NSU: "Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären?"

Fortgesetzte Zweifel an der offiziellen Theorie, Untersuchungsausschuss in Thüringen stößt auf Manipulationen in den Kiesewetter-Akten, auch Veteranenverein "Uniter" Thema im Landtag

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Die Zweifel verstummen nicht, ob tatsächlich feststeht, wer 2007 in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen und ihren Kollegen Martin A. lebensgefährlich verletzt hat. Für die Bundesanwaltschaft und den Staatsschutzsenat in München waren es ausschließlich die beiden toten NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Vieles spricht gegen diese Theorie.

Die Zweifel kommen auch aus dem Munde von Polizeibeamten, wie in der jüngsten Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses von Thüringen. Kiesewetter tat zwar Dienst bei der Polizei in Baden-Württemberg, stammte aber aus Thüringen. In Saalfeld-Rudolstadt, einem der Zentren des so rechtsextremen wie mit staatlichen Spitzeln durchsetzten Thüringer Heimatschutzes (THS), ist auch Kiesewetters Onkel Mike W. bei der Polizei tätig. In der Vergangenheit war er in der Abteilung Staatsschutz, die mit dieser rechten Szene zu tun hatte.

Für ihn sei der Mord an seiner Nichte bis heute nicht aufgeklärt, berichtete ein Staatsschutzkollege gegenüber den Abgeordneten. Mike W. bewege vor allem eine Frage: "Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären?" Und die Antwort, die sich der Onkel des Opfers zurechtgelegt habe, ist gleichfalls eine Frage: "Wird der Mord vielleicht nicht aufgeklärt, weil der Staat beteiligt war?"

In diesem Gedanken, so ketzerisch er klingt, verdichten sich tatsächlich viele Widersprüche und Ungereimtheiten, die die Bundesanwaltschaft programmatisch ignoriert und damit selber in den Fokus gerät: Warum hält die oberste Strafverfolgungsinstanz derart mutwillig an der Behauptung fest, die Täter seien ausschließlich Böhnhardt und Mundlos gewesen? Was soll nicht aufgeklärt werden?

Die Ermittler der "SoKo Parkplatz" waren, vor November 2011, zu dem Schluss gekommen, an der Tat müssten mindestens vier bis sechs Täter beteiligt gewesen sein. Das ist bis heute nicht widerlegt. Auch der gesamte NSU-Untersuchungsausschuss No. 2 des Bundestages formulierte, quasi hoheitlich, seine grundlegenden Zweifel an der amtlichen Zwei-Täter-Theorie.

Staatliche Verstrickung?

Ausgerechnet in der jüngsten Ausschusssitzung Anfang April ergab sich ein Puzzlestück, das in dieses Szenario passt. Die Abgeordneten stießen auf eine offensichtliche Manipulation in den Heilbronner Ermittlungsakten zum Mordfall Kiesewetter. Ihr vorgesetzter Truppführer namens Ringo L., der sich heute M. nennt, war zwei Mal von den Ermittlern vernommen worden - unmittelbar nach dem Mord 2007 in Heilbronn und ein zweites Mal im Juni 2011 beim Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart. In den Akten findet sich aber nur die Vernehmung von 2011. Die von 2007 fehlt.

Den Abgeordneten und einigen Journalisten war das erst im Laufe der Befragung des Zeugen aufgefallen. Er hatte zunächst von seiner Vernehmung gesprochen, die "in Heilbronn" stattgefunden habe. Auf einen Aktenvorhalt, sprich: Konfrontation mit seiner Vernehmung im Jahre 2011, erinnerte er sich an diese zweite Vernehmung in den Räumen des LKA in Stuttgart.

