Brexit-Abweichler mit neoliberaler zentristischer Agenda

"Die Unabhängigen", die sich als Firma, aber nicht als Partei gegründet haben, fordern ein zweites Referendum und spalten sowohl die Labour-Partei als auch die Tories

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Der Name ist so unoriginell wie das politische Programm der daran Beteiligten. "The Independent Group (TIG)" - "die Unabhängigen" ist der Name der neuesten Gruppierung im britischen Unterhaus. Stand Sonntagnachmittag haben sich elf Abgeordnete der TIG angeschlossen. Acht von ihnen kommen aus der Labour-Partei, drei von den Tories.

Ihr Projekt ist der "Zentrismus", dem sie mit der Gründung der TIG politischen Ausdruck verleihen wollen. Dieser "Zentrismus" speist sich einerseits aus der Ablehnung des Brexit und andererseits einer tiefen Gegnerschaft zu dem linken Reformprogramm, wie es von der derzeitigen Labour-Spitze rund um Jeremy Corbyn und John McDonnell propagiert wird. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die meisten TIG-Mitglieder im Jahr 2010 ins Parlament gewählt. Sie gehören damit zu einem Jahrgang von Abgeordneten die ideologisch durch die ehemaligen Premierminister Tony Blair und David Cameron geprägt worden sind.

Entsprechend befürworten sie die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, verteidigen den seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2007/8 in Großbritannien herrschenden Sparkurs und stehen für eine liberal-interventionistische Außenpolitik - befürworten also von NATO-Staaten durchgeführte Kriegseinsätze in Ländern wie Syrien. Die Mitglieder der TIG haben gleichzeitig große Sympathien für den Versuch der USA, die Maduro-Regierung in Venezuela zu stürzen.

Warnung vor einer "sozialistischen Republik"

Dafür werden sie belohnt. Weil sich die TIG als Firma und nicht als politische Partei konstituiert hat muss sie nicht offenlegen, von wem sie finanziert wird. Am Sonntag outete sich jedoch in der Online-Ausgabe des "Oberservers" der Unternehmer David Garrard als ein Finanzier der TIG. Garard war bislang ein Großspender für die Labour-Partei. Dies sei ihm nun nicht mehr möglich. Der Observer zitiert ihn wie folgt: "Schon zu Beginn an hatte ich Befürchtungen in Bezug auf die ultralinke marxistische/kommunistische Ausrichtung der Labour-Partei unter der Führung von Herrn Corbyn und seinen Unterstützern. Sie alle haben mich zu der Schlussfolgerung geführt, dass diese Politiker die Errichtung einer sozialistischen Republik in unserer Nation beabsichtigen."

Nichts liegt Corbyn ferner. Er plant einen keynsianistisch gefärbten, sozialdemokratischen Politikwechsel, welcher die Verstaatlichung einiger privatisierter Industrien wie etwa der Eisenbahnen, der Wasser- und Energieversorgung und der Post mit einschließt. Die in der City of London organisierten Großbanken würden von einer Corbyn-Regierung nicht angetastet werden. Allerdings könnte eine Corbyn-Regierung durchaus zu einer Radikalisierung in großen Teilen der britischen Bevölkerung führen, was Forderungen nach Verstaatlichungen großer Banken und Konzerne auf die Tagesordnung setzen könnte. Hier liegt die eigentliche Angst von Unternehmern wie David Garrard begründet.

Corbyns Programm hat jedenfalls durchaus Massenunterstützung. Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2017 errang Labour so viele Stimmen wie seit 1945 nicht mehr, auch wenn es für eine Regierungsbildung nicht ausreichte. Die Tories wurden dennoch massiv geschwächt und können seitdem nur noch als Minderheitsregierung, unterstützt von der nordirischen Rechtsaußenpartei DUP agieren. Ironischerweise liegt die derzeitige Handlungsunfähigkeit des britischen Unterhauses auch in der breiten Unterstützung für ein Programm, wie Corbyn es vorschlägt, begründet.

Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Unterhaus

Wären die Mitglieder der TIG davon überzeugt, mit ihrem "zentristischen" Ansatz in der Bevölkerung punkten zu können, würden sie sich in ihren jeweiligen Wahlkreisen Neuwahlen stellen. Dies wird auch von den betroffenen Ortsverbänden von Labour und den Tories eingefordert. Deren Sichtweise ist, dass die TIG-Abgeordneten auf der Grundlage sozialdemokratischer beziehungsweise konservativer Programme in das Unterhaus gewählt wurden und sie diese Plattformen nun verlassen haben. Entsprechend seien Nachwahlen in den betroffenen Wahlkreisen eine demokratiepolitische Notwendigkeit.

