"Testfall für die Rolle der NATO in Europa nach dem Ende des Kalten Kriegs"

A-10 Thunderbolts der U.S. Air Force auf dem Weg von der italienischen Aviano Air Base zu Zielen in Jugoslawien. Bild: U.S. Air Force

Vor 20 Jahren, am 24. März 1999, begann der Kosovo-Krieg: Von Ursachen, Hintergründen und Folgen eines bis heute kaum aufgearbeiteten Ereignisses - Teil 1

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This conflict about Kosovo became a test of NATO’s role in post-Cold War Europe. NATO itself was at risk of irrelevance or simply falling apart following a defeat.

Wesley K. Clark

1998: Der seit einem Jahrzehnt schwelende politische Konflikt zwischen Albanern und Serben im Kosovo eskaliert

Als im Januar 1998 im Kosovo der bewaffnete Widerstand der albanischen UÇK gegen die mehrjährige politische Unterdrückung durch Belgrad massive und überharte serbische Reaktionen provoziert, eskaliert die Situation. Mehr als eine Viertelmillion Flüchtlinge und mehrere hundert Tote sollte der Konflikt bis Herbst 1998 mit sich ziehen. Das Ausbrechen des Bürgerkriegs markierte den Höhepunkt eines langen politischen Kampfes, dessen Wurzeln zumindest bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen und sowohl kultureller als auch sozioökonomischer Natur sind.1

Als die westliche Öffentlichkeit auf den Konflikt aufmerksam wurde, waren indes zahlreiche Chancen zur Befriedung bereits verspielt und die Fronten verhärtet. Die politische Vertretung der Kosovo-Albaner hatte unter dem Eindruck massiver Repressionen durch Serbien - Aufhebung der Autonomie 1989, Entlassungen aus dem Staatsdienst, Schließung albanischer Schulen - zu Beginn der 1990er Jahre die Unabhängigkeit des Kosovo erklärt und eine Schattenverwaltung aufgebaut.

Der Bruch war vollzogen: Serbien stimmte selbst unter internationalem Druck nur der Wiedereinführung der Autonomie zu, während die albanische Seite die Eigenstaatlichkeit forderte. Diese sollte sie über mehrere Stationen - gescheiterte OSZE-Vermittlung, NATO-Luftangriffe, einseitige Erklärung der Unabhängigkeit 2008 - schließlich erhalten. Eine echte Unabhängigkeit bedeutet die kosovarische Eigenstaatlichkeit jedoch nicht, da die Region nach wie vor nicht nur militärisch von der NATO, politisch von der EU und wirtschaftlich von internationalen Krediten abhängig ist. Der Konflikt selbst ist bis heute weder politisch noch wirtschaftlich gelöst.

1974-1989: Von der Erweiterung der Autonomie bis zu ihrer Aufhebung - die Vorgeschichte des Konflikts

Eine erste Autonomie hatte Kosovo unter Jugoslawien in den 1960er Jahren erhalten.2 1974 wurde sie durch die Verfassungsänderung zu einer De-facto-Gleichstellung der Provinz mit den jugoslawischen Teilrepubliken erweitert. Eine Befriedung des Landes erfolgte indes nicht.

1981 forderten nationalistische albanische Studentengruppen an der Universität Pristina den Republikstatus. Die jugoslawischen Zentralbehörden schlugen den sich zu einem allgemeinen Aufstand ausweitenden Protest brutal nieder. Tausende wurden zu teils mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Sog der Nationalisierung, der vor den Albanern schon Kroatien erfasst hatte (vgl. den "kroatischen Frühling" 19713) und später auch auf Serbien überschwappte4, führte schließlich zur Desintegration Jugoslawiens.