Wo ist die erste Vernehmung mit Ringo L., und wer hat sie aus welchem Grund aus den Ermittlungsunterlagen entfernt? Es ist nicht die erste und einzige Manipulation dieses Aktenwerkes. Bei mindestens drei weiteren Polizeibeamten, die nach dem Anschlag befragt wurden, ergab sich ein Problem mit umgekehrtem Vorzeichen: Es lagen Protokolle vor von Vernehmungen, die, so die Beamten, gar nicht stattgefunden haben sollen. In den Ordnern wiederum, die nach dem Aufliegen des NSU an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gingen, waren die angeblich fingierten Vernehmungen verschwunden. Wo sind sie?

Nicht nur Dorothea Marx (SPD), die Vorsitzende des Thüringer NSU-Ausschusses, fragte sich, warum der Untersuchungsausschuss von Baden-Württemberg, der nur zwei Jahre tagte und weit vor dem Ende der Legislaturperiode seine Arbeit eingestellt hat, diese Überprüfungen nicht vorgenommen hat. Mit nur zwei Sitzungen zum Heilbronner Polizistenmord haben die Thüringer aufgezeigt, wie oberflächlich die Baden-Württemberger ihrem Auftrag nachgekommen sind. In Erfurt läuft die Zeit dagegen ab, im Oktober wird ein neuer Landtag gewählt.

Grundlegende Fragen im Fall Kiesewetter sind weiterhin offen. Auch für einen weiteren Kollegen des Onkels der getöteten Polizistin, ebenfalls Kriminalbeamter in Saalfeld: Was war das Motiv? Was führte zur Auswahl der Opfer? Und vor allem: Welche Rolle hat Michèle Kiesewetter, weil sie Polizeibeamtin war, in dem Gesamtgeschehen gespielt? Waren die beiden Kollegen Zufallsopfer oder handelte es sich um eine zielgerichtete Aktion?

Für den letzten Chefermittler der Mordkommission, Axel M., dagegen ist der Fall "ausermittelt". Alles sei von "links nach rechts gebürstet" worden, der Mord in seinen Augen aufgeklärt, die Täter seien Böhnhardt und Mundlos. Bei genauer Betrachtung entpuppten sich diese Worte eher als Glaubensbekenntnis eines loyalen Beamten im Range eines leitenden Kriminaldirektors, der sich politischen Vorgaben gebeugt hat, denn als faktengestützte Überzeugung.

Beispiel Funkzellendaten: Der Abgleich wurde so lange verschoben, bis manche Datensätze gelöscht waren. Beispiel offene DNA-Spuren und ein Handflächenabdruck: Auf Anordnung der Bundesanwaltschaft (BAW) nicht weiter verfolgt. Oder: Warum die Täter den Opfern nicht nur die Dienstpistolen abnahmen, sondern auch Kleinigkeiten wie ein Multifunktionstool, wofür sie dann riskanterweise länger am Tatort verweilen mussten: Die Ermittler wissen es nicht.

Konnte beim Abgleich von Personenlisten mit dem Namen Kai Ulrich S. aus Heilbronn, der einerseits zu Böhnhardt und Mundlos Kontakt gehabt haben kann und andererseits den toten NSU-Zeugen Florian H. kannte, eine Verbindung zum Kiesewetter-Komplex hergestellt werden? Er kenne den Namen erst, seit er im Januar 2019 im Thüringer Ausschuss fiel, so Axel M. Notiert hatte ihn seine SoKo-Mitarbeiterin allerdings bereits im November 2011 bei den Lagebesprechungen der Polizei in Gotha nach dem Auffliegen des NSU-Trios.

Auch die Frage, wer noch zum NSU gehörte, sei Sache des GBA

Aus einigen seiner Antworten war aber eine gewisse Distanzierung zur offiziellen Version heraushörbar. Wie passt zusammen, dass die SoKo Parkplatz vor November 2011 von mehreren Tatbeteiligten ausging und heute nur Böhnhardt und Mundlos die Alleintäter sein sollen? Diese Einschätzung obliege dem Generalbundesanwalt (GBA) und nicht dem LKA, erklärte Axel M. Dann fügte er ungefragt an: Auch die Frage, wer noch zum NSU gehörte, sei Sache des GBA.

