Vereint im Hass

Alte und neue Nazis nach der Wende 1990

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Am 3. Oktober 1990 gab es die Deutsche Demokratische Republik nicht mehr. Das Experiment "Sozialismus auf deutschem Boden" war endgültig gescheitert. Mit drastischen Folgen, nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger der DDR, sondern für die gesamte deutsche Gesellschaft. Drastische Folgen, die bis in die Gegenwart reichen.

Eine Folge davon ist die Gründung der AfD, deren Popularität vor allem in Ostdeutschland, mit der die extreme Rechte nun einen parlamentarischen Arm hat, beträchtlich ist. Was nicht heißen soll, dass alle AfD-Mitglieder, -Wähler, -Sympathisantinnen oder gar alle Abgeordneten Nazis wären. Aber es wurden zahlreiche Verbindungen von der AfD zur extremen Rechten nachgewiesen.

Erst kürzlich ging aus einem veröffentlichten Verfassungsschutzbericht (unter Punkt 7.1.1 Björn Höcke) hervor, dass der langjährige thüringische Landesvorsitzende der Partei, Björn Höcke, "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" identisch ist mit dem rechtsextremen Publizisten Langolf Ladig, der über beste Kontakte in die rechtsradikale Szene verfügt (vgl. Das tut man nicht, Herr Broder).

Selbstverständlich sind nicht alle AfD-Mitglieder Nazis, auch nicht die Abgeordneten. Aber diejenigen, die keine Nazis sind, wissen, dass sie mit Nazis in derselben Partei sind und tolerieren das.

Oft dient die AfD oder ihr politisch nahestehende Organisationen wie Pegida, "Merkel muss weg", etc. als Scharnier, als Bindeglied zwischen einfachen, unorganisierten Bürgerinnen und Bürgern und den Stiefelnazis. Auch das heißt nicht, dass alle, die sich an einer Demonstration beteiligen, wie z. B. im Spätsommer in Chemnitz, Nazis wären.

Aber die totale Abwesenheit von Berührungsängsten ist besorgniserregend und lässt sich möglicherweise ebenfalls durch das aus Sicht vieler Ex-DDR-Bürgerinnen und -Bürger unrühmliche Ende des Arbeiter- und Bauernstaates und dem darauf folgenden Identitätsverlust vieler Ostdeutscher erklären.

Der Widerstand formiert sich

Am 4. September 1989 fand in Leipzig die erste größere Demonstration statt. Der Unmut war über Jahre gewachsen, die von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleitete Periode von Glasnost und Perestroika zeigte ihre Wirkung auch im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. Die Demonstranten fühlten sich vielfach wenig bis gar nicht repräsentiert, ihre Vorstellungen deckten sich an vielen Punkten, z. B. Reisefreiheit, nicht mit denen der Parteiführung.

Sie fühlten sich bevormundet und drangsaliert und trauten sich immer offener, das auch in Form von öffentlichen Protesten zu manifestieren. Die eine oder der andere hatte wahrscheinlich auch schlicht den Wunsch nach etwas mehr Luxus und leichteren Zugriff auf Konsumgüter.

Prägend aber war das Bedürfnis nach mehr Mitbestimmung, nach Meinungs- und Pressefreiheit. Die Menschen mochten schlicht die seitenlangen Berichte über Plansollübererfüllung der LPG Otto Grotewohl oder des VEB-Kombinats Wilhelm Pieck im Zentralorgan der SED Neues Deutschland nicht mehr lesen. Sie wollten wissen, was in der Welt passiert und selbst entscheiden, was gut für sie ist.

Das Bild vom Westen war größtenteils durch Privatsender geprägt. Dass auch im Westen den Menschen die gebratenen Tauben nicht in den Mund flogen, dass zwar die Geschäfte voll und Konsumgüter aller Art zugänglich waren, viele Menschen sich diese aber schlicht nicht leisten konnten - auch nicht mit mehrjähriger Wartezeit - wussten die meisten nicht. Oder sie wollten es nicht wissen.

