Kosovo-Krieg: Türöffner für weltweites militärisches Eingreifen

U.S. Marines mit CH-46 Sea Knight Hubschraubern (Camp Bondsteel Airfield, Kosovo 2002). Bild: U.S. Army

Vor 20 Jahren, am 24. März 1999, begann der Kosovo-Krieg: Von Ursachen, Hintergründen und Folgen eines bis heute kaum aufgearbeiteten Ereignisses

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Das Argument der Appeasement-Politik: Wer den Krieg gegen Hitler begrüßt, muss auch den Krieg gegen Jugoslawien befürworten

Galt im Kalten Krieg die Befürwortung von Aufrüstung und die Unterstützung militärischer Aktivitäten lange Zeit als eine Frage der richtigen Gesinnung, so veränderte sich dies nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion. Kriege sollten fortan nicht mehr für geostrategische Interessen, sondern zum Schutz von Menschen und Menschenrechten als "humanitäre Interventionen" geführt werden. Ohne Feindbild schien vielen die Aufgabe der NATO nur mehr im Rahmen von UNO-Einsätzen akzeptierbar. Diesem Bedeutungsverlust wollte das Transatlantische Bündnis entgegenwirken.

Im öffentlichen Diskurs inszenierten sich Kriegsbefürworter nun also nicht mehr als Verteidiger eines wie auch immer zu definierenden Raumes, sondern als Beschützer der Menschenrechte. Um diese - von den Fakten häufig nicht gestützte - Position argumentativ abzusichern, griffen Interventionsbefürworter deshalb zu einem Beispiel aus der Geschichte, das oberflächlich betrachtet geeignet schien, die eigene Position zu stärken. Der argumentative Kunstgriff bestand darin, den Widerstand gegen eine Militärintervention in den 1990er Jahren mit der Unterstützung der sogenannten Appeasement-Politik der 1930er Jahre zu verknüpfen.

So war es auch 1998/99: Nachdem Serbien das neue "Dritte Reich" sein sollte, lag die Übertragung der heute negativ bewerteten britischen Politik der Zurückhaltung gegenüber den Nationalsozialisten auf NATO-Kritiker nahe. Als Vater der Appeasement-Politik gegenüber Deutschland gilt der britische Premierminister Ramsay MacDonald, der schon auf der Konferenz von Lausanne 1932 Frankreich zu Nachgiebigkeit gegenüber deutschen Revisionsforderungen in Bezug auf den Versailler Vertrag gedrängt hatte. In der Hoffnung, einen europäischen Krieg durch Zugeständnisse, Beschwichtigung und Entgegenkommen zu verhindern, stimmte MacDonalds Nachfolger Neville Chamberlain 1938 im sogenannten Münchner Abkommen der Annexion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich zu. Da der weitere Verlauf der Geschichte die auf einem vertraglich vereinbarten Sicherheitssystem auf der Grundlage des Völkerbundes oder anderer internationaler Abkommen basierende Appeasement-Politik desavouierte, konnten Befürworter einer bewaffneten Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten sich 1999 argumentativ darauf beziehen.

Ohne Fakten, auf der Ebene der Ideologie, hatten die Interventionsgegner dem stichhaltigsten Argument der Befürworter, dass man nämlich mit dieser Gesinnung nie Krieg gegen Hitler-Deutschland hätte führen können, nichts mehr entgegenzusetzen. Das Scheitern einer Politik des Entgegenkommens als Argument für militärische Eskalation oder gar Präventivkrieg zu verwenden, ist nicht neu und war u.a. schon im Falkland-Krieg 1982 und vor dem Angriff auf den Irak 1991 von Interventionsbefürwortern als abschreckendes Beispiel propagiert worden. 2003 mit der Invasion des Iraks sowie 2011 mit der Einmischung in den libyschen Bürgerkrieg sollte es erneut zur Anwendung kommen. In den ersten Monaten 2012 kursierte dieses Argument in Bezug auf einen möglichen US-amerikanisch-israelischen Angriffskrieg gegen den Iran. Dass jede militärische Eskalation eines Bürgerkriegs die Anzahl der Toten massiv erhöht - im Fall Kosovo hat sie sich durch das NATO-Eingreifen mehr als verzehnfacht1 -, wird dabei ignoriert.

Kosovo war nicht Bosnien: Warum die NATO den Kosovo-Krieg führte

Die Beendigung des Bosnien-Kriegs durch die NATO, wiederholt als Argument für die Kosovo-Intervention interpretiert, ist mit der Situation von 1999 nicht vergleichbar. Während beim Eingreifen in Bosnien die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates vorlag, fehlte diese später.

Eine Straße in Belgrad nach NATO-Bombardement. Bild: Snake bgd / Public Domain

Aber auch abseits der völkerrechtlichen Dimension gab es beträchtliche Differenzen: Im Kosovo provozierte eine von BND und USA ursprünglich als Terroristen bezeichnete Gruppe2 ein bewaffnetes Eingreifen der Staatsmacht, während in Bosnien drei Bürgerkriegsparteien gegeneinander kämpften. Kosovo hätte, das zeigen die Erfolge der keineswegs wie vorgesehen unterstützten OSZE-Mission KVM, durchaus befriedet werden können, ohne dass ganz Jugoslawien mit einem - ein weiterer Unterschied zu Bosnien - Massenbombardement über mehrere Monate hätte belegt werden müssen.

Doch 1999 standen handfestere Interessen im Raum: Die Umwandlung der NATO von Verteidigung zu Out-of-Area-Einsätzen.3 Der Schutz der Albaner war Nebensache.

