Organspende: wider die Widerspruchsregelung

Die vom Bundesgesundheitsminister geplante Widerspruchslösung verletzt das Recht auf Selbstbestimmung und zerstört den Akt der Spende

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In Deutschland gibt es nicht genügend Organspender, um allen Patienten, die es nötig haben, eine Organtransplantation zu ermöglichen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will mit der Einführung der Widerspruchsregelung die Zahl der Organspenden erhöhen. Demnach würde jeder Mensch automatisch als Organspender gelten, sofern er nicht ausdrücklich widersprochen hat. Bisher ist es genau umgekehrt: Man muss zu Lebzeiten einer Organspende im Falle des Hirntods ausdrücklich zustimmen. Und wenn eine solche Zustimmung nicht vorliegt, dürfen Angehörige anhand des bekannten oder mutmaßlichen Willens des Betroffenen entscheiden.

Keine Frage, Organspenden können Leben retten. Ein gespendetes Herz oder eine gespendete Niere bedeuten für schwerkranke Menschen das Geschenk zusätzlicher, weitgehend unbeschwerter Lebensjahre. Viele Menschen warten sehr lange Zeit auf ein Spenderorgan und viele davon sterben, bevor sie ein Organ erhalten.

Das von Spahn geplante Gesetz zielt darauf, diesen Zustand zu ändern und mehr Kranken eine lebensrettende Organtransplantation zu ermöglichen. Doch so nobel das Ziel, so inakzeptabel ist das Mittel. Denn mit der Widerspruchsregelung würden über Nacht Millionen Menschen, die sie sich nie dazu geäußert haben, zu potentiellen Organspendern erklärt. Nicht vorhandene Zustimmung würde zur Zustimmung umgedeutet. Das verletzt das Prinzip der informierten Einwilligung, das für Medizinethik und Medizinrecht fundamental ist. Demnach darf ein medizinischer Eingriff nur dann vorgenommen werden, wenn eine ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen vorliegt. Und diese Zustimmung muss auf der Grundlage ausreichender Information über den Eingriff und seine Konsequenzen erfolgen. In der informierten Einwilligung wird das grundgesetzlich verbürgte Recht auf Selbstbestimmung Wirklichkeit.

Doch endet das Selbstbestimmungsrecht nicht mit dem Tod? Nein, das tut es nicht. Wir verfügen mit Testamenten schließlich auch über Angelegenheiten nach unserem Ableben. Vor allem ist es keineswegs klar, ob der Hirntod tatsächlich mit dem Tod gleichzusetzen ist. Auch wenn das Transplantationsgesetz indirekt den irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen als Tod des Menschen definiert, kollidiert diese Definition mit dem Empfinden vieler Menschen. Und sie haben ja gute Gründe auf ihrer Seite. Denn auch wenn ein hirntoter Mensch künstlich beatmet wird, funktioniert die Zellatmung von allein, das Herz schlägt, der Stoffwechsel arbeitet, Reflexe treten auf, der Körper ist warm. In mehreren Fällen haben hirntote Schwangere ein Kind ausgetragen. Leichen aber kriegen keine Kinder.

Auch wenn es bei der strittigen Hirntoddefinition bleibt, muss die Entscheidung darüber, was mit einem Menschen in diesem Zustand geschieht, diesem selbst überlassen bleiben, und zwar in Form einer ausdrücklichen Entscheidung. Schweigen bedeutet nicht Zustimmung. "Wer nicht widerspricht, stimmt zu", diese Folgerung ist unzulässig. Alles, was sich sagen lässt, ist: Wer nicht widerspricht, der widerspricht nicht. Vielleicht weil er oder sie unschlüssig ist, nicht darüber nachgedacht hat, sich nicht auskennt - wer weiß.

Die Widerspruchsregelung verletzt das Recht auf Selbstbestimmung an einer besonders sensiblen Stelle, nämlich in Bezug auf unseren eigenen Körper. Auch dass die Widerspruchslösung in anderen westlichen Ländern gilt, ist kein gutes Argument. Denn das heißt lediglich, dass dort das Selbstbestimmungsrecht in diesem Punkt beschnitten wird.

Die Widerspruchsregelung soll die Zahl der Organspenden erhöhen, doch tatsächlich zerstört sie das Wesen der Organspende. Denn Spenden ist ein freier, bewusster Akt. Wer spendet, hat sich dafür entschieden, zu geben. Eine automatische Spende ist keine Spende. Wer die Widerspruchslösung befürwortet und gleichzeitig noch von Organspende spricht, macht sich und anderen etwas vor.

Weil Organspenden Akte großzügiger Selbstlosigkeit sind, sind Organe keine medizinischen Ressourcen wie Kanülen oder Magnetresonanztomographen. Man kann nicht das "Organaufkommen" erhöhen wie die Personalausstattung im Krankenhaus. Ein Satz wie "Wir brauchen mehr Organe" ist so grotesk wie: "Ich muss mehr Weihnachtsgeschenke bekommen." Auch ist es irreführend, wenn gesagt wird: "Jedes Jahr sterben 2000 Menschen, weil sie auf ein Spenderorgan warten." Sie sterben nicht an einem Organmangel, sondern an Nierenversagen oder Leberzirrhose.

Doch ist es nicht die Pflicht eines jeden, über die eigene Spendebereitschaft nachzudenken? Und würde die Widerspruchsregelung nicht diesem Nachdenken auf die Sprünge helfen? Ob es eine Pflicht zum Nachdenken gibt, ist zumindest fraglich. Noch fraglicher ist es, ein solches Nachdenken durch eine rechtliche Regelung quasi zu erzwingen. Man kann es anraten, aber nicht abnötigen. Vor allem aber: Selbst wenn man von einer solchen Pflicht zum Nachdenken ausgeht, haben wir ganz gewiss nicht die Pflicht, dabei zu einer eindeutigen Entscheidung zu kommen. Zumal eine solche vielen Menschen alles andere als leichtfällt, denn sie befinden sich in einem Dilemma von Hilfsbereitschaft einerseits und dem Wunsch nach einem würdigen Tod jenseits der Intensivmedizin andererseits. Allen, die davon überfordert sind und die sich nicht zu einer Entscheidung durchringen können, nähme das Gesetz des Gesundheitsministers die Entscheidung ab. Die Widerspruchsregelung trickst die Überforderten und Unsicheren aus.

Hinzu kommt, dass der entscheidende Faktor für die Zahl an Organspendern gar nicht die individuelle Spendebereitschaft ist, sondern die Organisation in den Kliniken, die Befugnisse und Zeit der Transplantationsbeauftragten, die Vergütung, die Zugänglichkeit der Hirntod-Diagnostik und die ärztliche Erfahrung damit. All das hat der Gesetzgeber bereits vor kurzem durch neue gesetzliche Regelungen verbessert. Die Widerspruchsregelung ist nicht nur illegitim, sondern auch unnötig.

Schließlich: So viele Hirntote gibt es pro Jahr überhaupt nicht. Die Zahlen werden also auch mit einer Widerspruchslösung nicht exorbitant steigen. Für ein paar mehr Organspender würde das Selbstbestimmungsrecht von Millionen Menschen ausgehöhlt. Das ist nicht akzeptabel.

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