Syrien: Verschnaufpause für Rojava?

IS-Fahne wird durch YPJ ersetzt. Bild: Nazım Daştan

Kerem Schamberger über die Kurden und die Rätedemokratie in "Rojava"

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Offiziell ist der "Islamische Staat" besiegt, und die syrischen Kurden stehen erneut vor der Frage: Wie autonom werden unter dem Assad-Regime? Während zudem Erdogans Aufmerksamkeit der Glättung der turbulenten Kommunalwahlen gilt, scheint sich den Kommunen und Genossenschaften in Rojava eine Verschnaufpause zu eröffnen. Gleichzeitig werden sie von der internationalen Gemeinschaft mit 70.000 Kriegsgefangenen im Stich gelassen. Auch Deutschland entzieht sich seiner Verantwortung.

Gemeinsam mit Michael Meyen schrieb Kerem Schamberger "Die Kurden - ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion", das 2018 im Westend Verlag erschienen ist. Neben Buchvorstellungen quer durch Deutschland und der Schweiz promoviert er an der LMU München über das Mediensystem der Kurden. Ein Interview über deutsche Ignoranz, internationale Untätigkeit und die kurdische Utopie.

Am 23.März fiel die letzte IS-Bastion Baghuz. Insgesamt sind 11.000 Kurden gestorben. Wofür?

Kerem Schamberger: Oberflächlich betrachtet sind sie gestorben im Kampf gegen Terrorismus des Islamischen Staates. Viele sind in den Krieg gezogen, weil sie selber Verwandte, Bekannte hatten, die schon im Kampf gefallen waren. Aber natürlich hatten viele Kurden andere Beweggründe, zum Beispiel für Kurdistan zu kämpfen. Kurdistan aber nicht verstanden als Nationalstaat, sondern eine demokratische Autonomie im Staatsgebiet des syrischen Landes, wofür kurz das Projekt Rojava steht.

Das Ziel, für eine wie auch immer geartete kurdische Form von Selbstbestimmung zu kämpfen, war für viele essentiell. Und das konnte es nur dann geben, wenn die Bedrohung durch den IS ausgeschaltet wurde. Das hat sich eine Zeit lang mit den Interessen des Westens gedeckt, deswegen gab es dann auch die Zusammenarbeit zwischen der Anti-IS-Koalition und den kurdischen Kräften.

Übrigens, es sind nicht nur Kurden und Kurdinnen, sondern viele Araber, die sich aus verschiedensten Gründen dem Kampf gegen den IS angeschlossen hatten.

Am 23.März fiel die letzte IS-Bastion Baghuz. Heiko Maas twitterte dazu "Baghus ist befreit! Ein wichtiger Schritt ist getan. IS beherrscht kein Gebiet mehr. Möglich war das nur durch eine beispiellose internationale Zusammenarbeit, zu der Deutschland beigetragen hat."

Kerem Schamberger: Dass Heiko Maas es nicht wagt, die Kurden zu erwähnen, obwohl sie den höchsten Blutzoll zu tragen hatten, ist an Unverschämtheit nicht zu überbieten. Deutschland war zwar Teil der Anti-IS-Koalition, und lieferte Bilder mit Awacs-Aufklärungsflugzeugen. Aber bündnispolitisch stehen sie fest an der Seite der Türkei. Aber was bedeutet das?

Die Türkei war es schließlich, die den IS unterstützt hat. Es gibt mittlerweile auch Interviews mit gefangenen IS-Mitgliedern (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4), die von vielfältigen Beziehungen - wirtschaftlich, politisch, sozial - mit der Türkei erzählen. Es gibt auch ein ausführliches Interview mit dem IS-Botschafter Abu Mansour al Maghrebi, der für die Beziehungen mit der Türkei verantwortlich war, um etwa über die Türkei Tausende von eintreffenden IS-Anhängern nach Syrien zu bringen. Abu Mansour al Maghrebi traf sich regelmäßig mit der MIT, dem türkischen Geheimdienst und anderen staatlichen Stellen.

Die IS-Kämpfer konnten lange Zeit problemlos in die Türkei und zurück, um sich mit materiellem wie medizinischem Nachschub zu versorgen. Das bedeutet, ein Deutschland, das an Seite der Türkei steht, steht indirekt an der Seite des IS, und nicht auf der Seite der Kräfte der Befreiung.

