Algerien: Bouteflika verzichtet auf seine Kandidatur

Proteste am 8. März. Foto: Fethi Hamlati/CC BY-SA 4.0

... und verlängert seine Amtszeit. Update: Studenten, Richter und Hooligans gegen "die Macht". Millionen bei Protesten; Generalstreik

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Am Freitag gingen in Algerien wahrscheinlich Millionen protestieren gegen Bouteflika. Es hieß, dass sich Demonstranten in Alger oder in Otan gar nicht mehr bewegen konnten, so eng seien die Massen gedrängt gewesen. Offizielle Schätzungen über die Teilnehmerzahlen gibt es nicht. Aber es gab wieder unzählige Bilder, die große, dichte Menschenmengen zeigten.

Algerien erlebt einen außergewöhnlichen, historischen Moment. Daran zweifelt nun keiner mehr. Aber niemand weiß, wie es weiter geht. Das dürfte auch für die ominösen Entscheider im Hintergrund gelten, die "Le Pouvoir" (die Macht), genannt werden. Gestern Abend wurde der Präsident Bouteflika von der Klinik in Genf zurück nach Algier gebracht. Niemand hat ihn öffentlich gesehen. Nur sein Flugzeug wurde beim Landeanflug gezeigt.

Bei all dieser Geheimnistuerei um den Mann, der zuletzt vor sieben(!) Jahren, 2012, seinen letzten öffentlichen Auftritt hinlegte, ist kein Wunder, dass es Gerüchte gibt, wonach er gar nicht an Bord war. Die offizielle Mitteilung, die seiner Rückkehr nach Algerien beigesellt wurde, war kurz und sagte nur, dass er aufseiten des Volkes sei. Wie das aussehen kann, weiß man von Ägypten unter al-Sisi (der die Proteste in Algerien selbstverständlich kritisiert und dem der Westen wie verrückt Waffen verkauft, soweit zur Wertgemeinschaft).

[Update: Am Montagabend gab Abdelaziz Bouteflika über ein öffentliches Schreiben an die Nation bekannt, dass er auf seine Kandidatur verzichtet. Die Präsidentschaftswahl, die für den 18. April anberaumt ist, werde verschoben. Zunächst werde es eine umfassende und unabhängige nationale Konferenz geben, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Diese soll bis Ende des Jahres ausgearbeitet sein und wird dann einer Volksabstimmung ausgesetzt.

Algerien durchquere eine sensible Periode in seiner Geschichte, so Bouteflika in seinem Schreiben, in dem er die friedlichen Demonstrationen hervorhebt. Er verstehe insbesondere die Botschaft der Jugend, die von Ängsten und Ehrgeiz getragen sei, was ihre Zukunft und die ihres Landes anbelangt. Zugleich kündigte Bouteflika wichtige Änderungen in der Regierung an.

Da die Präsidentschaftswahlen nun bis auf weiteres ausgesetzt wurden, bleibt Bouteflika formell weiter an der Macht. Er verlängert damit seine Amtszeit. Man darf gespannt sein, wie diese Situation die nächsten Tage behandelt wird.]

Es ist eine eigenartige Realität, in der sich das Land befindet. Am gestrigen Sonntag, dem ersten Tag der Arbeitswoche in Algerien, gab es einen Generalsstreik. Die Geschäfte in den großen Städten waren geschlossen, der öffentliche Verkehr lahmgelegt, der Streik zog sich bis in den heutigen Montag (Einf.d.A.: er soll 5 Tage dauern), an dem auch neue Proteste gemeldet werden.

Wieder sind es die Anwälte, diesmal zusammen mit Richtern, die auf die Verfassung hinweisen, darauf, dass Algerien ein Rechtsstaat sein sollte. Es gibt Verfassungsgesetze, die mit der Kandidatur eines Schwerkranken für die Präsidentschaft nicht vereinbar sind.

Eine heimliche Monarchie

De facto ist Algerien aber eine Art Monarchie mit einer "Exzellenz" (so wird Bouteflika angeredet) an der Spitze, die das Land "als Foto repräsentiert" (Kamel Daoud), und einem Machtklüngel, angeführt von seinem Bruder. Es sind Oligarchen, die sich das Land unter den Nagel gerissen haben und den Ölreichtum unter sich aufteilen. Dieses Spiel scheint jetzt zu Ende zu gehen. Die Frage ist, wie sich die bisherigen Statthalter gegen die Proteste wehren werden.

Neben ihm (Bouteflika, Einf. d.A.) gibt es 18 weitere Bewerber. Bis Mittwoch muss der Verfassungsrat beschließen, wer von ihnen zugelassen wird. Allerdings ist unter ihnen niemand, hinter dem sich die Demonstranten versammeln könnten. Denkbar ist eine Verschiebung der Wahlen, eine Regierung der nationalen Einheit und eine Überarbeitung der Verfassung. Schwer vorstellbar bleibt, dass die FLN und die nur le pouvoir genannten informellen Machtstrukturen zulassen, dass Bouteflika abtritt und ein Vertreter der zersplitterten Opposition die Wahl gewinnt.

