Ende des IS: Zehntausende schwere Einzelfälle für die Herkunftsstaaten

Nach dem "IS-Festival": Das verlassene Baghouz. Foto: Mutlu Civiroglu‏, mit freundlicher Genehmigung.

Die Eroberung der Fanatiker-Zeltstadt Baghouz in Syrien offenbart ein Elend mit Rachepotenzial

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Die Eroberung von Baghouz, der letzten "Bastion" des IS in Syrien, geht nur sehr langsam voran. Das liegt an den IS-Kämpfern, die auch den letzten Quadratkilometer des Kalifats nicht aufgeben wollen, und das liegt vor allem daran, dass die IS-Milizen Gefangene haben, die aus den Stämmen der Umgebung kommen, weswegen verhandelt wird, und der Ort nicht einfach platt gemacht wird, wie es Bilder von Luftangriffen vermuten lassen. So erklärt es der französische Journalist Wassim Nasr auf France 24.

Leben in der Zeltstadt

Im Hintergrund zu Nasrs Erklärungen läuft dazu ein Video, welches das Leben in Baghouz zeigt. Wann die Bilder, die zum Teil von einer Drohne aufgenommen sind, entstanden, ist für Laien unklar. Sie sind von IS-Mitgliedern gemacht und zeigen ein beinahe idyllisches, auf jeden Fall ungestörtes Leben in der Siedlung, beinahe wie auf einem Wimmelbild. Zu sehen sind sehr viele Menschen, teils auf der Straße, teils auf dem Gelände, beim Lesen, Kochen, Reden, Herumgehen und Herumstehen. Die Religionspolizei fährt vor und ruft die Leute zum Gebet.

Die ganz aktuellen Bilder von Baghouz zeigen dagegen eine ganz andere, ausgestorbene Welt, menschenleeres Gelände, mit vielen Gruben, wo angeblich die Einwohner gelebt haben. Irgendwie muss zu erklären sein, dass dort, wo nur Kleider, Wäsche, Stoff- oder Plastikfetzen herumliegen oder flattern, eine immens große Menge von Menschen untergebracht waren, wahrscheinlich eben in den ausgehobenen Gruben. Von einer "Bastion", wie das vom IS vereinnahmte Baghouz in vielen Berichten genannt wird, kann man da nicht sprechen. Zeltstadt trifft es wesentlich genauer.

Ein Quadratkilometer

38 IS-Mitglieder wurden zuletzt bei der seit Tagen laufenden SDF-Offensive auf Baghouz getötet, berichtet der kurdische Journalist Mutlu Civiroglu, der sich vor Ort aufhält. Einige Militärfahrzeuge, zwei Munitionsdepots und eine Kommandozentrale seien zerstört worden. Die Koalition habe 20 Luftangriffe geflogen. Der IS habe seinerseits mit Raketen angegriffen und 3 SDF-Soldaten getötet und 10 andere verwundet, so die Informationen der SDF.

Die IS-Kämpfer sind nicht schlecht ausgestattet, wie auch frühere Videos mit ganz offensichtlich wärmegelenkten Raketen zeigen, wie viele IS-Milizen sich noch auf dem ungefähr einen Quadratkilometer großen Gebiet (Wassim Nasr) aufhalten, ist unklar. Die Luftangriffe, die beispielsweise auf Videos von gestern Nacht einen Flammenhimmel über dem Gebiet zeigen, führten in den letzten Tagen zu grausigen Bildern von verbrannten Menschen, darunter auch Kinder, die in den sozialen Netzwerken kursieren und höchstwahrscheinlich später in Dschihad-Propagandafilmen wieder auftauchen.

Laut des französischen Journalisten Nasr, der gut vernetzt ist, sind viele IS-Kämpfer, die von ihrem Stamm freigekauft wurden, in eine andere Kampfzone weitergezogen, zum Beispiel in den Westen Aleppos. Man kann davon ausgehen, dass der Guerilla-Kampf der IS-Milizen noch länger nicht beendet ist und das eingangs erwähnte IS-Video von Baghouz deutet darauf hin, dass auch die "Medienabteilung" nicht wirklich zerstört ist.

45.000 Insassen, die gefährlich sein können

Unklar ist auch, ob nun alle Frauen und Kinder, die in Baghouz lebten, den Ort tatsächlich verlassen haben. Auf den Bildern des kurdischen Journalisten ist nur der Rand der Zeltstadt zu sehen, weiter vordringen durften die Journalisten nicht, weil dies wegen der Scharfschützen und der Bombenfallen zu gefährlich sei. Geht es nach dem gut unterrichteten Wassim Nasr, der seine Informationen angeblich auch aus dschihadistischen Kreisen bekommt, gibt es in der umliegenden Wüste noch Refugien des IS. Baghouz sei nur die letzte bewohnte Zone gewesen, wo sich IS-Mitglieder in größeren Ansammlungen aufhalten.

