Amri und Ben Ammar: Terror-Zwillinge mit Geheimdienstkontakt?

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Enthüllungen zum Weihnachtsmarkt-Anschlag: War ein Komplize Amris bei der Tat dabei? War er zugleich Agent Marokkos? Und wussten deutsche Behörden davon?

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Die Nachricht schlug bei den Opfern und Angehörigen des Anschlages vom Breitscheidplatz ein wie eine Bombe: Bilel Ben Ammar soll, wenn der Bericht des Magazins Focus stimmt, nicht nur bei der Tat am 19. Dezember 2016 dabei gewesen sein, sondern obendrein für einen marokkanischen Geheimdienst gearbeitet haben.

Ben Ammar und Anis Amri gehören zusammen wie Zwillinge. Damit wird nicht nur der Vorgang brisanter, dass Ben Ammar wenige Wochen nach dem Anschlag ohne Not aus der Untersuchungshaft abgeschoben wurde. Zugleich rückt auch die Frage näher, ob selbst der mutmaßliche Haupttäter Amri ebenfalls im Dienst eines Geheimdienstes stand.

Ob beide oder nur einer - jedenfalls wäre nun ein Geheimdienst direkt in den Anschlag verstrickt. Der so energische wie kopflose Widerspruch der deutschen Sicherheitsbehörden gegen dieses Szenario wirft eher Fragen an ihre eigene Adresse auf: Wissen sie über die Hintergründe Bescheid? Wussten sie, was nun die Öffentlichkeit weiß?

Bei der Sitzung des Amri-Untersuchungsausschusses im Deutschen Bundestag am Donnerstag war, was am nächsten Morgen durch die Medienlandschaft ging, noch kein Thema. Zumindest offen nicht. Lediglich zwei, drei vage gestellte Fragen zweier Abgeordneter der Opposition lassen im Rückblick erkennen, dass verschiedene Informationen bereits kursierten. Martina Renner (Linke) und Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) fragten den LKA-Präsidenten von Berlin, Christian Steiof, ob es Videos oder Fotos gebe, die Bilel Ben Ammar am Tatort Breitscheidplatz zeigten. Steiof verneinte, er kenne so etwas nicht.

Das Magazin Focus stellte den Artikel mit der Überschrift Regierung schob Amri-Vertrauten ab, um dessen Verwicklung in Attentat zu vertuschen am Freitagmorgen gegen 7:30 Uhr online.

Drei Informationen sind es, die den Bericht hochexplosiv machen. Erstens: Amris langjähriger Komplize Ben Ammar sei bei dem Anschlag dabei gewesen. Zweitens: Ben Ammar habe für einen marokkanischen Geheimdienst gearbeitet. Und drittens: Deutsche Behörden wussten davon.

Der Focus bezieht sich auf Ermittlungsunterlagen, die ihm vorlägen. Zusätzlich sei auf einem Videofilm zu sehen, wie der Fahrer des LKW, nach dem der zum Stehen kam, aussteigt und ein zweiter Mann mit einem Kantholz um sich schlägt, um dem Fahrer, mutmaßlich Amri, die Flucht zu ermöglichen. Bei dem Um-sich-Schlagenden soll es sich um Ben Ammar gehandelt haben. Der soll später noch den verwüsteten Weihnachtsmarkt fotografiert und das Foto verschickt haben.

Videobilder vom Tatgeschehen hat bisher nur das ARD-Magazin Kontraste im März 2018 gezeigt.

Die Sequenz ist 12 Sekunden lang. Bekannt ist, dass es eine längere Fassung gibt, auf der man den Fahrer aussteigen sieht. Offenbar existiert nun eine noch längere Fassung, was auch die Frage aufwirft, wie lang die Originalaufnahmen insgesamt sind und wo sie sich befinden.

Der Leiter des Landeskriminalamtes Berlin hatte vor dem Amri-Ausschuss des Abgeordnetenhauses im November 2018 erklärt, er kenne nur die Sequenz, die auch im Fernsehen gezeigt wurde. Allerdings wurde dem LKA kurz nach dem Anschlag die Federführung der Ermittlungen aus der Hand genommen. Sie liegen seither bei der Bundesanwaltschaft und dem Bundeskriminalamt.

Die Information, Ben Ammar sollte schon frühzeitig abgeschoben werden, stützt der Focus auf eine E-Mail an die Bundespolizei vom 28. Dezember 2016.

Bilel Ben Ammar

Bilel Ben Ammar ist schon länger im Fokus kritischer Beobachter des gesamten Komplexes zum Anschlag auf den Weihnachtsmarkt - auch bei den Opfern. Erst vor fünf Wochen haben sie bei einem Treffen mit Vertretern von Bundesinnenministerium, Bundeskriminalamt und Bundesverfassungsschutz nach der Personalie Ben Ammar gefragt.

Sie wollten wissen, warum der Verdächtige am 1. Februar 2017 abgeschoben wurde - und erhielten eine elektrisierende Antwort: Ben Ammar sei abgeschoben worden, wurde den Opfern von der Regierung erklärt, weil er "hochgefährlich" und eine Art "Amri 2" gewesen sei. In diese Darstellung würde die Focus-Story passen wie angegossen (vgl. "Secret first").

Die beiden Tunesier Anis Amri, Jahrgang 1992, und Bilel Ben Ammar, Jahrgang 1990, sollen im Juli 2015 gemeinsam und zusammen mit einem dritten Tunesier, Habib Selim, nach Deutschland eingereist sein. So steht es zumindest in einem Schriftstück des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), dem sogenannten Behördenzeugnis, das von BfV-Präsident Maaßen persönlich unterschrieben war und das den Bundestagsausschuss wiederholt beschäftigte.