Am 9. Oktober 1989, zwei Tage nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR, kamen in Leipzig 70.000 Menschen zusammen. Am 17. Oktober 1989 wurde Erich Honecker, der seit 1971 als Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) der politisch mächtigste Mann in der DDR war, zum Rücktritt gezwungen. Egon Krenz übernahm zunächst das Ruder, später Hans Modrow, dem ein runder Tisch zur Seite gestellt wurde, der ihn kontrollieren sollte.

Am 4. November 1989 demonstrierten etwa 1 Million Menschen auf dem Alexanderplatz in Berlin. Am 7. November 1989 trat das Politbüro, der Arbeitsausschuss des Zentralkomitees der SED, zurück. Am Abend des 9. November 1989 verlas Günter Schabowski, Mitglied des Zentralkomitees der SED, vor laufenden Fernsehkameras, dass sofort und unverzüglich Privatreisen ins Ausland ohne Vorliegen von Voraussetzungen wie Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden könnten.

Die Genehmigungen sollten kurzfristig erteilt werden. Ausreisen könnten über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur Bundesrepublik erfolgen. Die Grenzsoldaten waren davon völlig überrascht und total überfordert. Sie öffneten einfach die Übergänge, ohne je einen konkreten Befehl dafür erhalten zu haben.

Damit waren die Weichen gestellt. Am 18. März 1990 wurde die Volkskammer neu gewählt, die "Allianz für Deutschland", ein Bündnis aus Ost-CDU sowie die beiden neugegründeten Parteien neugegründeten Parteien Deutsche Soziale Union (DSU) und Demokratischer Aufbruch (DA) erhielten 48,15% der abgegebenen Stimmen und damit 192 von 400 Parlamentssitzen. Da es nicht zur absoluten Mehrheit gereicht hatte, koalierte sie mit der Ost-SPD und den Ost-Liberalen. Ministerpräsident wurde Lothar de Maizière.

Im Juli 1990 nahm die Treuhandanstalt ihre Arbeit auf und leitete damit die große Katastrophe ein.

Ein gesellschaftliches Trauma

Viele Menschen, die die Staatsführung kritisiert hatten, die Machtkonzentration auf die SED, das Zentralkomitee und das Politbüro, die Besetzung aller maßgeblichen Führungspositionen, auch in den Betrieben, mit parteitreuen Männern - Frauen waren in Führungspositionen nur in absoluten Ausnahmen vertreten - wollten eine bessere DDR, keinen schlechteren Kapitalismus.

Freiheit ist ein abstrakter Begriff. Was nutzt Reisefreiheit, wenn Hartz IV nicht einmal ein Zugticket von Cottbus nach Berlin ermöglicht? Was nutzt betriebliche Mitbestimmung, wenn es keine Betriebe mehr gibt? Was nutzt freie Berufswahl, wenn die Zusatzkosten bei der Ausbildung der Kinder, Arbeitskleidung, Werkzeug, außerordentliche Bildungsmaßnahmen, schlicht nicht finanzierbar sind?

Was nutzt freie Berufswahl, wenn die Betriebe mit dem öffentlichen Personennahverkehr nicht erreichbar sind und Geld für ein Moped oder Auto nicht vorhanden ist? Was nutzt Lebenserfahrung, wenn sie nicht anerkannt wird?

Sehr bald wurde den Menschen vermittelt, in den vergangenen 40 Jahren alles falsch gemacht zu haben: Sie hatten das falsche politische System, die falsche Wirtschaftsweise, das falsche Bildungssystem, die falschen Abschlüsse, die falsche Ausbildung, die falschen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüsse, als Volkswirtschaft komplett versagt, die falschen Ideale, die falschen Vorbilder, die falsche Meinung, kurzum, sie waren falsch und hatten das völlig falsche Leben gelebt.

Das hatte für nicht wenige eine tiefgreifende Identitätskrise zur Folge. Ein gesellschaftliches Trauma, das bis heute tradiert wird, in neue Generationen, die die DDR nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennen.

