch". Grob gesagt verfolgt der Ansatz die vollkommen plausible Idee, dass die verbreitete 1,25 oder 1,9-Dollar-Maßgabe für tägliche Ausgaben nicht hinreichend ist, um die reale Bedeutung von Armut zu erfassen.

Für den Verfasser des genannten Artikels, Rami Khouri, ist der UN-Armutsexperte Abu-Ismail eine wichtige Quelle für die Lagebestimmung der arabischen Länder, die anders als die reichen Golfstaaten nicht aus üppigen Erdöl- und Erdgasvorkommen schöpfen können. Armut und die Angst vor Verarmung bestimmen im anderen "Arabien" das Bild. Dafür legt Khouri mit ein paar kräftigen Linien eine Skizze an, die nicht gerade optimistisch aussieht.

Anders als auf den Bildern über den üppigen arabischen Reichtum, die in die Welt hinausgehen, sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Sie ist das genaue Gegenteil. Die arabische Region zerbricht in Teile, sie löst sich auf in eine kleine Gruppe wohlhabender Leute, in eine schrumpfende Mittelklasse und in Massen armer, gefährdeter und marginalisierter Menschen, die nun etwa 2/3 aller Araber ausmachen. Ungefähr 250 Millionen Menschen, aus einer Gesamtbevölkerung von 400 Millionen Arabern, sind laut neuer Sozial- und Wirtschaftsforschungen arm, gefährdet und marginalisiert.

Rami Khouri

Die Gelbwesten, der "arabische Frühling" und Syrien

70 Prozent der arabischen Familien, die von unterschiedlichen Studien erfasst wurden, schaffen ihre monatlichen Aufwendungen kaum oder gar nicht, fasst Khouri zusammen. Für die Gelbwesten in Frankreich war genau diese Misere Anlass für die Protestbewegung, die niemand auf der Rechnung hatte.

So wie die politische Wucht der Gilets jaunes nicht dadurch vom Tisch ist, indem man sie schlichtweg mit "Ultranationalismus und Antisemitismus" gleichsetzt, ist auch die politische Wucht hinter den Protesten gegen Baschar al-Assad nicht mit Dschihadisten gleichzusetzen und schon dadurch vom Tisch.

Unübersehbar ist die Rolle Auswärtiger, die den Krieg, der sich aus den Protesten entwickelte, anheizten. Die Golfstaaten, Saudi-Arabien und Katar, die Türkei, in bedeutender Rolle die USA und EU-Länder wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland unternahmen immens viel, dass mehr und mehr Gewalttäter ins Land strömten und dass es Syrien über Sanktionen wirtschaftlich noch schlechter ging. Das Ziel war der Sturz des "mörderischen Regimes".

Das wurde mit breiter medialer Unterstützung als "alternativlose Politik" dargestellt und diese Ansicht wurde forciert vorgetragen. Abweichende distanzierte Überlegungen wurden schnell mit dem Etikett "Putinist" oder "Assadist" beklebt.

Davon abgesehen hatte der Aufstand aber auch andere Triebkräfe. Es ist einäugig, wenn man über die Verarmung breiter Schichten in Syrien hinwegsieht, die zusammen mit Dürren für ein politisches Klima sorgte, das einen Aufstand begünstigte. Die von Menschenmassen besuchten Proteste zu unterstützen - durch Äußerungen von Politikern und Medien - und das Aufruhrpotenzial anzufachen, lag dann aber auch im Interesse von Nachbarstaaten und Großmächten, an denen sich dann Politiker und Meinungsmacher anderer kleinerer Länder hängten.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien sind noch nicht zu Ende, die Interessen von außen sind weiterhin mächtig im Spiel. Das heißt unter anderem, dass vieles unter Propagandaverdacht steht oder nüchterner: dass Interessenspolitik die Darstellung von Fakten bestimmt. So eben auch die Darstellung der wirtschaftliche Lage in Syrien. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel, der aktuell in der Financial Times veröffentlicht ist und seine These schon in der rhetorischen Titelfrage ausfährt: "Kann Syrien mit Assad an der Macht wieder aufgebaut werden?"

"Schwierig bis unmöglich" lautet die für eine britische Finanzzeitung naheliegende Antwort und naheliegend sind auch die Kommentare, die zu diesem Text im Netz auftauchen: "Propaganda, Propaganda". Es ist offensichtlich, dass westliche Länder, vor allem diejenigen, die ihre Werte auf der Fahne herumtragen, öffentlich großen Druck machen, dass es Geld für den Wiederaufbau nur gibt, wenn Assad und seine Verbündeten Platz machen. Auch Trump erhebt solche Forderungen. In Washington gibt es darüber hinaus genügend einflussreiche Kreise, um den politischen Druck dahingehend zu steuern.

Die Frage, was Syrien und seine Verbündeten oder Unterstützer, wozu nicht nur Russland, sondern weiter im Hintergrund auch der Riese China gehört, zum Aufbau Syriens beisteuern wollen, wird im Artikel der Financial Times düster beantwortet. Beide Länder würden demnach nur begrenzt dazu beisteuern wollen.

Doch darum soll es hier nicht gehen. Es geht vielmehr um die wirtschaftliche Diagnose. Dazu schreibt die Financial Times:

Der Anteil der Syrer, die in extremer Armut leben - das sind diejenigen, die weniger als 1,9 Dollar am Tag zur Verfügung haben, hat sich seit 2011 auf 69 Prozent verdoppelt, laut einer von der UN unterstützten Studie. Ungefähr 56 Prozent der Wirtschaftsunternehmen ("businesses"), die von der Weltbank erfasst werden, wurden entweder geschlossen oder sind seit 2009 (!) aus Syrien weggegangen. Die Arbeitslosigkeit, die 2010 bei unter 10 Prozent lag, stieg raketengleich auf über 50 Prozent im Jahr 2015.

Financial Times

Von 2015 stammen die letzten verfügbaren Daten, schreibt die Financial Times. Man kann mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Mangel an Jobs mit ausreichendem Verdienst und mit Aussichten auf ein besseres Leben auch in Syrien ein Problem sein wird. Wiederaufbauarbeit wird es genug geben, aber wer wird sie bezahlen?

Das Problem wird vor allem Junge treffen.