Die Bundesregierung unterstützt finanziell die Syrische Nationale Koalition, und damit dschihadistische Milizen und türkische Rechtsextreme.

Kerem Schamberger: Ja, das ist absurd. Von deutschen Steuergeldern bezahlte Entwicklungshilfe fließt in die von Dschihadisten und direkt von der Türkei besetzten Gebiete. Deutsche Steuergelder leisten finanzielle Hilfe für eine völkerrechtswidrige Besatzung, in der auch noch dschihadistische Elemente maßgeblich das Sagen haben. Die Regierung hat überhaupt keine Kontrolle, was mit diesen Geldern in einem Kriegsgebiet passiert. Das ist nur ein weiterer Baustein in diesem Satzkasten der türkisch-deutschen Beziehungen.

Wohin mit den gefangenen IS-Kämpfern?

Auf Seiten der Kurden würden solche Gelder aber dringend benötigt, um etwa die 70.000 Kriegsgefangenen zu versorgen. Sie appellieren erfolglos an die internationale Gemeinschaft, ihre Staatsbürger zurückzuholen. Was passiert mit denen?

Kerem Schamberger: Das ist ein riesiges Problem. Diese Menschen müssen menschenwürdig untergebracht werden. Die aktiven IS-Kämpfer sind inhaftiert in Gefängnissen. Die Familienangehörigen, die oftmals genauso ideologisch fanatisiert sind, befinden sich in Camps. Ich halte übrigens nichts davon, die Frauen von der Schuld frei zu nehmen, denn im Gebilde des IS haben auch Frauen furchtbare Verbrechen begangen.

Die Ernährung von so vielen Menschen ist ein großes Problem, in einer Gegend, wo Krieg herrscht, in einer Gegend, wo nicht einmal für die eigene Bevölkerung genug zum Leben da ist. Der Irak hat bereits tausende irakisch-stämmige Kämpfer aufgenommen, die kaukasischen und zentralasiatischen Republiken haben angefangen, Leute zurück zu nehmen, aber natürlich geht das viel zu langsam. Und das belastet die Kurden und Kurdinnen sehr stark.

Mittlerweile haben sie den Vorschlag gemacht, einen internationalen Strafgerichtshof einzurichten, finanziert durch die UN oder weltweite Gelder, der für die Verurteilung vor Ort sorgt. Das wäre ja auch eine Möglichkeit, wenn die Finanzierung sichergestellt wäre. Aber das wird nicht passieren.

… dafür müsste man die Kurden anerkennen.

Kerem Schamberger: Genau, daher sagen die anderen Staaten, nein. Dass da nichts passiert, hat ja eine andere Dimension: In den letzten Wochen und Monaten war die Drohkulisse des türkischen Regimes gegen die Gebiete in Rojava sehr hoch. Tausende von türkischen Soldaten als auch Türkei-treue, dschihadistische Kämpfer wurden mobilisiert. Und wenn es wirklich zu einem Angriff der Türkei auf diese kurdischen Gebiete kommen sollte, dann haben die Kurden dort Besseres zu tun, als auch noch 70.000 Dschihadisten und ihre Familien zu überwachen. Da besteht konkret die Gefahr, dass die rauskommen, untertauchen und verschwinden.

Kobane 2018. Bild: Kerem Schamberger

Deutschland weigert sich die deutschen IS-Kämpfer zurückzuholen.

Kerem Schamberger: Die Leute müssen so schnell wie möglich hierhergebracht werden. Wir reden nicht von großen Zahlen. Ich habe vor kurzem mit einem Staatschützer gesprochen, der mir gesagt hat, es handelt sich um ungefähr 100 Leute und ihre Familien. Die Kinder müssen in eine Form von Therapie, weil sie Schlimmes gesehen haben, außerdem müssen sie die IS-Ideologie aus den Köpfen bekommen. Stattdessen wird in dieser Situation darüber debattiert, ob man deutsche IS-Kämpfer ausbürgern sollte, mit der fadenscheinigen Begründung, dass sie für die Armee eines anderen Landes gekämpft hätten. Ganz nebenbei wäre das die Anerkennung des IS als staatliches Gebilde. Prinzipiell, das Problem zu ignorieren und einfach da unten zu belassen, das ist ein absolutes No-Go.

Gibt der vorläufige Ausgang der Kommunalwahlen in der Türkei den Kurden eine kleine Hoffnung?