Doch die TIG schweigt dazu. Dabei hat die neue Fraktion eine Medienpräsenz, die mit ihrer Fraktionsgröße nicht zu rechtfertigen ist. TIG-Mitglieder verfassten in den vergangenen Tagen Kommentare für wichtige Tageszeitungen wie den "Guardian" und die Financial Times. Letztere bezeichnet die TIG in einem Leitartikel als "viel versprechendes Signal" für die britische Politik. Fast alle wichtigen Politikmagazine hatten in den vergangenen TIG-Mitglieder als Studiogäste, wo sie unter anderem ein zweites EU-Referendum fordern konnten. Nur wenn es um ihre eigenen Parlamentssitze geht, so scheint es, will die TIG das Volk nicht entscheiden lassen.

Tatsächlich geht es der TIG um eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb des derzeit sitzenden britischen Unterhauses, nicht um die Schaffung neuer Kräfteverhältnisse durch Neuwahlen. Mit ihren elf Abgeordneten hat die TIG einen mehr als die DUP. Gemeinsam mit den Liberaldemokraten ist die TIG nun die viertstärkste Kraft um Unterhaus.

Erste Avancen werden bereits gemacht. Am 21. Februar sagte der TIG-Abgeordnete Gavin Shuker der Huffington Post, man sei bereit, der Premierministerin Theresa May "im nationalen Interesse" den Rücken zu stärken, wenn diese einem zweiten EU-Referendum zustimme. Gleichzeitig machten verschiedene TIG-Abgeordnete im Rahmen ihrer Medienauftritte klar, dass mit ihnen eine Fortsetzung des derzeitigen Austeritätskurses machbar sei.

Damit treibt die TIG einerseits einen Keil in die Labour-Partei. Bis Sonntag sollen laut Medienberichten bereits 30 Stadträte, unter anderem aus dem Badeort Brighton, aus Labour ausgetreten und sich der TIG angeschlossen haben. Weitere könnten folgen. Vor allem für Politiker aus dem neoliberalen Parteiflügel kann die TIG dann eine Option sein, wenn sie sich mit Misstrauensanträgen aus ihren jeweiligen Ortsverbänden konfrontiert sehen. Viele derzeitge TIG-Mitglieder sind schon lange mit ihrer lokalen Parteibasis im Streit gelegen. Lokale Parteiaktivisten fordern immer stärker ein, dass "ihre" Abgeordneten sich zum Corbynschen Programm bekennen sollen. Doch das entspricht nicht der "zentristischen" Agenda.

Aber auch für die Spaltungsprozesse bei den Tories ist die TIG relevant. Sie kann ein Gegengewicht zu der nationalkonservativen, einen harten Brexit befürwortenden "European Research Group" (ERG) bilden. Die von dem konservativen Abgeordneten Jacob Rees-Mogg geführte ERG zählt rund 90 Abgeordnete in ihren Reihen und ist bei den Tories das Zentrum des Widerstandes gegen den so genannten "Backstop" in Nordirland. Die ERG ist ein Grund dafür, warum Premierministerin May das von ihr ausgehandelte Austrittsabkommen mit der EU nicht durch das Parlament bringt.

Ein anderer Grund ist jedoch, dass es fraktionsübergreifend keine Mehrheit für einen harten Brexit im Unterhaus gibt. Mit der TIG existiert nun möglicherweise ein Vehikel, um in den kommenden Tagen eine Verschiebung des Austrittstermins aus der EU, wenn nicht ein zweites Referendum zu ermöglichen. Seit Gründung der TIG haben die Angriffe von Gegnern eines "harten" Brexits innerhalb der Konservativen Partei auf die Premierministerin an Schärfe zugenommen. Bis zu 25 Regierungsmitglieder sollen mit ihrem Rücktritt gedroht haben, sollte es keine Verschiebung des Austrittstermins geben.

Premierministerin Theresa May hat auf die neue Lage inzwischen auf ihre Weise reagiert. Der eigentlich für den 27. Februar angesetzte Termin zur neuerlichen Abstimmung über das von ihr ausgehandelte EU-Austrittsabkommen wurde am Montag überraschend auf den zwölften März verschoben. Das ist ein Versuch, die Spannungen in ihrer eigenen Partei auszusitzen. Funktionieren wird das nicht. Schon längst ist die Frage nicht mehr, ob die Tories sich spalten, sondern wann und in welcher Form.