Amri und Ben Ammar bewegten sich nicht nur in den gleichen Szenen, auch der Umgang der Sicherheitsbehörden mit ihnen war nahezu identisch. Beide erscheinen wie ein Zwilling oder ein Doppelkopf.

Amri hatte Kontakt zum Deutschen Islamkreis (DIK) in Hildesheim um den Prediger Abu Walaa, der mit dem IS (Islamischer Staat) in Verbindung gestanden haben soll. Abu Walaa steht zusammen mit vier Mitangeklagten zurzeit in Celle vor Gericht. Amri wurde verschont. Er wurde vom Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen als sogenannter "Nachrichtenmittler" geführt, dessen Telefon abgehört wurde, um Informationen über das Abu Walaa-Netzwerk zu erlangen. Das Verfahren lief unter dem Namen "Ventum".

Doch im Juni 2016 wurde Amri aus dem "Ventum"-Verfahren herausgenommen und beim LKA in Düsseldorf in ein eigenes Verfahren gesteckt, das den Namen "Ermittlungskommission Eiba" erhielt. Welchen Sinn und Zweck die "EK Eiba" verfolgte und was sich hinter dem Kommissionsnamen verbirgt, ist bis heute ungeklärt.

Parallel tauchte Bilel Ben Ammar im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren "Eisbär" auf, welches das Bundeskriminalamt (BKA) gegen drei tunesische Verdächtige führte. Wie Amri fungierte Ben Ammar dabei als "Nachrichtenmittler". Wie Amri wurde auch Ben Ammar aus den Ermittlungen herausgehalten. Und wie Amri aus der "EK Ventum" wurde schließlich auch Ben Ammar aus dem "Eisbär"-Verfahren herausgenommen und ein eigenes Verfahren zu ihm angelegt. Das wurde aber nicht mehr vom BKA, sondern vom LKA Berlin geführt. Warum und wieso ist genauso unbekannt wie selbst der Name des Verfahrens.

Schließlich soll, wie ein Vertreter des BKA im Amri-Ausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin zu Protokoll gab, der Generalstaatsanwalt von Berlin die Entscheidung getroffen haben, Ben Ammar nicht als Beschuldigten einzustufen.

Auch das deckt sich mit dem Umgang in Sachen Amri. Obwohl der als islamistischer Gefährder, als gewerbsmäßiger Drogenhändler sowie als Mittäter einer Messerstecherei vom LKA Berlin bearbeitet wurde, entschied der Generalstaatsanwalt von Berlin, keinen Haftbefehl gegen ihn zu beantragen.

"Nachgedacht: ja, Erkenntnisse: keine."

Im Zusammenhang mit Ben Ammar gibt es eine weitere seltsame Aktion. Die Polizei in Berlin hatte ermittelt, dass Ben Ammar Ende November 2015 Sprengstoff geliefert werden solle. Bei einer groß angelegten Razzia mit etwa 200 Beamten wurde aber kein Sprengstoff gefunden, sondern lediglich Kosmetika und Lebensmittel.

Fehlgeschlagene Razzien, bei denen zuvor Tatorte bereinigt wurden, kennt man im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex von V-Leuten in der rechtsextremen Szene, wie den Kopf des Thüringer Heimatschutzes, Tino Brandt.

Bilel Ben Ammar war praktisch mit Anis Amri zusammen vom ersten bis zum letzten Tag seines Aufenthaltes in Deutschland. Wenn der eine für einen Nachrichtendienst tätig war, dann der andere auch?

Zurück zum Amri-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, wo genau diese Frage ebenfalls gestellt wurde. Über sieben Stunden, bis nachts um 22:30 Uhr, wurde LKA-Chef Steiof vernommen. Dabei fragte ihn der CDU-Abgeordnete Klaus-Dieter Gröhler, ob er sich Gedanken gemacht habe oder Erkenntnisse besitze, dass Amri eine Quelle einer Sicherheitsbehörde gewesen sei. Steiofs Antwort: "Nachgedacht: ja, Erkenntnisse: keine."

Er wisse nur, dass das LKA Berlin weder beabsichtigt habe, Amri als Quelle zu führen, noch dass er als Quelle geführt wurde. Und dann fügte der LKA-Chef ungefragt an, Bilel Ben Ammar genauso nicht. Weiter führte er aus, was angesichts der aktuellen Nachrichtenlage ebenfalls in einem neuen Licht erscheint: Selbst wenn eine andere Behörde oder ein ausländischer Nachrichtendienst Amri als Quelle geführt hätte, hätte das keinen Einfluss auf das Handeln des LKA Berlin gehabt.

Wusste auch der LKA-Chef von Berlin, dass möglicherweise Presseveröffentlichungen bevorstanden, in denen der Amri-Freund Ben Ammar als Informant eines marokkanischen Nachrichtendienstes entlarvt wird?

Der CDU-Abgeordnete Gröhler stellte aber noch eine weitere Frage, die auf den Zwilling Amri-Ben Ammar und eine ungeklärte Polizeiaktion im Februar 2016 zielte. Am 18. Februar 2016 war Amri im Fernbus von Dortmund nach Berlin gereist. Die Berliner Polizei nahm ihn nach der Ankunft kurzzeitig fest. Das war nicht im Interesse des nordrhein-westfälischen LKA, das Amri überwachte.

Durch die Kontrolle der Berliner sei "der weitere Einsatz der VP gefährdet" gewesen, befanden die Düsseldorfer. Unklar ist bis heute, wer mit der VP (Vertrauensperson) gemeint war und ob Amri alleine nach Berlin gefahren war. Unterwegs soll er nämlich in Hannover einen "Bilel" getroffen haben.