Libyen: Auf einen alten weißen Mann setzen?

Feldmarschall Chalifa Haftar in Moskau, 2016. Screenshot Video PressTV

Feldmarschall Haftar vor den Toren Tripolis. Update

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Feldmarschall Chalifa Haftar ist mit seinen Milizen-Truppen auf dem Weg in die libysche Hauptstadt, berichtete die Tagesschau heute frühmorgens: "Wir kommen, Tripolis, wir kommen". Der spektakuläre Vormarsch mobilisierte allerdings Gegenkräfte, denen es laut Berichten, etwa des Libya Herald, gelang, die Offensive schon vor der Hauptstadt ins Stocken zu bringen. Beobachter sprechen bereits von einem Scheitern.

[Update: Andere zeigen sich am Freitagabend überzeugt, dass Deeskalierungsmaßnahmen von internationaler Seite kaum Erfolgsaussichten haben und die Situation noch sehr hässlich werden könnte. Der UN-Sicherheitsrat hat Haftars LNA-Milizen direkt angesprochen und aufgefordert, die militärischen Aktivitäten einzustellen und an die anderen Kräfte appelliert, die Situation zu deeskalieren. Als entscheidend für den Verlauf der Offensive wird von Experten eingestuft, ob sich die Front der Gegner auflöst und zu Haftar überläuft. Dies hat der General, der bei den "jüngsten Eroberungen im Süden Zurückhaltung geübt und sich so bei der Bevölkerung beliebt gemacht habe" (Wolfgang Pusztai) auf der Rechnung. Er baut darauf, dass ihm der Zugang zur Hauptstadt leichtgemacht wird. Gestern trafen seine Truppen aber auf Widerstand beim Vormarsch vom Westen auf Tripolis. Im Süden erreichten Haftars Milizen angeblich bereits Vorstädte.]

International verursachte die Offensive große Besorgnis vor einer Eskalation in dem gescheiterten Staat, wo sich die international anerkannte Regierung unter Führung von Fayiz as-Sarradsch bislang vergeblich darum bemüht hat, für stabile Verhältnisse zu sorgen. Der Regierung der Nationalen Einheit (GNA) ist es nicht möglich, die Dominanz der Milizen, die das Kommando über ihre jeweiligen Herrschaftsgebiete haben bzw. darüber streiten, einzudämmen und unter ihre Kontrolle zu bringen. Nicht einmal in Tripolis, wo sie ihren Sitz hat. Dort ist auf die Loyalität ihrer Milizen nach Informationen von Ortskennern wenig Verlass. Sie könnten auch auf Haftars Seite wechseln.

Haftar sucht die militärische Lösung

UN-Generalsekretär Guterres, der sich bis heute ein paar Tage in Libyen aufgehalten hat, mahnte an, dass es keine militärische Lösung für die Konflikte in Libyen gebe.

Dessen ungeachtet setzt Haftar, Kommandeur der LNA ("Libysche Nationale Armee") auf seine militärischen Kräfte, um die Hauptstadt zu erobern. Dagegen mobilisieren aber Milizen aus Misrata und anderen Orten, die sich dem Herrschaftsanspruch Haftars verweigern.

(Einfügung: : Guterres traf sich am Freitagabend vor seiner Abreise mit Hafter, ohne ein Ergebnis zu erreichen.)

Liebling der Schlagzeilen

Es ist gerade mal ein Jahr her, da wähnte man den Feldmarschall beinahe schon auf dem Sterbebett Jetzt leitet der 75-jährige General Chalifa Haftar (auch: Hafter, Hefter oder Hifter geschrieben) eine Offensive auf die libysche Hauptstadt Tripolis und schlägt damit große Wellen, die bis über den Atlantik reichen.

So viel zur Verlässlichkeit von Informationen aus Libyen, dem Spektakel, das sie oft begleitet, und dazu, dass der Mann mit der schillernden Biografie (General unter Gaddafi, Ex-CIA-Mann, US-Bürger, Gesprächspartner der Moskauer Führung, der sich auch dort in der Landessprache unterhalten kann), gern gesehener Gast in Schlagzeilen westlicher Medien ist.

In Moskau werden die jüngsten Aktivitäten des Generals mit großer Aufmerksamkeit verfolgt (und mit betonter Distanz zu Haftar), wie auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Ägypten und dem anderen großen Nachbarland Algerien, wo man mit Protesten im eigenen Land beschäftigt ist, die auf ganz Nordafrika ausstrahlen könnten.

