Muss die Linke die EU verteidigen?

Vor der Europawahl wächst der Druck, damit sich die Linke endgültig überflüssig macht

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Der Streit zwischen Anhängern des wirtschaftsliberalen und natofreundlichen Politikers Toni Blair und des linken Sozialdemokraten Jeremy Corbyn schwelt schon lange in der britischen Labour Party. Dass nun sieben Labour-Abgeordnete die Partei verlassen haben, war daher keine Überraschung.

Überraschend war eher die Begründung. Da wird der Labor Party unter Corbyn nicht nur Antisemitismus, sondern auch Rassismus vorgeworfen. Der Vorwurf ist in sich nicht stimmig. Die dezidiert antizionistische Positionierung Corbyns könnte man aus einer gewissen Perspektive in die Nähe des Antisemitismus rücken. Aber was soll dann der Vorwurf des Rassismus?

Labour Party: Rassistisch und antisemitisch?

Es war ja gerade der berechtigte Kampf der Menschen, die sich gegen den Antisemitismus in all seinen Formen wehren, diesen eben nicht als eine Untergruppe des Rassismus zu definieren. Wenn nun die Ausgetretenen ihrer ehemaligen Partei nicht nur Antisemitismus, sondern auch Rassismus nachrufen, wird eher eine gewisse Beliebigkeit ihrer Vorwürfe deutlich.

Nach dem Motto, etwas wird schon hängen bleiben, werden dann die negativen Adjektive gleich inflationär benutzt. Wer sich über den Nahostdiskurs der Linken in Großbritannien informieren will, sollte zu dem von dem Sozialwissenschaftler Peter Ulrich herausgegebenen Buch Die Linke, Israel und Palästina greifen, in dem die Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland untersucht werden.

Dort wird deutlich, dass sich in Deutschland die Diskussion um die NS-Vernichtungspolitik dreht, während in der britischen Linken der Kolonialismus eine zentrale Rolle spielt. Ähnlich wie bei den von Sina Arnold untersuchten Antisemitismusdiskursen in der US-Linken sorgt diese Konzentration auf den Kolonialismus auch in Großbritannien oft dafür, dass der Antisemitismus in den Hintergrund gedrängt wird.

Auch aus dieser Perspektive macht der Vorwurf, die Labour Party sei rassistisch und antisemitisch gleichzeitig, keinen Sinn. Richtiger wäre die Kritik, dass die starke Konzentration auf den Kolonialismus- und Antirassismusdiskurs dafür gesorgt hat, dass Israel vor allem als Kolonialmacht gesehen und unterschlagen wird, dass es der Zufluchtsort der Überlebenden der Shoah war.

Corbyn - Schuld am Brexit?

Doch die Austritte aus der Labour Party zu diesem Zeitpunkt sind vor allem dem näher rückenden Brexit-Termin geschuldet. Wie vielen Brexit-Gegnern wird Corbyn vorgeworfen, er sei nicht entschieden genug für den Verbleib Großbritanniens in der EU eingetreten und sei damit direkt für die knappe Zustimmung zum Brexit verantwortlich.

Das unterstellt, dass es derart funktionieren würde, dass ein Parteivorsitzender die Direktiven vorgibt und Mitglieder und Wähler sie dann ausführen. Auch viele, die ein solches Politikmodell sonst mit Gründen ablehnen, träumen plötzlich davon, wenn es um den Brexit geht. Dabei hat der Publizist Wolfgang Michal in der Wochenzeitung Freitag gut herausgearbeitet, dass Corbyn eigentlich eine sehr kluge Position zum Brexit in seiner Rolle als Vorsitzender der Labour-Party einnimmt.

Michal stellt zunächst klar, dass ein beträchtlicher Teil der Parteimitglieder und Wähler vor allem aus der traditionellen Arbeiterklasse für den Brexit gestimmt haben. Die aber würden sich enttäuscht von der Party abwenden und womöglich rechte EU-Gegner wählen, wenn ein Labour-Vorsitzender dem Rat des Anti-Brexit-Lagers folgen würde.

Andererseits gibt es vor allem in den urbanen Zentren auch junge Labour-Anhänger, die sich sehr stark für den Verbleib des Landes in der EU einsetzen. Ihnen kommt Corbyn entgegen, indem er für einen weichen Brexit eintritt und einen No-Deal-Brexit verhindern will.

Es ist schon erstaunlich, dass Corbyn im Grunde vorgeworfen wird, dass er in der Brexit-Frage eine Haltung einnimmt, die die Partei nicht weiter spaltet. Das aber ist doch wohl die Aufgabe des Parteivorsitzenden.

Die Texte, die auch in vielen linken und linksliberalen Medien in Deutschland zum Brexit veröffentlicht werden, spiegeln die Wünsche und Befindlichkeiten der Schichten in der britischen Bevölkerung wider, die an der EU orientiert sind und daher den Brexit als Bedrohung ihrer Lebensplanungen sehen.

Die Motive der Brexit-Befürworter vor allem aus der britischen Arbeiterklasse werden in der Regel in den hiesigen Medien ebenso ignoriert, wie die Tatsache, dass es auch ein linkes Brexit-Bündnis gibt, dem Corbyn aber nicht angehört. Nun gibt es von linker Seite gute Argumente für und gegen einen Brexit.

Es gibt aber keinen Grund, diese Frage zur Schicksalsfrage insgesamt hochzustilisieren, denn eins ist auf jeden Fall sicher. Großbritannien wird nach dem 31.3.2019 weiterhin ein kapitalistisches Land sein, ob in der EU oder außerhalb.