Kerem Schamberger: Einen kleinen Grund zur Hoffnung gibt es: Bisher sind alle Regierungen und Regimes der Türkei darüber gestolpert, wenn sie angefangen haben, die großen Städte bei Wahlen zu verlieren. Und Ankara und Istanbul zu verlieren, ist ein empfindlicher Schlag.

Man darf die Kommunalwahlen aber nicht überbewerten, weil die Türkei ein zentralistisches Land ist. Die kommunalen Strukturen haben keine große Entscheidungsgewalt. Zudem ist es nicht abgemacht, dass die AKP das Wahlergebnis akzeptieren wird. Die AKP will etwa für Istanbul sämtliche Wahlergebnisse aus allen Stadtteilen anfechten und nochmal neu auszählen lassen. Dann gäbe es die Möglichkeit zu manipulieren, denn die AKP ist über Jahre hinweg zum Teil des Staates und Teil der Stadtverwaltungen geworden.

Die Ergebnisse für die HDP, der Demokratischen Partei der Völker, sind gut, aber nicht überragend. Aber in den ganzen Gebieten, wo die Zwangsverwalter eingesetzt worden sind, ist zu einem großen Teil gelungen, die Zwangsverwalter zu vertreiben und die Bürgermeister zu stellen. Es gibt ein Gebiet, das nicht zurückgewonnen werden konnte. Das ist ausgerechnet die Provinz Sirnak.

Warum siegte die AKP ausgerechnet in Sirnak?

Kerem Schamberger: Sirnak ist in der Türkei immer eine Hochburg der kurdischen Freiheitsbewegung gewesen. Dass die AKP mehrheitlich gewählt wurde, hat mehrere Gründe. Erstens ist diese Stadt 2016 bei der türkischen Militäroperation gegen die Selbstverwaltungsstrukturen der Stadt systematisch zu mehr als zwei Dritteln zerstört worden, so dass ein Großteil der kurdischen Bewohner fliehen musste. Zweitens sind dort wiederum 12000 Soldaten und Polizisten stationiert worden. Und das türkische Wahlgesetz besagt, dass türkische Polizisten und Soldaten dort wählen, wo sie stationiert sind.

Drittens, und das ist etwas komplizierter, wurde für die AKP gestimmt, da der AKP-Bürgermeisterkandidat enge Verbindungen zur staatlichen Wohnungsbaugesellschaft TOKI unterhält. Die Stadt liegt immer noch in Trümmern und die Leute hoffen, dass diese Verbindungen dazu führen, dass die Stadt schnell wiederaufgebaut wird. Da wurde sehr taktisch gewählt und es bedeutet nicht, dass sie sich von den Ideen der kurdischen Freiheitsbewegung distanzieren würden.

Was heißt das aktuell für die syrischen Kurden? Führt die Schwächung der AKP und Erdogans zu einer Verschnaufpause für Rojava?

Kerem Schamberger: Das ist eine interessante Frage. Positiv kann man das so sehen. Man kann das auch negativ wenden. Dadurch, dass Erdogan geschwächt ist, versucht er eine Art Befreiungsschlag durchzuführen. Wie macht man das? Indem man zum Beispiel einen Krieg anzettelt. Wäre nicht das erste Mal.

Natürlich kann Erdogan nicht ein Krieg gegen Rojava einfach so beginnen, denn das ist ein sehr fragiles Kräftegleichgewicht zwischen USA, Russland, Iran und der Türkei. Deshalb kommt es eher darauf an, was Russland und USA dazu sagen. Ich glaube, dass Russland momentan auf die Karte der Verhandlungen zwischen Rojava, also der Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien, und dem Assad-Regime setzt.

In diesen Verhandlungen wird es darum gehen, dass die Kurden nicht einen eigenen Staat wollen, sondern Teil des syrischen Staates bleiben, aber mehr Autonomie bekommen, etwa über eine Föderalisierung, über eine Dezentralisierung, über eine Machtverteilung, sodass einige Kompetenzen weg von Damaskus an die kurdischen Gebiete übertragen werden. Eigentlich ist es eine erfüllbare Forderung, die auch Russland so sieht.

Kobane 2018. Bild: Kerem Schamberger

… Russland hat ja auch viele autonome Gebiete.

