Arbeit muss sich lohnen? Wer's glaubt, wird selig!

Eine Abrechnung mit der Ausbeutung von Praktikantinnen und Praktikanten

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"Arbeit muss sich lohnen!" Diesem Mantra begegnet man in der Arbeits- und Sozialpolitik. Dabei geht es insbesondere um den Unterschied zwischen Menschen, die Sozialleistungen beziehen, und denen, die die am schlechtesten bezahlten Tätigkeiten ausüben, Stichwort: Lohnabstandsgebot (Debatte um Hartz-IV-Sanktionen). Dass Arbeit sich lohnen muss, kann man dann aber in zwei Richtungen interpretieren: Entweder die Bezüge der Leistungsempfänger weiter kürzen oder die Arbeitenden besser bezahlen, Stichwort Mindestlohn.

Wenn das Mantra von Politikern gesungen wird, gibt es einige Gruppen, die wahrscheinlich nur zynisch schmunzeln können: Ich denke an die (Schein-)Selbstständigen, die sich den Bären von der Ich-AG aufbinden ließen und sich faktisch für einen Stundenlohn im einstelligen Euro-Bereich abarbeiten, an die Nomaden in der Wissenschaft, die von Zeitvertrag zu Zeitvertrag ziehen und oft nur einen Bruchteil ihrer Arbeitsstunden vergütet bekommen, und schließlich an die Berufsanfängerinnen und Anfänger, die sich mit häufig unbezahlten Praktika Berufserfahrung aneignen wollen oder müssen.

Ein aktuelles Zeugnis aus der letztgenannten Gruppe wird hier meine ehemalige Studentin Justine Kenzler ablegen, die zurzeit in Finnland ihren zweiten Master-Abschluss fertigstellt. Erst will ich aber selbst noch ein paar einleitende Erfahrungen aus meinem eigenen Leben aufschreiben.

Als ich als Wissenschaftler meine erste Gehaltsabrechnung bekam, hatte ich bereits Abiturzeugnis und Magisterurkunde in der Tasche, die nach Notenschnitt wohl zu den oberen zehn Prozent gehörten. Meine Augen glitten über die Zahlen des Briefs von der Verwaltung und spontan kam in mir der Gedanke auf: "Wo ist der Rest? Die haben doch etwas vergessen!"

Rund 1000 Euro netto waren es, wovon am Anfang etwa 40% für die Kaltmiete draufgingen, nach dem Umzug in die "Bundesstadt" Bonn eher 60%. Regelmäßig bezahlte ich auch Arbeitsmaterialien aus eigener Tasche, Bücher und später den ersten eigenen Laptop. Das war streng genommen nicht zwingend notwendig, machte das Arbeiten aber einfacher. Jedenfalls verstand ich die Welt nicht mehr. Ich arbeitete doch für Deutschland beziehungsweise seine Bundesländer, also für eines der reichsten Länder der Welt!

Das Problem war nicht so sehr meine Eingruppierung im öffentlichen Dienst, der Schlüssel TV-L E13 ist mir in Erinnerung, sondern die halbe Stelle: Damit speiste man in meiner Zeit die Promovierenden in aller Regel ab. Man bekam also grob 20 Wochenstunden bezahlt. Ein Professor sagte einmal so schön: "Ich erwarte von euch nicht 200% Einsatz, wie an anderen Orten, aber doch 150%." Die Pointe an der Sache: Die Prozentangaben bezogen sich nicht auf die bezahlten Stunden, sondern eine Vollzeitanstellung. Mit anderen Worten: Bezahlt wurden 20, erwartet eher 60 Arbeitsstunden. Und wenn es sein musste, dann hat man auch schon einmal eine Nacht durchgemacht.

Das Geld reichte zum Leben und auch noch für eine Monatskarte im öffentlichen Nahverkehr, aber kaum für große finanzielle Sprünge, noch nicht einmal zum Sparen. Meine jungen Kollegen und ich, wir waren Proletarier. Noch Jahre später würden manche sich, dann schon Mitte 20 und, wohlgemerkt, hervorragend qualifiziert und spezialisiert, ihren Jahresurlaub von den Eltern quersubventionieren lassen. Ich machte schlicht keinen, denn das war doch sowieso nur etwas für "Weicheier." Ich schrieb.

Jahre nach der Promotion begegneten mir Institutsleiter, die mir auf Rückfrage mit nicht geringem Stolz berichteten, ihren Mitarbeitern ganze Zweidrittel- oder gar Dreiviertelstellen zu bezahlen. Das galt aber im Wesentlichen in Bereichen mit starkem internationalen Konkurrenzdruck, wo man talentierte Leute aus dem Ausland nicht bloß mit einer halben Stelle abspeisen konnte, oder in Fächern, wo man in enger Konkurrenz zur Wirtschaft stand, wo also Uni-Absolventen mit hohen Einstiegsgehältern gelockt wurden. Sprich: Es war keine Nächstenliebe und auch ein Ausdruck des Arbeit-muss-sich-lohnen-Ethos, sondern schlicht ökonomische Notwendigkeit, um den Laden am Laufen zu halten.

