Sozialdemokratie: Eine "ansehnliche Minorität"?

Zum Aufstieg der neuen Rechten in Europa und zu linken Versäumnissen. Eine Bestandsaufnahme politischer Mitschuld und Mitverantwortung

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Der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler notierte in seinem Tagebuch vom 16. Februar 1919, jenem ersten Wahltag nach Ende der Habsburger Monarchie, an dem Männer und Frauen gleichberechtigt teilnehmen durften, er habe nur deshalb sozialdemokratisch gewählt, um "so weit von rechts wegzurücken als möglich" und um "der sozialdemokratischen Partei eine ansehnliche Minorität zu verschaffen".

Einhundert Jahre später ist die Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich auf dem besten Weg, trotz kurzfristiger Umfrage-Strohfeuer, auch diese aufs Spiel zu setzen. In Österreich durch allmähliches Verblassen und, was viel schwerer wiegt, in Deutschland durch das Vorbeigehenlassen einer historischen Chance: Sie hat im Bundestag die in einer Demokratie wichtige und keinesfalls ehrenrührige Rolle, nämlich die stärkste Oppositionskraft im Parlament zu sein, zugunsten einer zweifelhaften Anteilhabe an der Macht aufgegeben und diesen Wirkungsbereich rechten Kräften überlassen.

Die Sozialdemokratie befindet sich seit Jahren in einer selbst verschuldeten Defensive. Erschöpft taumelt sie in etlichen Staaten der EU dahin, in Deutschland und Österreich werden ihre Lebenszeichen kontinuierlich schwächer. Unter anderen historischen Auspizien war dies bereits einmal, am Ende der Weimarer Republik und zum Ausgang der Ersten Republik Österreichs, der Fall. Vor dem Hintergrund der politischen Partikularismen der Weimarer und der unüberbrückbaren Antagonismen während der Ersten Republik wurde die Faschisierung auf den Weg gebracht.

Sozialdemokratie zwischen Phlegma und Agonie

Für den gegenwärtigen, immer globaler werdenden Rechtsruck, für die gesamtgesellschaftlichen Spaltungen und die sich anbahnende soziale Härte gibt es erneut politisch Schuldige und Mitverantwortliche. Im Zuge des an gefährlichen Absurditäten überreichen Politwechsels in den USA und durch Regimeverschärfungen an der östlichen und südlichen Peripherie Europas ist der Kontinent in eine neue Periode politischer Entropie eingetreten, in einen Zustand großer Unordnung.

Die Mitschuldigen an diesem Rechtsruck sind zunächst die ihn betreibenden politischen Akteure der Zentren, von Washington bis Rom und von Budapest bis Wien, um nur einige wenige zu nennen. Doch der Sozialdemokratie und den verbliebenen Linken Europas kann die erhebliche Mitverantwortung am Aufstieg der neuen Rechten nicht von den Schultern genommen werden.

In diesem Kontext sollte jedoch keine Rede von gleich verteilter Schuld sein. Die historische Schuld an der US-amerikanischen Katastrophe trägt nicht nur der sich wie ein Milliardärskönig gerierende Präsident, sondern vor allem auch die ihn bedingungslos unterstützenden, moralisch immer gebrechlicher werdenden Republikaner mit ihren plutokratischen Tendenzen. Diese riskieren aus Eigennutzen den Zerfall des nationalen und internationalen politischen Gefüges und setzen damit auch viele jener zerbrechlichen geostrategischen Konstellationen bedenkenlos aufs Spiel, deren Zusammenfügung Jahrzehnte dauern könnte.

Das "perfide Hinterfragen" der politischen Nachahmungstäter

Ab dem Präzedenzfall dieser 45. Präsidentschaft wissen alle künftigen US-Administrationen, wie unendlich weit sie in ihrer politischen Unverfrorenheit gehen können. Sie lernen täglich neue, brachial ausgeweitete Grenzbereiche kennen, national wie international. Viele autokratisch gesonnene Polit-Imitatoren weltweit blicken gebannt nach Amerika. Die USA sind das neue Testlabor, in dem die Zugfestigkeit, Elastizität und das Überdehnen demokratischer Strukturen live und am lebenden Organismus erprobt werden. Die zahlreichen europäischen Nachahmungstäter dieser Untugenden schalten zwar den jeweiligen Rechtsstaat nicht aus, wie das etwa in den Dreißigerjahren der Fall war, doch sie höhlen ihn sukzessive aus.

Die Perfidie des scheinbar neutralen "politischen Hinterfragens" beginnt um sich zu greifen. In Österreich etwa werden wichtige sozialpartnerschaftliche Diskurse "hinterfragt"; ebenso die Europäische Menschenrechtskonvention - doch es sind nicht bloß deren Auslegungsstandards, es sind deren Prämissen, die "hinterfragt" werden. Das macht die Sache bedenklich und gefährlich. Das war 1930 qualitativ nicht anders, als einer der späteren Parteigründer der ÖVP, neben anderen Christlichsozialen, im sog. Korneuburger Eid auf perfide Weise "nur" den österreichischen Parlamentarismus hinterfragte. Der amerikanische Präsident hinterfragt gegenwärtig "nur" die internationalen Handelsbeziehungen und Klimaabkommen, nicht mehr und nicht weniger.