Kerem Schamberger: Genau. Aber Assad und das syrische Regime wehren sich noch. Das wechselt zwischen Drohung und Annäherung. Der stellvertretende syrische Außenminister hat kürzlich gesagt, entweder verhandeln wir oder wir holen uns die Gebiete mit Gewalt zurück. Ganz abgesehen, dass sie das nur könnten, wenn sie die Unterstützung durch Russland hätten, denn die militärischen Fähigkeiten der Selbstverwaltungsorgane sind nicht zu unterschätzen.

Letztendlich ist der IS offiziell geschlagen, und jetzt liegen die Karten wieder offen auf dem Tisch. Ich wage derzeit noch keine Prognose. Sicher sagen kann man aber, dass der einzige Weg, diesen Konflikt friedlich zu lösen, derjenige ist, Verhandlungen aufzunehmen zwischen Kurden und dem Assad-Regime. Anders wird es eine friedliche Lösung nicht geben.

Wer könnte bei solchen Verhandlungen vermitteln?

Kerem Schamberger: Gute Frage, eigentlich müssten die Großmächte vermitteln, aber sie haben da kein Interesse. Warum nicht die Europäische Union? Die hat auch ihren Teil beim Bürgerkrieg mitgespielt. Es gab auch Gespräche in Genf oder in der Schweiz, das wäre ein Ort, für solche Gespräche.

Wer noch vermitteln könnte, wäre Frankreich. Frankreich hat immer eine andere Annäherungsweise an die kurdischen Kräfte in Syrien gehabt. Wenn man bedenkt, dass Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten, dass die Kommandantinnen der YPJ, im Élysée-Palast bereits zweimal empfangen wurden, unter anderem von Hollande. Gleichzeitig hat die französische Regierung Drähte zum Assad-Regime. Daher könnte Frankreich ein Mediator dieser Gespräche sein.

"Deutschland steht seit über 100 Jahren prinzipiell auf der Seite der türkischen Staatlichkeit"

Hier wäre das unvorstellbar, ein Empfang der YPG/YPJ in Berlin.

Kerem Schamberger: Unvorstellbar. Man sieht es an der Innenpolitik: Die YPG/YPJ haben den IS bekämpft, aber ihre Symbole sind in Deutschland verboten. Menschen, die sich in sozialen Medien für den kurdischen Kampf bedanken und Bilder mit der YPG-Flagge posten, werden kriminalisiert, ebenso drohen Wissenschaftlern und Journalisten, die sich beruflich mit der YPG/YPJ beschäftigen, Straf- und Ermittlungsverfahren.

Deutschland steht seit über 100 Jahren prinzipiell auf der Seite der türkischen Staatlichkeit, wie auch immer sie organisiert ist, ob Osmanisches Reich oder Türkische Republik. Über dieses Verhältnis definiert sich das Verhältnis zu den Kurden. Man übernimmt die Terror-Definition der Türkei, verbietet mit dieser die PKK 1993 und verfolgt jegliche politische Aktivität von Kurden und Kurdinnen auf deutschem Staatsgebiet.

Das geht eben soweit, dass man die Kurden, die den IS geschlagen haben, und ihre Symbole auch hier mit der aberwitzigen Begründung verfolgt, dass diese Symbole von der PKK "usurpiert" werden, also in Beschlag genommen werden, ohne dafür einen tiefer gehenden Beleg zu bringen.

Wie ist das Verhältnis zu den Kurden in anderen europäischen Ländern?

Kerem Schamberger: Ganz unterschiedlich. In der Schweiz ist die PKK zum Beispiel nicht verboten, sie ist eine legale politische Organisation. Wir haben dort unser Buch "Die Kurden - Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion" vorgestellt, und festgestellt, wie viel größer das generelle Wissen über die PKK und überhaupt über die Kurden ist. Die Leute wissen dort, was der türkische Staat mit den Kurden macht.

In Belgien wurde vor Kurzem in letzter Instanz entschieden, dass die PKK nicht als terroristischer Akteur definiert wird, sondern als ein Akteur innerhalb einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen türkischen Sicherheitskräften, also dem türkischen Staat, und den Kurdinnen und Kurden. So kann etwa eine mögliche Lösung des Konflikts aussehen: Wenn beide Konfliktparteien anerkannt werden, kann man dafür sorgen, dass sie miteinander kommunizieren, und so könnten mittelfristig Friedensgespräche beginnen.