(Update: Laut Mustafa Bali von den SDF haben sich in den letzten 24 Stunden zwischen 1.500 und 2.000(!) Kämpfer und Familienmitglieder ergeben.)

Wie viele IS-Familienmitglieder sich in der Wüste im syrisch-irakischen Grenzgebiet aufhalten, wird sich erst noch herausstellen. Nach den Erfahrungen der jüngsten Zeit ist nicht auszuschließen, dass dies Hunderte sein könnten. Denn die Zahlen der IS-Mitglieder, die sich den Kurden der SDF ergeben haben, waren überraschend hoch: Es sind Zehntausende. Und die Frauen legten vor den Kameras Auftritte hin, die sie als überzeugte Hardliner zeigten.

Ein verlässlicher Überblick darüber, wie viele IS-Mitglieder, Kämpfer, Frauen und Kinder, im Augenblick in kurdischer Gefangenschaft sind, steht noch aus. Die bisher genannten Zahlen haben eine ziemliche Schwankungsbreite. Zum Beispiel, wenn es um die Insassen des al-Hol-Camps in Hasaka geht. Dort sind Frauen und Kinder der IS-Familien untergebracht.

Laut Unicef halten sich dort 3.000 Kinder aus 43 Staaten auf. Gudrun Harrer, die Nahost-Expertin des österreichischen Standards, berichtet von schier unglaublichen 45.000 Insassen des Internierungslagers al-Hol. In einem BBC-Film werden dagegen nur 12.000 genannt. In Nachrichtenagentur-Berichten ist wiederum von 55.000 die Rede.

Einzelfälle

Ziemlich sicher kann man davon ausgehen, dass es mehrere Tausend Frauen und Kinder sind und damit mehrere Tausend, wahrscheinlich Zehntausende, Einzelfälle für die Länder, in die sie zurück wollen, weil sie die Lagerbedingungen nicht aushalten und sie - zumindest erstmal - nicht zum IS zurück können und sich die Staaten, wenn sie denn Rechtsstaaten sind, rechtlich verpflichtend um ihre Staatsbürger zu kümmern haben. Ein alternativer Plan, der etwa die Einrichtung eines internationalen Tribunals auf syrischem/irakischem Gebiet ins Auge fasst, ist politisch bislang außerhalb des Möglichkeitsraums.

Nimmt man Aussagen oder Handlungen, die von vermummten IS-Frauen auf Videos dokumentiert werden, so wird die Dimension des Problems anschaulich. Sie sind Fanatikerinnen, die, wenn sie auch nicht getötet haben wie ihre Männer, so doch dafür gesorgt haben, dass auch ihre Söhne töten werden.

Man kennt die IS-Videos von zehn- oder elfjährigen Jungen, die Hinrichtungsbefehle exekutieren. Dass die Jungen wie auch die Mädchen stark indoktriniert sind, lässt sich anhand des gegenwärtigen Videomaterials der gefangenen IS-Mitglieder erkennen. Sie sind ganz im Geiste einer Doktrin erzogen worden, derzurfolge das Leben von "Ungläubigen" nichts wert ist. Selbst ein großer teil der Muslime gehört nach dieser Auffassung zu denen, die nicht einmal das Recht auf Leben haben.

Die Beobachtung, dass keine der bisher auf Videos gezeigten Anhängerinnen des IS auch nur ein Wort des Bedauerns für die Opfer dieser "Heilslehre" übrig hat (eher im Gegenteil), lässt Schlimmes ahnen.

Das sind Einzelbeispiele, ja, aber es liegt auf der Hand, dass die Staaten, in welche die Frauen und mit ihren Kinder wieder zurückwollen, angesichts dieses Hintergrundes die Personen sehr genau anschauen müssen. Das ist nicht in kurzer Zeit zu machen und man hat noch wenig Erfahrung darin. Wie kann man ausschließen, dass keine künftigen Selbstmordattentäterin oder Selbstmordattentäter dabei sind?

Die Staaten haben es also mit einer sehr großen Menge an Einzelfällen zu tun, die sehr genau überprüft werden müssen, da sich Frauen, die aus dem IS kommen, als ziemlich überzeugungsfest in ihren ultra-fanatischen Anschauungen gezeigt haben.

Ob das auf alle zutrifft, muss also mühselig herausgefunden werden. Auch bei den Männern, die angeblich nicht gekämpft haben, wird es erhebliche Schwierigkeiten geben. Um von denen, die im Namen des IS getötet und sexuell missbraucht haben, einmal nicht zu reden (siehe dazu: Martin Lemke: Ficken und foltern im syrischen Dschihad). Allein schon die Frage nach der Unterbringung im Gefängnis hat große Tücken.

Bei Kindern ist alles noch viel komplizierter.