IS-Mitglieder in kurdischen Lagern: "Tickende Zeitbombe"

Bild: kurdische Nachrichtenagentur ANHA

Berichte aus al-Hol beschreiben große Spannungen: "Superwütend, weil keine Lösung in Sicht"

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Die Situation im Krankenhaus sei tragisch, so Aydin Sleiman Khalil. Das Krankenhaus, das er leitet, wird als Zentrum der Gesundheitsversorgung in Nordostsyrien bezeichnet. Es befindet sich in der Provinz al-Hasakah, die unter der autonomen Verwaltung der Kurden steht, die mit den SDF (Syrische Demokratische Streitkräfte) verbunden sind.

In das Krankenhaus werden die IS-Mitglieder eingeliefert, die bei den Luftangriffen der Anti-IS-Koalition, vornehmlich der US-Airforce, und der anhaltenden Offensive der SDF-Bodentruppen im Südosten Syriens gegen Reste des "Islamischen Staates" schwer verletzt wurden. Oft handelt es sich um Kinder.

Kleine Kinder, die an schweren Brandverletzungen im Gesicht leiden oder an Unterernährung - der Exodus der Dschihadistenfamilien und Zivilisten der letzten IS-Enklave überwältigt die Krankenhäuser.

Al-Monitor

Es gebe eine Handvoll Krankenhäuser im kurdischen Nordosten Syriens, berichtet al-Monitor. Sie würden täglich Dutzende von Patienten aufnehmen, häufig sehr junge Opfer, die fürchterlich entstellt seien. Erklärt werden die Brandverletzungen mit Granatenbeschuss; Bilder, die auf Twitter kursieren, zeigen ebenfalls Opfer mit schwersten Verbrennungen, erklären dies aber mit Munition, die bei Luftangriffen verwendet würde. Fakten sind von außerhalb schwer zu erhalten, die Möglichkeit, die Bilder für propagandistische Kriegsführung zu nutzen, liegt auf der Hand.

Informationslücken

Vieles am Sieg über den IS in seiner "letzten Bastion" Baghouz (in deutschen Medien oft: Baghus), der Ende März internationale Schlagzeilen machte, entzieht sich der genauen Nachfrage. Wie kam es, dass sich so viele IS-Mitglieder dort verschanzt hatten und keiner hatte es zuvor "auf dem Radar"?

Wo war die Militäraufklärung, deren technische Fähigkeiten auf zahllosen Waffenmessen gerühmt wird, die IS-Führer aus Angst vor Drohnenangriffen aus heiterem Himmel dazu bringt, sich nur in Häuserverstecke fahren zu lassen, wo der Weg zwischen Auto und Hauseingang nicht einsehbar ist?

Hatte die Luftaufklärung der Anti-IS-Koalition tatsächlich keine Ahnung, was in Boughouz vorgeht? Dass sich dort mehrere zehntausend Menschen versteckten? Sind sie alle nur in kleinen, nicht auffälligen, gut verteilten Gruppen dorthin gekommen? War das Tunnelsystem so raffiniert?

Alle Welt war überrascht, dass die lange (und verlustreiche) Offensive der SDF Tag für Tag neu Tausende von Personen zur Aufgabe zwang, die Reihen der Aufgebenden wollten gar nicht aufhören. Bis es dann hieß, dass das Aufnahmelager bei al-Hasakah auf über 70.000 Insassen angewachsen war, weil der Andrang an Menschen aus dem Südosten so stark war.

Baghouz ist ein relativ kleiner Ort. "Beim Zensus 2004 hatte der Ort gut 10.000 Einwohner", so etwa die Auskunft von Wikipedia. 2004 war lange vor dem Krieg in Syrien und ohnehin kann man solche Informationen nur als ungefähre Orientierung nehmen. Es bleibt die Verwunderung. Sogar noch, als es hieß, dass dem IS-Rest nur mehr ein Quadratkilometer blieb, folgten Bilder von unübersehbar vielen, die sich den SDF ergaben.

Wie wurden derart viele IS-Mitglieder in Baghouz versorgt?

Kämpfe gehen weiter, es bleibt unübersichtlich

Die Kämpfe in Baghouz sind noch nicht zu Ende. Es gibt noch immer "Die hards", hartnäckige Kämpfer und, was die eingangs erwähnte Meldung vermuten lässt, Frauen und Kinder, die sich dort aufhalten. Jedenfalls zeigen kurze Nachrichten und Bilder auf Twitter, dass noch immer scharf geschossen wird und auch weiter aus der Luft angegriffen wird. Das Grauen ist nur aus der Wahrnehmung der größeren Öffentlichkeit verschwunden.

Auch im großen Bild ist die Situation wenig übersichtlich. Es gibt keine übereinstimmenden Angaben über die Zahlen der IS-Mitglieder im Sammellager al-Hol, etwa 30 Kilometer von der Stadt al-Hasaka entfernt, das insgesamt mittlerweile weit über 72.000 Menschen beherbergt und ebenso wie die Krankenhäuser mit der Versorgung überfordert ist. Offenbra ginbt es nur sehr wenige medizinische Teams, aber eine große Menge an Kinder, die an Unternährung und Darmkrankheiten leiden.

Dazu kommen Konflikte unter den Bewohnern.