Die Treuhand wickelte im großen Maßstab Betriebe ab, mit der Folge, dass es keine Arbeitsplätze mehr gab. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hatte den Menschen "blühende Landschaften" versprochen, es kam aber die absolute Ödnis. Mit den Betrieben verschwanden auch die Menschen, so dass ganze Regionen menschenleer wurden, bzw. nur die Alten zurückblieben.

Eine Entwicklung, die sehr begünstigte, dass alte und neue Nazis aus dem Westen sich in der Ex-DDR Gehöfte zulegten. Zumal sowohl die Grundstücks - als auch die Immobilienpreise im freien Fall waren. U.a. damit wurde der Grundstein dafür gelegt, dass sich alte und neue Nazis im Osten voll entfalten konnten. Heute wiederholt sich das, indem sich fundamental-islamische Organisationen mit viel Geld aus den arabischen Staaten im Osten einkaufen und ausbreiten.

Die Verwaltungen und Behörden, die Justiz, Polizei, etc. wurden nach der Wende modernisiert, die Leitungs- und Führungspositionen mit Westdeutschen besetzt. Ebenso waren die neuen politischen Strukturen durch "Besserwessis" geprägt. Die Gewerkschaften schickten Funktionäre aus dem Westen, die Parteien ebenso, der westdeutsche CDU-Politiker Kurt Biedenkopf z. B. wurde Ministerpräsident in Sachsen.

Statt aus den bestehenden Strukturen neue zu schaffen, dabei die Menschen vor Ort einzubeziehen und ihnen die Entscheidung zu überlassen, was und wie sie produzieren wollen, wurden Westbetriebe angesiedelt. Die ihre eigenen Manager und Abteilungsleiter mitbrachten.

Die soziale Lage für die angestammte Bevölkerung wurde immer katastrophaler, vor allem für Frauen, denen nicht nur die alten Arbeitsplätze, sondern auch die Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder genommen wurden, so dass sie auf dem neu entstehenden spärlichen Arbeitsmarkt nicht mithalten konnten. Die Folge war massenhafte Abwanderung.

Spiel mit der Sehnsucht nach der guten, alten DDR

Allmählich dämmerte den Menschen, wie wichtig soziale Sicherheit ist. Die hatte ihnen die DDR geboten. Anne Seeck spricht in ihrem Buch Das Begehren anders zu sein - Politische und kulturelle Dissidenz von 68 bis zum Scheitern der DDR von einem "kargen, aber relativ gerechten Fürsorgestaat":

Gerade die soziale Sicherheit ist es, an die viele ehemalige DDR-BürgerInnen sich heute erinnern, in Zeiten des Sozialabbaus und der Prekarisierung. Im Jahr 1992 meinten 70 Prozent der Ostdeutschen "Die SED hat uns alle betrogen", 2004 waren das nur noch 39 Prozent. Im Jahr 2004 stimmten dagegen 54 Prozent der Aussage zu: "Wir waren alle gleich und wir hatten Arbeit. Darum war es eine schöne Zeit". Und 58 Prozent meinten: "In dieser Zeit hat man oft das Gefühl gehabt, einer großen Gemeinschaft anzugehören, das war sehr schön".

Anne Seeck

Das bestätigt den Eindruck, dass in der Erzählung die DDR umso besser wird, je länger es sie nicht mehr gibt. Mit dieser positiven Legende steigt die Sehnsucht nach dieser guten, alten DDR, die es zwar in der Realität nie gab, zumindest nicht so, die aber nicht nur in der Phantasie existiert, sondern vor allem vor den aktuell real existierenden harten Lebensrealitäten zu einem unschätzbaren, leider unerreichbaren Wert wird.

Möglicherweise doch nicht so unerreichbar, denn fast scheint es, als bediene die "Alternative für Deutschland" (AfD) diese Sehnsucht nach der nicht nur guten, alten, sondern der sehr viel besseren DDR. Dem "kargen, aber relativ gerechten Fürsorgestaat", in der dieser seinen Bürgerinnen und Bürgern gewisse Grundsicherheiten bietet, Arbeit, ein Dach über dem Kopf, bescheidenen Luxus, Bildung und Ausbildung, und ihnen alles Ungemach, z.B. Flüchtlinge, die als Eindringlinge betrachtet werden, vom Leibe hält. "Zumindest spielt die AfD mit dieser Sehnsucht", betont der Historiker Harry Waibel.

