Algerien: Weiter Massenproteste gegen das Alte

Grande Poste in Algier Centre am 1. März. Foto: Sofian Philip Naceur

Die Anti-System-Bewegung will eine neue Republik und lässt nicht nach. Sie bleibt außergewöhnlich friedlich

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Die Proteste in Algerien sind ein Phänomen. Das ganze Land protestiert gegen das "System" und das ohne Gewalt. Am Ende jedes Demonstrationstages werden die Straßen gereinigt, bis die Feier der Freiheit am kommenden Freitag neu anfängt.

Gestern war es der sechste Freitag in Folge, wieder haben Massen die Straßen gefüllt. Nicht nur in der Hauptstadt Algier, sondern in allen Provinzen (wilayat), wie es TSA (Tout sur l' Algérie), berichtet "Alles über Algerien"): "Die Demonstrationen haben sich ruhig abgespielt - in allen Verwaltungsbezirken des Landes. Kein einziger bemerkenswerter Vorfall wurde registriert. Die Mobilisierung ist noch stärker als am vergangenen Freitag."

Wie lange kann das gut gehen?

Genaue Zahlen gibt es nicht, aber das ist auch gar nicht notwendig, weil die Mobilisierung für sich spricht. Wie immer zeigen Bilder von dichtgedrängten Menschenmengen im Zentrum von Algier und anderen Orten: Oran, Constantine, Annaba, Relizane, Biskra, Mostaganem, Sétif, Bejaia, Bouira, Boumerdes, Tizi Ouzou, Sid Bel Abbès, Oran, Tiaret, Tebessa, Saida, Adrar, etc. Die Bilder dokumentieren die nächste geschichtliche Etappe, die sich nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich und dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren in die kollektive Erinnerung einschreiben wird.

Hunderte von Verlobungen wurden eingegangen, hieß es vergangene Woche. Die Proteste sind auch ein Fest. Der Enthusiasmus, der die Proteste trägt, wird in vielen Berichten als Charakteristikum herausgestellt. Wie lange kann das gut gehen?

Gestern gab es Bilder von Wasserwerfern der Polizei, die den Zugang zum Boulevard Mohamed V. am Place Audin in Algier abriegelten. Es ist nicht der einzige Ort, wo die Sicherheitskräfte seit mehreren Wochen schon aufpassen, dass die Massen sich nicht ungeordnet verbreiten und Meuten bilden könnten, die sich an politisch neuralgischen Orten zu schaffen machen, etwa beim Regierungspalast oder dem Sitz von "Sonelgaz".

Das staatliche Energieversorgungsunternehmen, ein Monopolist im öl- und erdgasreichen Algerien, mit engen Wirtschaftsbeziehungen zu den USA steht für das, wogegen die Proteste letztlich zielen: "Le Pouvoir", zu Deutsch "die Macht", der Klüngel, der das Land kontrolliert und das, was es abwirft, und das ist vor allem das Einkommen aus der Erdöl- und Erdgasförderung, als Löwenanteil unter sich verteilt.

Noch kein Verteilungskampf

Soweit, dass der politische Protest deutlich und offen als Verteilungskampf sichtbar wird, ist es allerdings noch nicht. Es wird von beiden Seiten eine gewisse Distanz eingehalten; der Protest ist noch im "Entwicklungsbad", was genau konturierte politischen Forderungen betrifft. Die müssen sich erst herauskristallisieren.

Aber der Protest zielt aufs Ganze, gegen "das System". Und das Herrschaftssystem, das man beinahe zwanzig Jahre in Ruhe gelassen hatte, nach den Trauma von weit über hunderttausend Toten im Bürgerkrieg, versucht, Zeit herauszuholen.

Unter der Woche hatte der Chef des Generalsstabs einer Ursprungsforderung der Proteste nachgegeben. General Ahmed Gaïd Salah, mit 79 Jahren eindeutig der alte Garde zugehörig und bisher Verbündeter des Präsidenten Bouteflika (82), schlug ein Verfassungsprozedere zur Ablösung des Präsidenten vor.

Dazu verwies er auf Artikel 102 der algerischen Verfassung. Der sieht Mechanismen für den Fall einer schweren Erkrankung, welche die Ausübung des Präsidentenamtes erheblich behindert, vor.

Sie wollen eine echte Veränderung

Der Vorgang ist nicht einfach. Man kann ihn aber aus Sicht der Proteste auf eine einfache Formel bringen: Sehr viele sind nicht einverstanden, wie sie auf vielen Plakaten am gestrigen Freitag bekundeten. Sie sehen es nur als Ausflucht, damit sich das System wieder fangen kann und bleiben, sie wollen aber eine echte Veränderung.

