Worum geht es eigentlich den Gelbwesten?

Foto: Christian Schmeiser

Die Protestbewegung, wie sie sich selbst darstellt

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Seit vier Monaten gibt es die Protest-Bewegung der Gelbwesten. Das nehme ich jetzt zum Anlass, eine Standortbestimmung zu versuchen, auch wenn sich natürlich die Gegenposition anführen lässt, dass der Zeitpunkt für eine quellenkritisch fundierte, unabhängige historische Position noch nicht gekommen ist.

Die Gelbwesten unter Beschuss

Natürlich lesen wir alle seit Monaten geballt Negativ-Meldungen über die Gilets jaunes in den reichweitestarken Medien. Nach der erneuten Eskalation am 16. März 2019 (Acte 18), die Vergleiche mit der frühen "Sturm- und Drang"-Phase (Acte 1-4) herausfordert, beziehen die Gelbwesten erneut gehörig Prügel: Sie werden als gewalttätig, rechtsradikal und natürlich antisemitisch dargestellt, zudem - so ist zu lesen - rezipiert ein Großteil der Demonstranten regelmäßig fragwürdige "fake news".

Darüber hinaus wird auch unablässig auf den permanenten Rückgang der Demo-Teilnehmer verwiesen, der angeblich mit der rückläufigen Unterstützung in der französischen Bevölkerung korrespondieren soll. Viele Kommentare stellen jetzt nach Acte 18 am 16. März die "bösen" Gelbwesten-Demonstrationszüge der "guten" Klimawandel-Demo am gleichen Tag gegenüber. Telepolis-Redakteur Thomas Pany differenziert diese antithetische Polarisierung so :

Man kann es auch so sehen: Die politischen Forderungen, die die Klimamärsche aufstellen, sind wie Sonntagsreden. Sie verpflichten zu nichts außer zu Bekenntnissen. Das ist für Politiker leicht zu erfüllen. Bei den Gelbwesten ist das anders, sie rühren mit ihren Forderungen an den Kern der Macht, sie wollen Macron weghaben, sie wollen eine andere Republik, direkte Demokratie, sie agieren eine Wut aus, die schmerzen soll.

Paris: Panik auf den Boulevards

Steht hinter den thematisch im Wochen-Turnus wechselnden Negativ-Meldungen über die Gelbwesten eine ausgeklügelte Form der psychologischen Kriegsführung? Diese Frage lässt sich zurzeit noch nicht beantworten.

Die Gelbwesten und ihre Unterstützer

Dessen ungeachtet gibt es natürlich auch Autoren, die die Gilets jaunes unterstützen. Der in den frühen Achtzigern in die USA emigrierte französische Journalist Gilbert Mercier hält die Gelbwesten für "eine Revolte gegen den Neoliberalismus, der weltweit Reichtum und Macht in wenigen Händen konzentriert" (Mercier hat übrigens 2015 ein bemerkenswertes Buch mit dem Titel The Orwellian Empire veröffentlicht, in dem er den Transformationsprozess des US-Imperiums in ein neuartiges "empire orwéllien" ab 1980 analysiert). Ähnlich sieht es auch der Politikwissenschaftler Ulrich Mies in einer von ihm aktuell herausgegebenen Publikation:

Die Gelbwesten in Frankreich sind ein Beispiel für eine reale Aufstandsbewegung gegen das marktradikale Regime Emmanuel Macrons.

Ulrich Mies

Florian Ernst Kirner geht in seinem Artikel Die Politik der Massen noch weiter, wenn er die "gilets jaunes" in der Tradition der französischen Revolution sieht.

Vor Ort bei den gilets jaunes

Wie kann man denn nun eigentlich herausfinden, worum es den Gelbwesten wirklich geht? Mein Vorschlag: Nach Paris fahren und sie dort besuchen. Das habe ich in spontanen Aktionen dreimal gemacht: Am 8. Dezember 2018 (Acte 4), am 9. Februar 2019 (Acte 13) (siehe "Was ist los mit den Gelbwesten?) und dann nochmal am 2. März 2019 (Acte 16). Meine dritte und bislang letzte "Stippvisite" bei den "gilets jaunes" ist der Ausgangspunkt für diesen Artikel.

Was auch hier zunächst wieder auffiel, war der hohe Frauenanteil bei den Gelbwesten. Auf dem obigen Eingangsfoto zum Artikel sind Gilets jaunes nach einer wilden und ziemlich lustigen Tanzeinlage auf den Champs-Élysées, die dem verzögerten Demo-Beginn voranging, zu sehen.

Die Aufnahme unten zeigt junge Demo-Teilnehmerinnen, die sich über die solidarische Unterstützung der Gelbwesten durch einen "wertkonservativen" Angehörigen der französischen Streitkräfte freuen.

Foto: Christian Schmeiser

Nun stellen die Gilets jaunes ihre Anliegen nicht nur ins Internet, sie malen sie auf Transparente - und mit einem schwarzen Filzstift auch auf ihre gelben Rettungswesten.

Gegen den Neoliberalismus

Auf zahlreichen Transparenten machen die Gelbwesten deutlich, dass sie ihre Revolte gegen den Neoliberalismus in die Tradition der französischen Revolution und der Pariser Commune stellen. Plakattexte wie beispielsweise "1789 révolution bourgeoise - 2019 révolution prolétarienne" verdeutlichen, dass sie sich in einer historischen Tradition sehen.