Süddeutsche Zeitung

Experten tun sich schwer mit Einschätzungen. Ein Machtapparat, der sich seit 1999 festgesetzt hat, verschwindet nicht einfach so nach drei Wochen Protest. Aber er hat nun eine überwältigende öffentliche Meinung gegen das "Einfach weiter so". Im Lager Bouteflikas versucht man, den Präsidenten, aka "das Foto", zu retten. Die Fehler hätte seine Umgebung gemacht, nicht er, so lautet eine Strategie.

Die Strategie des Apparates ist genau umgekehrt: Bouteflika opfern, dessen Mandat zurückziehen, um das System zu erhalten. Doch wird dies angesichts der stellvertreterähnlichen Positionierung des jüngeren Bruders im Machtzentrum nicht leicht durchzusetzen sein.

Kompliziert werden die Kämpfe der Seilschaften durch die Überläufer auf die Seite des Protests, wo sich ebenfalls langsam Machtfilialen herausbilden, wie dies in den sozialen Netzwerken bereits mit Namen und Gesichtern bekannt gemacht wird. Ob dies vorschnell ist, ist schwer zu sagen. Bekannte Menschenrechtler warnen davor, dass die Entwicklung zu einer Destabilisierung des Landes führen könnten.

Überläufer zum Lager der Proteste gegen Bouteflika

Generalstabschef Ahmed Gaïd-Salah mahnt mit den gleichen Ängsten - und mit dem Versprechen, dass die Armee Sicherheit und Ordnung garantieren wird. Es ist allerdings nicht vollkommen klar, ob die Sicherheitskräfte tatsächlich verlässlich aufseiten der Macht stehen.

Bei den großen Demonstrationen am Freitag kam es zwar am Ende zu ersten heftigeren Ausschreitungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten, es heißt aber auch, dass sich Polizisten mit dem Protestlager teilweise solidarisierten. Gut möglich, dass es auch in der Armee keine eindeutige Haltung gegen die Proteste gibt.

Angesichts der vielen Überläufer, über die an dieser Stelle bereits vergangene Woche berichtet wurde, wäre dies nun keine Überraschung mehr. Am heutigen Montag wird berichtet, dass sich wichtige Teile der Gewerkschaft UGTA dem Lager des Protestes gegen das "Fünfte Mandat Bouteflikas" angeschlossen haben. Das ist, wie auch von Medien hervorgehoben wird, ein politisch signalkräftiger Schritt, denn der Chef der Gewerkschaft zählt zu den engen Verbündeten Bouteflikas, er ist eine Säule des Systems.

Man sieht: Mit fortschreitender Zeit geschehen Entwicklungen, die von "Le Pouvoir" nicht einfach rückgängig gemacht werden können. Dass man dort ratlos agiert, dass den "Entscheider" gerade das Gefühl für die richtigen politischen Maßnahmen fehlt, ist an der Reaktion auf die vorgezogenen Universitätsferien abzulesen. Die Proteste werden im Kern von der Jugend getragen. Dabei spielen die Studenten, weiblich genauso wie männlich, eine große Rolle.

Die politische Führung im Hintergrund versuchte über die Universitätsleitungen die Proteste "auszudünnen", indem die Studentinnen und Studenten vorzeitig in die Ferien geschickt werden sollten; auch die Studentenwohnheime in den großen Städten sollten schließen, so dass die Studenten nachhause fahren müssen. Die Order dazu kam am Tag nach den Riesendemonstrationen. Unmittelbar danach folgten aber Schreiben von Universitätsprofesssoren, die sich gegen diesen Schritt wehrten. Von den Studenten gab es ohnehin Proteste.

Die Ultras versöhnen sich; Islamisten halten sich zurück

Ein anderes Ereignis bestätigt erneut, dass für diesen Protest bisher eine weitgestreckte Solidarität unter Jugendlichen aus ganz unterschiedlichen Milieus bezeichnend ist: Die Ultras der beiden konkurrierenden Fußballvereine MC Alger und l'USM Alger wollen beim anstehenden Match am kommenden Wochenende ein Herz und eine Seele sein und beim Spiel zusammen singen.

Wie weit diese Euphorie noch tragen wird? Bislang ist auch noch nichts darüber bekannt, wo die Islamisten stecken. Sie haben allen Grund sich im Verborgenen zu halten, da ansonsten die Armee gute Gründe hätte einzugreifen. Bis jetzt gab es noch keine auffallenden Plakate. Beim französischen Dschihadexperten Wassim Nasr ist zu lesen, dass sich al-Qaida unterstützend zu den Protesten in Algerien geäußert hat - Trittbrettfahrer.

Die protestierenden Algerier sind stolz darauf, dass sie ihr politisches Geschick selbst in die Hand nehmen. Es wird viel Wert darauf gelegt, dass sie "friedlich" und "würdevoll" bleiben, man lehnt jede Einmischung von außen ab, insbesondere von Frankreich, aber auch Vereinnahmungen in Richtung "zweiter arabischer Frühling". Man weiß sehr wohl darüber Bescheid, dass Gewalt Gründe liefern würde, damit die Dinge entgleisen und sich die Herrscherclique und die Armee erneut als Garanten der Ordnung einzementieren.