Küstenwache bringt Migranten zurück in ein schlimmes Land

Dazu kommen die Sorgen der EU, die vor allem wegen der Migranten aus Libyen ein besonderes Interesse an den Geschehnissen in Libyen hat. Insbesondere Italien und Frankreich mischen politisch in Libyen mit. Deutschland beteiligt sich an den EU-Hilfen wie auch der Ausbildung und Unterstützung der Küstenwache, deren Verhalten regelmäßig, wie auch dieser Tage wieder, für Kritik sorgt.

Sie bringt Migranten zurück in libysche Lager, die derart verwaltet werden, dass die Insassen größtem Schrecken und Misshandlungen ausgesetzt sind, wie es aktuell der UN-Generalsekretär feststellt.

Dass es die Europäer nicht schaffen, mit ihrem Einfluss allein in den Aufnahmelagern für Migranten für bessere, minimal menschenwürdige Verhältnisse zu sorgen, spricht Bände. In diesem Ausschnitt spiegelt sich schon die ganze komplizierte Misere Libyens.

Ohnmacht internationaler Bemühungen

Die Ohnmacht institutioneller internationaler Bemühungen in Libyen zeigt sich am gegenwärtigen Aufenthalt des UN-Generalsekretärs António Guterres. Eigentlich sollte eine große nationale Konferenz vorbereitet werden. Stattdessen wurde der UN-Sicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung zur Situation in Libyen zusammengerufen, wie es angeblich die derzeitige deutsche Leitung veranlasst hat. Andere Quellen sprechen davon, dass Großbritannien die Sitzung gefordert habe.

Grund für die außerordentliche Sitzung ist der Vormarsch der Milizen unter dem Kommando des Feldmarschalls Haftar, der, wie berichtet wird, vorhat, in der Hauptstadt Tripolis für Ordnung zu sorgen, um seinen Machtanspruch auf eine einfache Formel zu bringen. Die Milizen, die Hafter befehligt, werden in Medien als Libysche National-Armee (LNA) bezeichnet, weil Reste der früheren Armee unter Gaddafi dazu gehören und Milizen, die damit verbunden waren.

Haftar will die Kontrolle

Zu den Verbündeten Haftars gehören aber auch salafistische Milizen, die mit dem eingängigen, verbreiteten Bild vom Kampf "sakulärer Kräfte" gegen "Islamisten" nicht in Einklang zu bringen sind. Selbst dann nicht, wenn stimmen sollte, was an einigen Stellen behauptet wird, dass die Makdisi-Salafisten, mit denen Haftar verbündet ist, Unterschiede zu denjenigen ausweisen, die man in Syrien üblicherweise in denselben Topf wie die Dschihadisten von al-Qaida wirft.

Die Offensive der LNA auf die Hauptstadt Tripolis war lange erwartet worden. Nach ihren Eroberungen im Süden des Landes, wo sie die Kontrolle über wichtige Ölfelder übernommen hat, lag eine militärische Aktion Haftars, die auf das Zentrum der Macht zielt, in der Logik früherer Ankündigungen des Feldmarschalls. Sein Ziel ist die Kontrolle des Landes.

Sein Herrschaftsbereich war längere Zeit der Osten des Landes, wo auch das international anerkannte Parlament bei Tobruk seinen Sitz hat. Dort hat Haftar viele Unterstützer. Die Stabilität in diesem Landesteil trägt zur Reputation bei, wonach er ein wesentlicher Faktor bei der Stabilisierung Libyens sein könnte. Er weckt diese Erwartungen. Kritiker, die das Land kennen, sehen darin eine Fixierung ("Hafter, Hafter, Hafter") auf das Klischee, wonach nur ein autoritärer Herrscher in einem arabischen Land für Stabilität und Ordnung sorgen kann.

Ein genauerer Blick auf die Eroberungen, die Haftar im Februar dieses Jahres im Zentrum und im Süden Libyens gemacht hat, zeigt allerdings seine Grenzen sehr deutlich auf. Die eroberte Region ist nicht stabil, wie zwei detaillierte Lageberichte von Beobachtern (hier und hier) dokumentieren. Verbündete Hafters sind mit ihm zerstritten, was mit seinem politischen Stil zu tun hat. Die Spannungen dort ansässiger Gruppen können nach wie vor zu Kämpfen führen.

