Warum so mutlos?

Die Krise der Politik hat auch etwas mit einer grundlegenden ökonomischen Fehlannahme zu tun, die eigentlich offensichtlich ist und der wir trotzdem seit Jahrzehnten aufsitzen - Ein Gastkommentar

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Obwohl immer mehr Menschen in Deutschland Angst vor dem sozialen Abstieg haben und die Politikverdrossenheit stetig steigt, tun sich die Parteien schwer mit einem Kurswechsel. Gibt es dann doch neue sozialpolitische Konzepte, wie sie nun die SPD aus höchster demoskopischer Not heraus entwickelt, werden diese prompt als unrealistisch abgetan. Beim Koalitionspartner war gar von der "Beerdigung der sozialen Marktwirtschaft" die Rede. Woher aber kommt diese tiefsitzende Angst quer durch alle Parteien, mit der eigenen Politik zum Sargnagel unserer Volkswirtschaft zu werden?

Ein Grund dafür dürfte sein, dass unser wichtigster ökonomischer Indikator schon lange nach unten zeigt: Seit Jahrzehnten sinken die Wachstumsraten - trotz unzähliger Versuche, den Trend umzukehren. Zwar hat es weiterhin Aufschwünge gegeben, doch selbst die fallen immer bescheidener aus. Zuwachsraten, die noch vor zwanzig Jahren bestenfalls als durchschnittlich durchgangen wären, gelten heute bereits als Hochkonjunktur.

Mittlerweile hat daher eine ganze Politikergeneration die Diagnose verinnerlicht, dass unserer Ökonomie auf lange Sicht die Kraft ausgeht. Die Maxime lautet: Wir dürfen nichts tun, was unser ohnehin schon schwächelndes Wachstum zusätzlich gefährden könnte.

Der gesamten Diagnose wie auch der Schlussfolgerung liegt allerdings eine - zumeist unausgesprochene - Annahme zugrunde, wie sich Volkswirtschaften typischerweise entwickeln, nämlich exponentiell. Das ist jenes sich beschleunigende Wachstum um konstante Prozentraten, das man vom Zinseszins kennt und dessen ungeheure Dynamik sich uns so schwer erschließt. Für exponentielles Wirtschaftswachstum reicht es nämlich nicht, wenn wir Jahr für Jahr mehr Kühlschränke, Autos und Häuser bauen als im Vorjahr, sondern dieser Zuwachs selbst muss ständig größer werden.

Das eigentlich Bemerkenswerte am exponentiellen Wirtschaftswachstum aber ist nicht seine Dynamik, sondern eine leicht überprüfbare Tatsache: Es existiert nicht. Obwohl es bis heute in Ökonomielehrbüchern als der selbstverständliche Normalfall gilt und die ökologische Wachstumskritik schon seit den 70er Jahren vor dessen Fortsetzung warnt, ist die Realität eine andere. Deutschland ist - genauso wie nahezu alle anderen entwickelten Volkswirtschaften weltweit - in den letzten sechzig Jahren "nur" linear gewachsen.

Konkret heißt das: Die Bundesrepublik legt heute real um die gleichen 300 Milliarden Euro pro Jahrzehnt zu wie noch zu Wirtschaftswunderzeiten. Unsere Zuwachsraten sinken einzig und alleine deshalb, weil das Ausgangsniveau, von dem aus wir wachsen, immer größer geworden ist. Unserer Ökonomie geht also überhaupt nicht die Kraft aus, unsere Wachstumsdynamik erlahmt auch nicht - nur ist die eben linear und nicht exponentiell.

Was abstrakt klingt, hat weitreichende Folgen. Regierungen von Kohl über Schröder bis Merkel haben soziale Einschnitte oftmals mit einem Versprechen verbunden: Wir müssen euch heute etwas zumuten, aber wir tun das, damit es morgen allen besser geht - weil wir dann wieder höheres Wachstum haben, das beispielsweise die Armut senkt und höhere Löhne für die breite Masse bringt. Das aber kam nie, konnte in einer linear wachsenden Volkswirtschaft gar nicht kommen. Zurück blieben nicht nur enttäuschte Wähler, sondern auch eine verunsicherte Politik, die angesichts einer vermeintlich fragilen Ökonomie lieber nichts riskiert, als das Falsche zu tun.

Höchste Zeit also, dass wir den "exponentiellen Irrtum" hinter uns lassen. Dann nämlich können wir mit unseren Versuchen aufhören, zu einem Normalzustand zurückkehren zu wollen, der nie existiert hat. Und wir können uns mit neuem ökonomischem Urvertrauen den großen Herausforderungen zuwenden, vor denen wir stehen.

Kay Bourcarde, 1978 geboren, studierte Politikwissenschaft sowie Öffentliches Recht und Psychologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Heute leitet er das Referat für Arbeits- und Beschäftigungspolitik, Jugendarbeitsmarktpolitik und Fachkräftesicherung im Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz. Karsten Herzmann, Jahrgang 1977, studierte Rechtswissenschaften und ist nun Verwaltungsrichter in Gießen. Die Autoren leiten ehrenamtlich das Institut für Wachstumsstudien, das sie gemeinsam mit anderen jungen Wissenschaftlern im Jahr 2003 in Gießen gegründet haben.

Gemeinsam veröffentlichten sie vergangenen Herbst im Wochenschau Verlag das Buch "Die Scheinkrise. Warum es uns besser geht als je zuvor und wir dennoch das Gefühl haben zu scheitern".