Foto: Christian Schmeiser

Weitere Plakate verknüpfen die Eckdaten "1789" und "2018/2019" noch mit dem "Mai 1968" und vervollständigen damit die Chronologie und den damit verbundenen revolutionären Referenzrahmen. Auffällig ist, dass die Protestschilder der "gilets jaunes" eindeutig von eigener Hand auf Karton oder Transparent verfertigt sind.

Nirgendwo sind Demo-Plakate in perfektem Design zu sehen - damit bestätigt sich erneut der Eindruck des Authentischen im Sinne einer dezentral organisierten Graswurzelbewegung (eine von "außen gesteuerte" Farbenrevolution erscheint somit eher unwahrscheinlich).

Dementsprechend ist auch das "résistance"-Motiv auf vielen selbstgemalten Plakaten präsent. Ohne ein mutiges und ausdauerndes Dagegenhalten lässt sich in der langwierigen und gefährlichen Auseinandersetzung mit einer neoliberalen Oligarchie nichts ausrichten - das entnehme ich dem farbenfrohen Plakat eines Demo-Teilnehmers auf dem Place de l'Étoile mit der Aufschrift "celui qui combat peut perdre - mais celui qui ne combat pas a déjà perdu" (derjenige, der kämpft, kann verlieren - aber derjenige, der nicht kämpft, hat schon verloren).

Foto: Christian Schmeiser

Ein weiteres Transparent in gelber Gilets jaunes-Farbe verdeutlicht ebenfalls - aus der Sicht der Gelbwesten - die Notwendigkeit der "résistance" gegen eine solipsistisch-autoritär agierende neoliberal-neofeudale Oligarchie. Der mittlerweile emeritierte Hochschullehrer Rainer Mausfeld macht in seinen zahlreichen Vorträgen und in seiner aktuellen Publikation darauf aufmerksam, dass eine "verblüffende Errungenschaft" des Neoliberalismus' darin besteht, sich in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu "unsichtbar" zu machen.

Foto: Christian Schmeiser

Das wollen die Gelbwesten offenbar - wie ich ihren Plakaten und Transparenten entnehmen kann - mit ihren allwöchentlichen Samstags-Demonstrationen ändern. Aus diesem Grund fordern sie auch ein "Référendum d'Initiative Citoyenne" (RIC), also eine direkte Demokratie anstelle einer repräsentativen Demokratie, die die bestehenden - als unerträglich empfundenen - Machtverhältnisse im Sinne einer anglo-amerikanisch orientierten Finanz-Oligarchie stützt. Damit verknüpfen die "gilets jaunes" die Forderung nach einem radikalen Umbau des Bankenwesens.

Foto: Christian Schmeiser

Dass der französische Präsident Macron faktisch ein Vertreter der neoliberalen Finanzindustrie ist, wird von ihnen sehr kritisch gesehen. Der frühere Präsident François Hollande hat in einer bekannten französischen Talk-Show Macron als den Interessensvertreter der "trés riches" benannt - und damit die aktuelle Polarisierung "mitangeheizt".

Gegen Großkonzerne und ökologische Krise

Dass transnational agierende Groß-Konzerne von konzernnahen Politikern mittlerweile weitgehend von der "Bürde steuerlicher Belastungen und Sozialabgaben" zuungunsten der Allgemeinheit "befreit" wurden, verbinden die Gelbwesten häufig mit den Fragestellungen zu der rasant fortschreitenden ökologischen Verwüstung unseres Heimatplaneten.

So lese ich auf einem weiteren "gilets jaunes" - Plakat: "évasion fiscale - crime sociale et écologique" (Steuerflucht - soziales und ökologisches Verbrechen).

Foto: Christian Schmeiser

Gleichlautendes sehe ich auch auf einem weiteren großformatigen Transparent, das eine junge Frau "Atlas-artig" auf ihren Schultern trägt.

Foto: Christian Schmeiser

Ein mit einer gelben Weste bekleideter Erdball, der mit empörtem Gesichtsausdruck die linke Faust revolutionär-wutentbrannt ballt, ist von einer farbenfrohen Aufschrift umrankt: "fin du monde - fin du mois - meme combat" (das Ende der Welt - das Ende des Monats - der gleiche Kampf).

Das erinnert sehr an das in Frankreich durch die Gilets jaunes-Revolte mittlerweile bekannt gewordene geflügelte Wort "les riches parlent de la fin du monde, on a peur des fins des mois" (die Reichen reden über das Ende der Welt, wir haben Angst vor dem Monatsende).

Damit wird erneut das zentrale Agens der Gelbwesten deutlich: Nach vielen Jahren "neoliberaler Reformpolitik" unter Macron und seinen Vorgängern reicht das Monatsgehalt nicht mehr für das Allernotwendigste, für Miete, Essen und die Dinge des alltäglichen Bedarfs.

Die alleinerziehende junge Mutter, die sieben Tage in der Woche in prekären Arbeitsverhältnissen über die Runden zu kommen bemüht ist, schafft es nicht mehr, sich und ihre Kinder finanziell "durch den Monat zu bringen". Die leidenschaftlichen Proteste junger Frauen auf den Gilets jaunes - Demos sind die direkte Folge dieser Entwicklung.