"Eine der größten Frauenbewegungen weltweit"

In Deutschland beschränkt sich das Interesse für die Kurden, wenn überhaupt, auf die syrischen Kurden, und das nur von links. Warum?

Kerem Schamberger: Man muss sagen, dass das Projekt Rojava in vielen Fragen unseren Vorstellungen von Demokratie, vom Zusammenleben, von Gleichberechtigung mehr entspricht als alles andere im Nahen und Mittleren Osten. Deshalb sollten sich viel breitere Teile der europäischen Gesellschaft dafür interessieren.

Das Besondere an Rojava ist, dass dort das erste Mal wieder eine Utopie gelebt wird. Dort wird daran geglaubt, dass Gesellschaft veränderbar ist, nicht so starr und steif wie hier. Und, dass Veränderung menschgemacht ist, und diese auch vom Menschen beeinflusst werden kann. Nicht nur Linken, sondern einfach Leuten, die eine andere Gesellschaft haben wollen, gibt dieses Projekt Hoffnung. Trotz der geringen Solidarität ist das eine starke Ausstrahlungskraft, was Rojava hat. Für viele Menschen weltweit. Zum Beispiel während des Angriffskrieges auf Afrin kommen Solidaritätsbotschaften aus vielen andern Ländern, aus Japan, aus den USA, aus ganz vielen lateinamerikanischen Ländern.

Das Interesse gilt auch der Gleichstellung der Frau.

Kerem Schamberger: Wir haben es mit einer der größten Frauenbewegungen weltweit zu tun! Das spielt in der öffentlichen Aufmerksamkeit jedoch kaum eine Rolle. Neulich habe ich einen Beitrag im deutschen Fernsehen gesehen, dass es wohl Umerziehungsprogramme gibt für dschihadistische Kämpfer. Zum Beispiel arbeiten die in Schreinereien, die von Frauen geleitet werden. Oder bekommen Unterricht in Feminismus und Gleichberechtigung usw. Inwiefern das die Köpfe der Männer verändert, kann ich nicht beurteilen.

Feminismus und Gleichberechtigung haben im Westen viel Theoriearbeit gebraucht, sind auch in längst nicht in den Köpfen aller angekommen. Wie ist das bei den Kurden?

Kerem Schamberger: Dort gibt es eine eigene Wissenschaft der Frau. Die nennt sich "Jineologie". Jegliche Bereiche, ob Wissenschaft, Politik, Soziales, wird aus der Perspektive der Frau untersucht. Die grundlegende Theorie ist Abdullah Öcalan zuzuschreiben, dem Gründer der PKK, der seit 20 Jahren in Isolationshaft sitzt. In dieser Zeit hat er sich zum Denker und Philosophen entwickelt und Tausende von Seiten theoretischer Literatur geschrieben, die in Rojava gerade mehr oder weniger ausprobiert wird. Zur Stellung der Frau hat er zum Beispiel das Buch "Befreiung des Lebens: Die Revolution der Frau" geschrieben.

Er darf offiziell kein Buch schreiben, aber er hat seine Texte als Einreichung an den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach außen bringen können. Die Schriften wurden dann von seinen Anwälten sortiert, als Buch editiert und herausgegeben. 2017 ist Zivilisation und Wahrheit erschienen, und jetzt folgte der zweite Band: Die kapitalistische Zivilisation.

Das ist sehr spannend zu lesen. Und zeigt zudem, was für einen breiten theoretischen Rahmen Öcalan mittlerweile hat. Also weg von nur Marx-Engels-Lenin und hin zu einer Erweiterung des Machtbegriffes, zum Beispiel mit viel Foucault. Er geht auch auf Fernand Braudel ein, auf Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie oder auch auf Adorno. Ganz maßgeblich ist für ihn Murray Bookchin, ein US-amerikanischer Öko-Anarchist, der ganz viel zu kommunalem Zusammenleben und Rätedemokratie geschrieben hat. Davon hat Öcalan viel genommen und an nah-östliche Verhältnisse angepasst. Das ist sehr spannend zu lesen. Auch bewundernswert, denn er sitzt im Gefängnis, hat fast keine Literatur, hat keinen Laptop, muss oft aus dem Kopf zitieren und alles handschriftlich auf Papier bringen.

Ist nicht gerade der Personenkult um Öcalan dem Projekt Rojava hinderlich?