Rückblickend wundere ich mich, dass sich ganze Generationen von jungen Wissenschaftlern, einschließlich mir, mit solchen miesen Arbeitsbedingungen abspeisen ließen und lassen. Über manche Forschergruppen hörte man sogar, dass Mitarbeiter Arbeitsmaterial wie etwa Bürostühle von zuhause mitbringen mussten, dass manche Professoren ihr Personal mit Halbjahresverträgen knebelten, die jeweils nur kurz vor Ende - oder auch mal erst danach - verlängert wurden oder, das Schlimmste, dass einem Doktoranden nach jahrelanger Forschung schlicht die Erstautorenschaft weggenommen wurde. Das ist so, als würde man vom Forscher zum Hilfswissenschaftler degradiert.

Vorbereitung auf den allgegenwärtigen Stress und die Mängelverwaltung im späteren Berufsleben

Die ungesündesten Arbeitsbedingungen herrschten dabei meiner Erfahrung nach in dem Bereich, in dem es gerade um die Gesundheit geht: In der Medizin beziehungsweise den Universitätskliniken. Zur Verteidigung der Ärztinnen und Ärzte sei angemerkt, dass die Menschen dort zwischen immer mehr Verwaltungsarbeit, Versorgung der Patienten und dann auch noch der fürs Institut notwendigen Spitzenforschung aufgerieben werden. Das landet dann auf dem Buckel der Schwächsten, eben meistens der Jüngsten, derjenigen am unteren Ende der Hierarchie.

Dass etwa Medizindoktoranden für stundenlange Laborarbeit keinen Cent bekommen und mitunter auch schon einmal eine Nachtschicht einlegen, ist gang und gäbe. Meiner Vermutung nach hat das ganze Medizinstudium sowieso als doppelte Agenda, die Menschen auf den allgegenwärtigen Stress und die Mängelverwaltung im späteren Berufsleben vorzubereiten. Oder anders formuliert: diejenigen auszusieben, die das nicht aushalten.

Als Patient würde ich jedenfalls vermeiden, in eine Uniklinik zu gehen, wo ich nur kann. Die Stelle an der Berliner Charité nicht anzunehmen, war dann auch eine meiner besten Entscheidungen. Was ich später von Kollegen darüber hörte und mir inzwischen von ehemaligen Studierenden berichtet wurde, die dort für Praktika waren, bestätigt meinen Eindruck.

Soweit aus dem eigenen Erfahrungsschatz. Rückblickend hätte man vieles anders machen können, mangelte es aber vor allem an einer organisierten Interessenvertretung. Wenn jeder und jede ein Einzelkämpfer ist, der vor allem seinen Lebenslauf für die nächste Bewerbungsrunde optimiert, dann haben die Mächtigen leichteres Spiel.

Dass es möglich ist, die Promovierenden ehrlich zu bezahlen, zeigen aber die Niederlande: Da gibt es einen eigenen Tarif, die P-Gruppe, mit im ersten Jahr rund 2.200, dann 2.600, 2.700 und schließlich im vierten Jahr, sofern das noch nicht den Sparmaßnahmen zum Opfer fiel, 2.800 Euro brutto. Und wie für alle anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beinhaltet das auch ein Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie andere Privilegien.

Anpassung und Opportunismus

Man kann sich natürlich für absolute Anpassung und Opportunismus entscheiden und vielleicht ist das der richtige Karriere-Move. Es wäre aber naiv anzunehmen, um es einmal im Marxschen Geiste zu formulieren, dass sich die schlechten Arbeitsbedingungen nicht auch auf die Qualität der Arbeit auswirken. Und letztlich tut man mit der unbezahlten Arbeit dann vor allem denen einen Gefallen, die sowieso schon die höchsten Gehälter haben: Die bekommen dann eben einen dicken Bonus oder mehr Spielgeld zum Anschaffen neuer Apparate.

Und natürlich gab es auch diejenigen, die gemütlich auf ihren Privilegien surften. Ich denke dabei an die Stipendiaten der Stiftungen verschiedener Couleur. Meistens waren das Kommilitonen aus bürgerlichem und akademischem Hause, während mir das Beziehen von Geld ohne Gegenleistung irgendwie suspekt vorkam. "Arbeit muss sich lohnen!", wurde mir in der Arbeiterfamilie eben eingetrichtert. Einer zweifachen Mutter, die einen ähnlichen Hintergrund hatte und auch ganz ähnlich dachte, musste ich dieses Denken ausreden, damit sie sich endlich für ein Stipendium bewarb und sie trotz der Mehrfachbelastung ihr Studium gut abschließen konnte.

So habe ich aber immerhin als Hilfskraft kennengelernt, wie der Laden Universität von innen funktioniert, während sich so mancher Kommilitone aus bürgerlichem Hause von dem "Büchergeld" seines Stipendiums schlicht sein Haschisch bezahlt hat. Alles hat seine guten und schlechten Seiten.

Dass sich solche Privilegien im Leben fortpflanzen, dass man in Zukunft bei Bewerbungen sagt: "Schau, der oder die hatte dieses oder jenes Stipendium", und daraus Rückschlüsse auf die Qualifikation zieht, wo sich dahinter schlicht Privilegien, Bequemlichkeit und eine Portion Glück verbergen können, war mir damals aber nicht bewusst. Gerade dann, wenn Menschen nicht wissen, wie sie auswählen sollen, orientieren sie sich gerne an solchen Statussymbolen.

Und so könnte es auch sein, dass bei Justine Kenzler, die ihren frustrierenden Erfahrungen im Folgenden Ausdruck verliehen hat, es manchmal schlicht am richtigen "Stallgeruch" gemangelt hat: Sie kommt wie ich aus einem eher akademikerfernen Umfeld. Doch lassen wir sie endlich zu Wort kommen.