Während die kommunistischen Behörden in Belgrad überzogene Proteste von Kosovo-Serben gegen albanische Diskriminierung (es wurde von einem "Genozid an Serben" gesprochen) 1985 noch als nationalistisch zurückwiesen, änderte sich die Situation durch den Aufstieg Slobodan Miloševićs grundlegend. Er ersetzte die an Integrationsfähigkeit verlierende sozialistische Ideologie durch Nationalismus und instrumentalisierte die Kosovo-Frage zur persönlichen Machterweiterung und Machterhaltung.5In diesem Klima allgegenwärtiger Neo-Nationalismen im Bundesstaat eskalierte die Situation schließlich 1989 durch die Aufhebung der Autonomie im Kosovo (zusammen mit jener in der Vojvodina).

1991-1995: Die Situation spitzt sich zu

1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihren Austritt aus Jugoslawien. Zuvor, am 2. Juli 1990, hatten 114 kosovo-albanische Abgeordnete die Unabhängigkeit der Provinz verkündet. Belgrad ignorierte dies ebenso wie die westliche Staatengemeinschaft. Diese wurde durch den eskalierenden Jugoslawien-Krieg in ihrem Krisenmanagement stark gefordert, so dass für die berechtigten Anliegen der politisch unterdrückten Albaner kein Platz mehr schien. So blieben letztere auch bei den Friedensverhandlungen von Dayton unberücksichtigt.

Rückblickend erwies sich dies als großer politischer Fehler, weil dadurch der bis anhin politische Widerstand der LDK (Lidhja Demokratike e Kosovës, Demokratische Liga des Kosovo) um den späteren Provinzpräsidenten Ibrahim Rugova in den Augen vieler Albaner diskreditiert wurde. Dies förderte die Formierung der paramilitärischen Truppe UÇK (Ushtria Çlirimtare e Kosovës, "Befreiungsarmee des Kosovo").

Während 1990/91 durch Verhandlungen und internationalen Druck noch die Wiederherstellung der Autonomie im Bereich des Möglichen lag, lehnte später die UÇK einen solchen Kompromiss der Machtteilung mit Serbien kategorisch ab. Stattdessen setzte die heterogene Widerstandsbewegung auf Eskalation, ermordete gemäßigte, staatsloyale Albaner ebenso wie Serben und provozierte damit, tatkräftig unterstützt vom brutalen Vorgehen der serbischen Antiterroreinheiten gegen die Zivilbevölkerung, eine "humanitäre Katastrophe", die schlussendlich der NATO als Begründung für eine Militärintervention diente.

1996-1998: Der diplomatische Handlungsraum schrumpft und mit ihm das Interesse an einer friedlichen Konfliktlösung

Zwar setzte Serbien immer wieder auch kleine Zeichen der Entspannung, in Summe war das nationalistische und despotische Regime von Slobodan Milošević aber zu kaum einem Zeitpunkt an ernstgemeinten und weitreichenden Autonomieverhandlungen interessiert. Nicht unproblematisch war dabei, dass die Serbische Radikale Partei unter ihrem Vorsitzenden Vojislav Šešelj die Sozialistische Partei Serbiens von Milošević in der Kosovo-Frage innenpolitisch an Radikalität übertraf.6

Zeitgleich verlor jedoch auch Rugova immer mehr Boden an die radikale UÇK. Dabei unterschieden sie sich nicht im Ziel eines unabhängigen Staates Kosovo, sondern nur in der Wahl der Mittel - Rugovas LDK setzte auf Diplomatie, die UÇK auf Terror. Die Kosovo-Frage zu internationalisieren, verband die beiden innenpolitischen Konkurrenten. Letzteres war wiederum Serbien ein Dorn im Auge: Es lehnte eine internationale Vermittlung lange Zeit strikt ab und wich von dieser Haltung erst durch internationalen Druck durch USA und Russland ab.