70 Milliarden US-Dollar in der Zentralbank

Einer der Lageberichte, der sich insbesondere mit der Kontrolle der Ölfelder beschäftigt, verfolgt dabei auch die Spur des Geldes: Die Öleinnahmen gehen an die libysche Zentralbank. Deren Leiter ist eine weitere schillernde Figur: Sadiq al-Kabir. Laut Informationen von Jalel Harchaoui munkelt man, dass die Bank eine Reserve im Wert von 70 Milliarden US-Dollar an ausländischen Währungen halten soll.

Das wären bedeutende Mittel, um sich Milizen zu kaufen. Dass es Haftar bis jetzt nicht gelungen ist, an diese Mittel heranzukommen, hat laut Jalel Harchaoui mit einem Beziehungsgeflecht zu tun, zu dem die Vereinigten Arabischen Emirate gehören und auch die USA. Beiden scheint bisher nicht unbedingt daran gelegen, Haftar den Zugang zur Bank zu erleichtern, selbst wenn die UAE zusammen mit Ägypten zu den Unterstützern Haftars gehören. Die USA spielen eine abwartende Rolle.

Einflussmächte Frankreich und Italien

Zu den Einflussmächten in Libyen gehören in besonderem Maße auch Frankreich, das dort eine politische Mission hat, die einiges mit einem Ordnungsmachtprestige zu tun hat (das sich auf die Sahelzone erstreckt) und Italien, bei dessen Interessen das libysche Öl für Eni eine noch deutlichere Rolle als fürs Frankreich (Total) spielt und natürlich die Migration. Italien war von Anfang zurückhaltend, wenn es um Haftar ging, hatte zuletzt aber auch Annäherungen gemacht. Frankreich lud mit Haftar immer auch den Gegenspieler as-Sarradsch ein. Es unterstützt militärisch aber Haftar.

Russland auf Distanz

Auch Russland spielt mit, wobei die russische Regierung nach Außen ebenfalls Wert darauf legt, eine gewisse Distanz zu Haftar zu wahren. Das könnte damit zu tun haben, dass Haftar mit 75 Jahren und einer angeschlagenen Gesundheit nicht besonders viel Stabilität versprechen kann. Vieles in seinem Machtbereich ist aber auf ihn zugeschnitten.

Von seinem Sohn, der auf beinahe jedem Foto von offiziellen Empfängen zu sehen ist, weiß die größere Öffentlichkeit überhaupt nichts. Es ist zweifelhaft, ob er die politischen Erwartungen einlösen kann, die in die Persönlichkeit Haftars gesetzt werden.

Wetterfahnen-Politik: Opportunistische Milizen

Es wäre keine wirklich große Überraschung, wenn sich nach einem Scheitern des Feldzuges Hafters gegen Tripolis zeigen würde, dass sich die Front an Milizen, die sich gegen die Offensive (und nicht laut einem Beobachter nicht unbedingt prinzipiell gegen Haftar oder die LNA) gebildet hat, auflöst und manche Milizen unter Umständen sogar auf die Seite Haftars wechseln.

Das Ausnützen von Opportunitäten wäre typisch. Auch sehen manche Beobachter, dass Haftar nicht unbedingt unbeliebt ist, manche gehen gerne Verbindungen mit ihm ein. Allerdings hat es auch den Anschein, dass es nicht wenige Parteien in Libyen gibt - auch außerhalb der Einheitsregierung -, denen daran liegt, dass Haftars Macht begrenzt bleibt.

Die Internationale Gemeinschaft muss aus diesem komplexen Wechselspiel von Interessen, die mit militärischer Macht über jeweilige Pfründe verquickt sind, verbindliche Lösungswege gestalten. Das ist die Aufgabenstellung, sollte man ernsthaft Stabilität in Libyen als Ziel anstreben. Die UN hatte bislang keinen Erfolg mit ihren Vermittlungsversuchen, die offensichtlich eine schlechte politische Agenda hatten.

Der Versuch einer friedlichen Interessensverständigung ist aber die einzige Chance darauf, dass sich die Lebensverhältnisse der Bevölkerung verbessern und damit auch eine humane Regulierung der Migration möglich wird.