Wobei es eine Gemeinsamkeit gäbe, nämlich Wahlen. Laut Artikel 102 müssten sie, sobald zwei Drittel der beiden Kammern erklären, dass der Präsident sein Amt wegen seiner Erkrankung nicht ausüben kann. Dann würde ein Interimsstaatschef das Amt mit beschränkten Kompetenzen übernehmen und allerspätestens nach 90 Tagen müsste eine neue Präsidentschaftswahl abgehalten werden.

Das ist wenig Zeit, merkt ein Ökonom an, der sich Sorgen um die wirtschaftliche Stabilität des von Öl- und Gasexporten vollkommen abhängigen Staates macht. Man kann vermuten, dass er sich, wie so viele andere in der Elite Algeriens selbst auf die Suche nach einem sicheren Platz macht. Die Proteste haben eine ganze Reihe von bekannten Trägern des bisherigen Systems zu Überläufern auf die Seite der Veränderung, d.h. gegen Bouteflika, gebracht, ohne dass klar wird, wofür sie jetzt stehen. Neue Posten, neue Macht- und Besitzverhältnisse, aber das System bleibt?

Die Proteste fordern eine grundlegende Veränderung: Die sofortige Abdankung des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika, einen Übergang, der neue demokratische Wahlen organisiert - also nicht nur Präsidentschaftswahlen - und die Ausarbeitung einer anderen Verfassung: eine zweite Republik.

Zum eigenartigen Phänomen der Massenproteste in Algerien gehört auch die auffallende internationale Zurückhaltung. Es gibt noch(?) keine Stimmen aus den Regierungen, die sich vernehmbar laut dazu melden. In Frankreich hat nun auch Außenminister Le Drian gemerkt, dass die außerordentliche Friedlichkeit und das Gewicht der Proteste politisch nicht ohne Wirkung auf die Machtverhältnisse in Algerien sein kann und aus den USA gab es Regierungsäußerungen, die Unterstützung für die Proteste signalisierten.

Geopolitisch ist das große Land Algerien mit seiner zentralen Stellung in Nordafrika nicht gerade unwichtig. Die Auswanderer aus Algerien sorgten in Deutschland für viele hitzige Diskussionen, Stichworte dafür lieferten die Kölner Silvesternacht, die Polizeischmähkennzeichnung "Nafris" und die Diskussion über "sichere Herkunftsländer", wo das repressive System mit seinem harten Sicherheitsapparat in Algerien zur Sprache kam. So genau wollten aber viele gar nicht hinschauen.

Die Geheimdienste und die Verschwörer

Zur Machtfrage in Algerien gehört im Kern, wie sich die Geheimdienste verhalten werden (Droht in Algerien die Machtübernahme der "Dienste"?). Dazu dringt nichts nach außen. Die Macht bleibt ihrer öffentlichen Unerforschlichkeit treu. Überläuferbewegungen von bekannten Schlüsselfiguren signalisieren aber, dass man sich auch dort nicht mehr gegen die Dynamik der Proteste abschotten kann und rettende Ufer sucht.

Eine politische Zukunft mit Aussichten auf eine Neuausrichtung, die der algerischen Disapora das Gefühl gibt, das sie Algerien etwas aufbauen können, wäre etwas, das neue Hoffnung gibt - gerade angesichts der finsteren Aussichte, die ansonsten zur Jugend in anderen arabischen Ländern gemeldet werden.

Dass sich die westlichen Staatschefs entgegen ihrer Gewohnheiten bislang mit Einmischungen zurückhalten, ist politisch klug und fällt auf; wie auch das Fehlen der sonst üblichen "Verdächtigen": Es gibt noch keine Verschwörungstheorien, die Aufmerksamkeit erregt hätten (und dies angesichts der verzweigten und schwierigen Beziehungen zu Frankreich). Es wird kein Soros für die "samtene Revolution" verantwortlich gemacht. Bisher fielen auch noch keine Hintergrundberichte über eine Steuerung der CIA oder die Rolle des Mossad auf.

Auch zu Russland gibt es - mit Ausnahme vielleicht eines eher zurückhaltenden Tweets von Kamel Daoud, der über eine gewisse Leserschaft verfügen dürfte - nichts Auffälliges, das die Machtinteressen und die Dämonie des Kremls unter Putin auch in dieser staatsbewegenden Angelegenheit betont.

Sogar der Antisemitismus und der Islamismus lieferten noch keine Schlagworte, die die Proteste in Algerien in bekannte Muster eingeordnet hätten: Das Desinteresse an den Massendemonstrationen ist phänomenal.