Stimmt, bedienen wird sie diese Sehnsucht sicher nicht, denn das AfD-Programm verspricht einen harten Kurs, z. B. mit denen, die ihrer Ansicht nach der Allgemeinheit auf der Tasche liegen. Das tut nach deren Logik ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung im Osten.

Insbesondere in der DDR sozialisierte Frauen würden sich sehr wundern, will doch die AfD im Grunde das Schuldprinzip bei Scheidungen wieder einführen und Beratungsstellen, die Frauen als Anlaufstelle dienen, die sich selbstverschuldet in die Lage bringen, alleinerziehend und arm zu sein, von staatlichen Transferleistungen ausschließen. Letztlich also die Frauen und ihre Kinder vom sozialen Betreuungssystem ausschließen.

Die AfD favorisiert die klassische Familie, dafür will sie die Rechte der Väter stärken. Scheidungen sollen erschwert und Kindererziehung den Frauen überlassen, die so in große Abhängigkeit ihrer Ehemänner geraten. Sich davon zu befreien, ist im AfD-Programm nicht vorgesehen.

Ebenso wie Schwangerschaftsabbrüche, die von der Partei mit Ausnahme der medizinischer Indikation abgelehnt werden. Dabei war gerade die DDR mit der dort praktizierten Fristenlösung Westdeutschland weit voraus. Die rückwärtsgewandten Vorstellungen von Frauenleben und Familie haben allerdings weniger mit den rechtsextremen Tendenzen in und um die Partei herum zu tun, als mit deren stark ausgeprägten christlich-fundamentalen Flügel.

Mit der AfD haben nicht nur Neonazis, sondern auch christliche Fundamentalisten einen parlamentarischen Arm. Es ist in jedem Fall ratsam, das Wahlprogramm der AfD sorgsam durchzulesen und zu durchdenken, bevor das Kreuz auf dem Wahlzettel gemacht wird, denn es hält noch weitere Überraschungen bereit.

Westdeutsche Hegemonie

Die Menschen, die 1989 im Osten auf die Straße gingen, wollten eine bessere DDR, sie bekamen einen schlechteren Kapitalismus: Immer noch ist das Land geteilt in Ost und West, immer noch sind es "die neuen Bundesländer", immer noch sind sowohl Lohn- als auch Rentenniveau nicht angeglichen, immer noch sind Führungspositionen in Wirtschaft, Justiz und Wissenschaft fast ausschließlich mit Westdeutschen besetzt.

Daran hat auch die Tatsache nicht viel geändert, dass in der Politik viele Ostdeutsche präsent sind, das Land sogar zeitweise von einer Ost-Kanzlerin regiert wurde und ihm ein Ost-Präsident vorstand sowie die Grünen und die Linke von Ostdeutschen geführt wurden.

Es konnte - oder musste - auch deshalb so furchtbar schief gehen, weil diejenigen, die die DDR-Führung von links kritisierten, im Westen keine Verbündeten hatten. Im Gegensatz zu den Nazis. Der größte Teil der Westlinken stand der DDR mehr als kritisch gegenüber, ihnen tat deren Untergang zumindest vorerst nicht leid.

Als auch sie begriffen, dass die DDR zum Beispiel als imaginärer Verhandlungspartner bei Tarifauseinandersetzungen mit am Tisch gesessen hatte und nun definitiv fehlte, war es zu spät. Diejenigen, die der DDR treu zur Seite gestanden hatten, die Kreise um die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), sind 89 mit unter gegangen, zumindest emotional - und ideell. Bis heute wurde keine linke Utopie entwickelt, die den an der realen Existenz gescheiterten Sozialismus ersetzen könnte.