Männer, darunter wahrscheinlich auch IS-Kämpfer, die aber angaben, lediglich als Koch oder in zivilen Bereichen des IS-Kalifats aktiv gewesen zu sein, sind von Frauen und Kindern getrennt untergebracht. Die Frauen und Kinder, die vom IS kommen, werden wiederum von anderen getrennt, in eigenen Quartieren untergebracht, wird berichtet. Trotzdem kommt es zu Auseinandersetzungen, etwa aus religiös-ideologischen Gründen, weil einige sektengleich an striktesten Sharia-Auslegungen festhalten. Auch Streitigkeiten, die mit Unterbringung und der Verteilung der Versorgung zu tun haben, sind häufig.

Die Aufklärung darüber, wie viele IS-Anhänger genau sich in al-Hol - und anderen Lagern - aufhalten und zurück in europäische Herkunftsländer wollen, ist offenbar schwierig. Es gibt noch keine konkreten, "belastbare Zahlen". Es kursiert die Zahl von 9.000 ausländischen IS-Anhängern, wie sie etwa die Washington Post berichtet (siehe: Zamanalwasl).

"Aber die größte Herausforderung, die sich uns stellt, sind die äußerst frustrierten Bewohner des Lagers (al-Hol, Anm. d. A.)", sagt der Vertreter der Verwaltung und fügt hinzu, dass Frauen im Lager, die aus anderen Ländern kommen (es sollen über 50 Länder sein, Anm. d. A), eine ganz besondere Herausforderung für die Hilfsorganisationen und die Verwaltung stellen.

"Sie sind superwütend, weil keine Lösung in Sicht ist", sagt der Verwaltungsvertreter über die grob 9.000 Fremden, die aus Ländern wie Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine stammen. "Das ist eine große, tickende Zeitbombe."

Zamanalwasl, (Washington Post)

Dann wären die anderen über 60.000 Lagerbewohner folglich aus Syrien oder dem Irak (für Flüchtlinge aus dem Nachbarland wurde das Lager al-Hol ursprünglich errichtet)? Nimmt man dies an, so hätten die westlichen Länder das Problem, wie mit etwa 9.000 IS-Mitgliedern zu verfahren wäre. Geht es nach Informationen der Washington Post befinden sich darunter sehr viele Kinder.

Was kann die UN richten?

Bislang haben die europäischen Länder darauf noch keine grundsätzliche Lösung gefunden, außer dass nach Einzelfall entschieden wird, wie es Frankreich herausstreicht. Anwälte französischer Familien wenden sich an die UN. Die Kurden drängen, weil sie mit dem Problem überfordert sind. Auch von Hilfsorganisationen wird berichtet, dass sie nicht alle versorgen wollen.

Auch von anderen wird die Richtung UN eingeschlagen. Mehrere prominenten Juristen werden für ein Internationales Tribunal vorgeschlagen, das sich in Syrien oder im Irak mit den Fällen der IS-Mitglieder befassen soll. Den Vorschlag eines internationales Tribunal hatten die SDF Ende März geäußert.

Bisher findet die Unterstützung für ein Verfahren, etwa nach dem Modell der Aufarbeitung des Krieges in Ex-Jugoslawien, wie es Belgien vorgeschlagen haben soll, eher im Hintergrund statt. Zu den Schwierigkeiten, die dazu aufgelistet werden, gehört auch, dass Syrien wie auch der Irak das Statut von Rom nicht unterzeichnet haben.

Indessen deuten Unwetter in Nordsyrien auf die Möglichkeit, dass sich die dramatische Situation in den Lagern noch weiter verschlimmern kann. Und Berichten zufolge gibt es auch innerhalb der SDF Spannungen. Arabische Kämpfer der Syrischen Demokratischen Streitkräfte gehören Stämmen an, die sich nach Informationen von Al-Monitor derzeit der Regierung in Damaskus annähern.

In der Folge soll sich der Druck auf die Kurden vergrößern, mit der Regierung al-Assad zu einer Verständigung zu kommen. Was dann mit den IS-Kämpfern in den kurdischen Gefängnissen ("Hasaka Central Prison in Gweiran") oder den Frauen und Kindern, die zum IS gehörten, passieren würde, ist völlig unklar.

Das andere Emirat

Bis auf weiteres stehen allerdings die USA mit ihrer Militärpräsenz in Syrien vor jeder Lösung, die die Lage im Land in irgendeiner Weise entscheidend anders ordnen würde. Für al-Assad und seine Verbündeten ist das andere große Dschihadistenproblem, nämlich in Idlib, das aufdringlichere.

Es ist ebenfalls schwer zu lösen. Die al-Qaida-Abspaltung al-Nusrah-Front unter ihrem nun nicht mehr ganz so neuen Namen Hayat Tharir al-Sham (HTS) ist bei ihrem Emirat in Idlib geschickter vorgegangen als der IS. Sie bietet nicht die gleiche Front und die gleichen Angriffsmöglichkeiten, zudem haben ihr weder die USA noch ihre westlichen Verbündeten den Krieg erklärt.

Ganz im Gegenteil, so der Eindruck, ist ihr der Block, den HTS in Idlib gegen die Rückeroberungsziele der Regierung in Damaskus setzt, politisch willkommen. Solange es um die Gegnerschaft zu Baschar al-Assad geht und darum das Land schwach zu halten, sind die Lösungen einfach. Sehr viel schwieriger wird es, wenn es um konstruktive Lösungen geht.