Drei wichtige Ziele des Militärpakts lassen sich feststellen:

  1. zu zeigen, dass er nach dem Ende des Kalten Krieges noch eine Aufgabe hatte,
  2. sich vom Defensiv- zum Interventionsbündnis zu wandeln und
  3. der Profit einzelner Mitglieder. Deutschland beispielsweise, das erstmals seit 1945 Krieg führte, gewann außenpolitischen Handlungsspielraum. Den größten Erfolg verbuchten die USA. Ihnen gelang es, ein Exempel zu statuieren: die Lösung der NATO aus dem Veto-Bereich des UN-Sicherheitsrates. Bei Fragen der globalen Sicherheit sollte zukünftig die NATO Vorrang vor der UNO haben.

So wurde der Kosovo-Krieg zum Türöffner für weltweites militärisches Eingreifen der westlichen Staatengemeinschaft, die ihre ökonomischen, strategischen und geopolitischen Interessen nun unter dem Mantel humanitärer Hilfe wahrnimmt. Bestehende Konflikte werden durch diese Einmischung radikalisiert und vergrößert, bis sie eskalieren.

Im Kern geht es der NATO jedoch nicht um die Durchsetzung und Wahrung der Menschenrechte, sondern um eine Machtpolitik, die in der Tradition von Imperialismus und Great Game steht. Nicht Menschenleben, sondern Märkte, nicht humanitäre Hilfe, sondern Truppenstationierung und Ressourcenkampf sind der Motor der neuen Kriege. Kosovo stand dabei am Anfang. Die argumentativ erfolgreiche Bezugnahme zum Holocaust ebnete damit zugleich den Weg zu weiteren Kriegen (Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen 2011), in denen mit der Begründung, einen Diktator zu bekämpfen, die Strategie des Regime-Change verfolgt und mit unterschiedlichem Erfolg umgesetzt wurde.

Ein neuer Kalter Krieg?

Auch wenn durchaus nicht immer alle NATO-Mitglieder am selben Strang zogen (kleinere waren oft mehr oder weniger gezwungen mitzumachen, um nicht selbst in Gegnerschaft zu den USA zu treten; Frankreich und Deutschland unterstützten den Krieg gegen den Irak 2003 militärisch nicht) und die NATO teilweise tatsächlich "nur" der verlängerte Arm der USA war, so war und ist ein interventionistisch agierendes Nordatlantisches Bündnis durchaus auch im Interesse der Europäer bzw. bestimmter Kapitalgesellschaften. Analog zur "Big-Stick-Policy" der USA im 19. Jahrhundert schafft die NATO militärisch Fakten, wo die Diplomatie in ihrem Bemühen um Marktöffnung und günstigerem Zugang zu Ressourcen an Grenzen stößt.

Die Verbindung transnationaler Konzerne und Militärs aus dem Raum des Nordatlantikpakts verschärfte und verschärft dabei auch die Spannungen mit China und Russland wirtschaftlich und militärisch (als Beispiel seien der Krieg in der Ukraine, die Abspaltung der Krim sowie Wirtschaftssanktionen, eine weitere Form des Krieges, genannt) und stärkt in diesen beiden Staaten genau diejenigen Elemente, die ihrerseits im neuen Kalten Krieg eine Möglichkeit sehen, sich zu profilieren, abzugrenzen und die Welt wieder in Einflusssphären aufzuteilen.

In einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung "muss" die NATO damit die Bürgerinnen und Bürger ihrer Mitgliedsstaaten vor jenen schützen, die sie durch ihre Ost-Erweiterungspolitik und durch ihre militärische Interventionspolitik provoziert. Damit kann der ökonomisch-militärische Komplex der westlichen Industriestaaten das Fortbestehen seines "Big Sticks" NATO auch mittelfristig weiterhin rechtfertigen. Westliche Werte oder der Verweis auf die Menschenrechte sind dabei häufig nur der äußere Schein, der von den im Kern geostrategisch und ökonomisch geprägten Interessen des Bündnisses ablenken soll.

Und hier schließt sich ein Kreis, der mit der antiserbischen Haltung im jugoslawischen Bürgerkrieg ab 1992 begonnen hatte, mit der Umwandlung der NATO von Verteidigung zu Intervention anlässlich des 50-sten Geburtstags des Bündnisses im April 1999 auf dem Höhepunkt des Kosovo-Krieges fortgesetzt wurde und durch weitere Kriege und Krisen bis in die Gegenwart andauert. Die Rivalität mit Russland und China (die ihrerseits keineswegs "die Guten" sind, sich politisch und militärisch ähnlich verhalten und untereinander eher durch einen gemeinsamen Feind als durch gemeinsame Interessen zusammengehalten werden) hat einen neuen Kalten Krieg hervorgebracht, für dessen Entstehung das Transatlantische Bündnis zwar nicht die alleinige, aber doch die maßgebliche Verantwortung trägt.

Dies hat zur Folge, dass die Existenz der NATO - die 1949 mit dem Anspruch gegründet worden war, Westeuropa vor dem Ausdehnen des Kommunismus zu schützen - auch 30 Jahre nach Ende des Kommunismus in Mitteleuropa und 28 Jahre nach der Selbstauflösung des langjährigen militärischen Rivalen Warschauer Pakt im öffentlichen Diskurs ihrer Mitgliedsländer nahezu unumstritten ist. Dadurch blieb eine Chance auf eine friedlichere, weniger militärische Welt nach 1991 ungenutzt.

Die heutigen globalen politischen und militärischen Turbulenzen sind, wie der Hildesheimer Historiker Michael Gehler überzeugend darlegt4, somit auch eine Folge der damaligen politischen Versäumnisse. Die gegenwärtigen Konflikte (nicht nur auf dem Balkan) konstruktiv zu bewältigen und einer dauerhaften friedlichen Lösung zuzuführen, wird allerdings ohne eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit nicht gelingen.