Doch hinter dem scheinbar harmlosen Hinterfragen steht kein neutrales Fragen im Sinne des Strebens nach Erkenntnis, sondern klares politisches Wollen. Das macht neutral klingendes Fragen zu hinterlistigem Insinuieren, dessen Transportmittel den Namen Populismus trägt. Verkleidet im Sprachgewand des sanften Verbalradikalismus, lauert hinter dem scheinbar unschuldigen, beinahe freundlichen Fragen die hässliche Fratze der Stereotypisierungen, der sprachlichen Umwertungen und Verkürzungen. Hinter der glatten rhetorischen Politur gähnt der Politabgrund des konkreten politischen Willens, das Etablieren einer neuen vertikalen politischen Ordnung voranzutreiben.

Zusätzlich zur langfristigen Beschädigung des Politischen durch die Armut der sprachlichen Verkürzung wird auf Tagesbasis auch das subkutane Schüren niedriger Instinkte betrieben. Von christlichsozialen Grundtugenden scheint in Mitteleuropa wenig übrig geblieben zu sein; ähnlich verhält es sich mit den Werten der nach wie vor euphemistisch Grand Old Party genannten Republikaner.

Sozialdemokratie zwischen Mitschuld und Mitverantwortung

Dass trotz sinkender Flüchtlingszahlen die "Einzelfälle" von NS-Zitaten, Alltagsrassismen sowie hasstriefendes Bierzeltgegröle auf dem Vormarsch sind, ist bereits mit freiem Auge erkennbar. Diffuse Angst vor der "Überfremdung" wird selbst in Plenarsitzungen geschürt, damit die Stammtische des Ressentiments weiter Gesprächsstoff erhalten. Während von rechts die Homogenität der Volksgemeinschaft beschworen wird, erschallen von links kaum durchgerechnet wirkende, irreal anmutende soziale Versprechungen, die getrost unter "Vorwahlkampf mit dem Rücken zur Wand" verbucht werden können.

Die deutsche Sozialdemokratie täte gut daran, sich ihrer, die nationalen Grenzen transzendierenden Rolle in Europa bewusst zu sein. An ihr richteten und richten sich nach wie vor zahlreiche Schwesterparteien kleinerer Staaten aus, bewusst oder unbewusst. Doch anstelle diese Wirkung über die Staatsgrenzen hinaus zu forcieren, ist ihr glänzendes Licht einer in Europa vorausgehenden, richtungsweisenden SPD der trüben Grubenlampe jener Bergwerkskumpel gewichen, die in steigender Verzweiflung nach einem Weg an die Oberfläche suchen.

Was tun und wo sind heute die erschöpfte Sozialdemokratie und die verbliebenen Linken? Beziehen diese - in Deutschland, Österreich und Dänemark fest in weiblicher Hand - als gesellschaftliche Gegengewichte adäquat Stellung gegen die semantischen Auf- und Überladungen von rechts? Sind ihre Themen mittel- und langfristig relevant oder nur noch schwache, bisweilen selbstreferenzielle Lebenszeichen? Wie das Klopfen der von einer rechten Lawine überraschten Verschütteten, die ihre verbliebene Luft- und Echokammer kurzerhand zum neuen Zuhause erklären.

Aufgrund ihrer Passivität in Österreich und ihrer durch Partikularinteressen bedrohten Integrationskraft in Deutschland lädt die Sozialdemokratie heute erneut Mitschuld auf sich, indem sie weder geschlossen agiert noch mobilisiert, geschweige denn fasziniert. Charismatische Führungsriegen zu etablieren kostet Zeit, genau jene Ressource, die nach den kommenden EU- und Regionalwahlen im Mai knapp werden könnte. Dass eine Partei sich in der Opposition regenerieren kann, jedoch kaum als Juniorpartner innerhalb einer Regierung, sollte historisches Parteiwissen sein. Ebenso, dass zivilgesellschaftliche Ethik, die aus dem Schulterschluss der verbliebenen Humanisten erfolgen könnte, starke linke Zugkräfte benötigt, damit Egoismus und soziale Kälte nicht zur neuen Normaltemperatur in der digitalen Welt werden.

Das Schicksal der Sozialdemokratie wurde von Wilhelm Ellenbogen, einem der intellektuellen sozialdemokratischen Politiker der Ersten Republik Österreichs, in dessen Lebenserinnerungen 1940 treffend beschrieben: "Ein Drama, folgerichtig gebaut nach den aristotelischen Grundsätzen war dieses Parteischicksal: Exposition, Entwicklung, Peripetie, Katastrophe. Hinreißend in seiner Tendenz, spannend in seiner Entwicklung, erschütternd in seinem Untergang." Was bleibt, ist die Hoffnung, dass die gegenwärtige Tendenz zur "ansehnlichen Minorität" zu werden kein Vorbote des politischen Niedergangs sein möge.

Paul Sailer-Wlasits (geb. 1964) ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Zuletzt erschienen: "Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache" (2016) und "Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens" (2012).

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