Einerseits bewegte der internationale Druck Belgrad zu Zugeständnissen, andererseits agierten die "Vermittler" durchaus im Eigeninteresse. Den Kosovo-Albanern zu einer international abgesicherten Autonomie zu verhelfen, wäre ein notwendiges politisches Ziel gewesen. Tatsächlich konnte "der Westen", wie Befürworter des späteren Luftkrieges gegen Jugoslawien wiederholt betonten, angesichts der untragbaren Situation der Albaner nicht länger zuschauen. Eine politisch-diplomatische Intervention mit dem Ziel der Konfliktvermittlung (beispielsweise mittels ökonomischer Anreize sowie Lockerung der Sanktionen) wäre gerade angesichts der starren Haltung Serbiens sinnvoll gewesen.7

Auch Italien hatte sich, als Österreich die Südtirol-Frage 1960 vor die UNO gebracht hatte, trotz anfänglicher Proteste letzten Endes mehr bewegt als zuvor. Eine durch zähe Verhandlungen über ein Jahrzehnt errungene Autonomie hätte auch für den Kosovo eine dauerhaftere Lösung darstellen können als die zuletzt gewählte Variante der einseitigen Unabhängigkeitserklärung, die bis heute von rund 40 Prozent aller Staaten nicht anerkannt ist.

1998-1999: Internationalisierung und Gewalt in der Kosovo-Frage

Doch anstatt Belgrad konsequent durch das Anbieten einer sozioökonomischen und sicherheitspolitischen Perspektive - Ende der Sanktionen, wirtschaftliche Kooperation bis hin zu EU-Beitritt - zu Konzessionen zu bewegen (was in Einzelfällen bereits erfolgreich war), setzte die NATO auf militärische Drohungen und erhöhte den Druck. Allen voran die USA, die ihren früheren Bosnien-Sonderbeauftragen Richard Holbrooke nach Belgrad entsandten, einen diplomatischen Falken, der voller Geringschätzung für Jugoslawien und seine Menschen war:

Aber wenn man es darauf ankommen ließ und ihnen [den Serben] die Pistole an die Brust setzte, waren es letzten Endes nur kleine Rabauken. [...] Der Westen hatte während der letzten Jahre den Fehler gemacht, die Serben so zu behandeln, als seien sie rational denkende Menschen, mit denen man ernsthaft diskutieren und vernünftig verhandeln konnte. Tatsächlich aber reagierten sie nur auf Gewalt, oder zumindest die unmißverständliche und glaubhafte Androhung, daß man davon Gebrauch machen würde.

Richard Holbrooke
Richard Holbrooke (2009). Bild: U.S. State Department

Als sich die US-geführte NATO unter willfähriger Hilfe Deutschlands und Großbritanniens der Kosovo-Albaner annahm, geschah dies weder durch einen an gutnachbarschaftlichen Beziehungen interessierten Dritten noch mit dem Primärziel der Konfliktvermittlung, sondern aufgrund von wirtschaftlichen, machtpolitischen, geostrategischen und militärischen Interessen.8 Während die einzige maßgebliche zivile Einmischung, die mit UN-Mandat ausgestattete Kosovo Verification Mission der OSZE, konsequent in ihrem Handlungsspielraum eingeengt und untergraben wurde9, bauten insbesondere die USA und Deutschland, von ihren wichtigsten Massenmedien gestützt, eine Notwendigkeit auf, die jeden Kompromiss mit Serbien ausschloss, Milošević die alleinige Schuld an der Eskalation zuschrieb und die NATO als Lösungsinstanz für ethnische Konflikte vor der UNO propagierte.10

Obwohl es Alternativen gegeben hätte11, instrumentalisierten die USA, unterstützt durch Deutschland und Großbritannien, in Form der NATO einen ethnischen Konflikt zur Durchsetzung ihrer Eigeninteressen.

Das zentrale Motiv lag in der im April 1999 schließlich auch formal vollzogenen Umwandlung des Verteidigungspakts in ein Out-of-Area-Bündnis. Um dies zu erreichen, verbrämte man die Luftangriffe auf Jugoslawien unter Bezugnahme auf die Shoa als gerechten Krieg, der nicht aufgrund von Interessen, sondern zur Einhaltung von Menschenrechten und zur Verhinderung einer "humanitären Katastrophe" sowie eines angeblich drohenden Genozids geführt wurde.12