Kerem Schamberger: Ich glaube, es sieht nur für uns im Westen aus wie ein Personenkult. Ohne orientalistisch klingen zu wollen, sind, wie ich glaube, im Nahen und Mittleren Osten starke Führungspersönlichkeiten generell unerlässlich, um Menschen mitzureißen und Menschen für eine Sache zu begeistern. Dennoch ist der Begriff zu relativieren, in dem Sinne, dass wenn Öcalan gesprochen wird, er sozusagen "entmenschlicht" ist. Er ist mehr Idee als Person und hat es ermöglicht, dass in der Türkei Kurden sich noch als Kurden bezeichnen können.

Öcalan würde ich als ein nationales Symbol sehen. Die Kurden haben keinen eigenen Staat, wollen ihn teilweise auch explizit nicht, aber als nationales Symbol dienen ihnen die Berge, oder eben Öcalan.

Werden seine Bücher in Deutschland verkauft?

Da schließt sich der Kreis. Die Bücher wurden bisher über den Mesopotamien Verlag in Neuss vertrieben. Dieser Verlag ist seit einigen Wochen durch einen Beschluss von Innenminister Seehofer verboten. Aber jetzt erscheinen die Bücher im Unrast Verlag.

Rätedemokratie in Rojava

Wie sieht die Rätedemokratie in Rojava aus?

Kerem Schamberger: Wenn man von Rätedemokratie spricht, ist das eine Demokratie, die von unten nach oben geht. An der Basis jeder Entscheidung stehen sogenannte Kommunen. Eine Kommune bildet sich aus einem kleinen Dorf oder 30 bis 150 Familien. Diese kommen zusammen, und da gibt es bis zu acht Kommissionen, zum Beispiel für Energie, Bildung, Frauen, Wirtschaft etc. Die Mitglieder der Kommunen beraten sich, und treffen dann eine Entscheidung. Falls das Problem nicht auf dieser Ebene gelöst werden kann, geht es auf die nächste Ebene. Etwa, wenn es um die Energieversorgung von mehreren Stadtteilen, mehreren Kommunen geht.

Es gibt die Ebene der Kommunen, dann die Räte der Stadtteile, dann die Räte der Städte und dann eine Gesamtebene, den Volksrat. Die ersten Wahlen waren im Herbst/Winter 2017. Die dritte Wahl sollte 2018 für die Gesamtebene stattfinden, wurde aber wegen des Krieges der Türkei gegen Afrin verschoben. Prinzipiell wird versucht einen Großteil der Probleme dort zu lösen, wo sie entstehen, und zwar an der Basis, ohne Zentralismus.

Was für Genossenschaften gibt es?

Kerem Schamberger: Energiegenossenschaften, zum Beispiel. Da schließen sich Häuserblocks zusammen, wenn es darum geht, einen Generator anzuschaffen, um Stromausfälle zu überbrücken. Genossenschaften gibt es vor allem im ländlichen Gebiet, weil viel Staatsland brach liegt. Der größte Landbesitzer war der syrische Staat, und als er sich zurückgezogen hat, lag das Land brach. Das wird jetzt von den Kommunen verwaltet und bevorzugt an Genossenschaften übergeben. Das können Baumwollgenossenschaften sein, oder Gemüsegenossenschaften. Die Genossenschaft Hevgirtin zum Beispiel ist eine Handelsgenossenschaft, für die mehrere tausend Leute arbeiten. Sie eröffnen in verschiedenen Stadtteilen kleine Supermärkte und verkaufen Waren aus anderen Kommunen. Zu diesem Thema sehr empfehlenswert ist das Buch "Revolution in Rojava".

Als ich letztes Jahr dort war, gab es bereits150 Genossenschaften. Das ist gesamtgesellschaftlich gesehen immer noch ein kleiner Teil. Etwa 5-15% der Wirtschaft wird so organisiert, aber er wächst. Momentan dominiert aber noch die Kriegswirtschaft, also Schmuggel etc. Wenn sich die Situation normalisiert, werden wir sehen, was für eine Wirtschaft sich ausformt und wie erfolgreich die Kooperativen und Genossenschaften dann sind, und ob sie sich halten können.

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Michael Meyen, Kerem Schamberger: Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion.

Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation. Bd. I: Zivilisation und Wahrheit – Maskierte Götter und verhüllte Könige.

Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation. Bd. II: Die Kapitalistische Zivilisation – Unmaskierte Götter und nackte Könige.