NSU also doch mehr als nur ein Trio? Schon im Januar hatte eine Kriminalbeamtin des LKA Baden-Württemberg im Thüringer Ausschuss erklärt, die Attentäter in Heilbronn müssen "Helfer" gehabt haben. Zeichen einer beginnenden Absetzbewegung im LKA vom NSU-Dogma der Bundesanwaltschaft?

Schließlich näherte sich auch der SoKo-Leiter einer der Fragen an, die sich in den Reihen der Polizei immer lauter stellen: die nach dem Motiv des Anschlags. Auch Martin A., der ihn mit einem Kopfschuss nur knapp überlebte, hatte sie im Prozess in München aufgeworfen. Nun erklärte Axel M., es wäre schön, wenn man der Familie Kiesewetter zumindest sagen könnte, warum der Mord geschah. Doch dieses Warum gebe es nicht.

Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären? Weil er beteiligt ist? Weil der Polizeiapparat eine Rolle spielt? Ungeklärte Spuren führen in die Reihen der Polizei, wie nicht nur die Manipulation der Ermittlungsakten zeigt. Michèle Kiesewetter gehörte zu einer Sondereinheit der baden-württembergischen Polizei, der sogenannten "Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit" (BFE). Die wurde sowohl bei Demonstrationen eingesetzt als auch beim Objektschutz oder bei der Drogenfahndung. Kiesewetter gehörte zum Einsatzzug BFE 523 sowie zum Zivilen Aufklärungstrupp ZAT, versah den Dienst in Uniform, aber als "Nicht offen ermittelnde Polizistin" (NoeP) auch in ziviler Kleidung. Sie fungierte als Drogenscheinaufkäuferin und konsumierte dabei selber Drogen, spielte den Lockvogel und öffnete bei Razzien die Türen von Diskotheken. Dabei kam es immer wieder zu Konflikten mit der Organisierten Kriminalität (OK).

Die BFE-Polizisten trainierten in einem Fitnessstudio, in dem auch Leute aus der Türsteherszene sowie Drogendealer verkehrten. Einer von Kiesewetters Vorgesetzen, Truppführer im Zug 523, war Ringo L., heute Ringo M., der ebenfalls aus Thüringen stammt, Eisenach.

Ringo L./M. legte Wert auf Drill. Einmal ließ er seine Untergebenen 1000 Liegestützen innerhalb einer Stunde machen. Einer der Beamten soll danach überlegt haben, ihn wegen Körperverletzung anzuzeigen. Michèle Kiesewetter habe sich über ihren Truppführer "ausgekotzt", sagte ein Kollege in einer Vernehmung nach dem Mord aus. Das habe er in einem Gespräch mit ihr "ausgeräumt", erklärte Ringo L./M. jetzt als Zeuge vor dem NSU-Ausschuss in Erfurt.

Er bestätigte, dass einmal ein Einsatz in einer Diskothek aus dem Ruder lief und "in die Hose ging", weil er einen Fehler gemacht habe. Es kam zu körperlichen Auseinandersetzungen mit den Türstehern. Bei der Aktion war Kiesewetter als zivile Kraft eingesetzt. In welcher Weise sie agierte, gestattete der Vertreter des Landes Baden-Württemberg dem Zeugen nicht zu sagen.

In der fraglichen Diskothek soll auch ein weiterer Mann als Türsteher gearbeitet haben, so Katharina König-Preuss (Linke), der zum Umfeld des NSU zu zählen ist und nach eigener Aussage vor dem Untersuchungsausschuss in Stuttgart in die Beschaffung von Waffen an ein Mitglied des Thüringer Heimatschutzes einbezogen gewesen sein will: Jug P. Diese Personalie war dem Zeugen Ringo L./M. kein Begriff. Dem SoKo-Leiter Axel M. allerdings schon. Eine Spur, der man hätte nachgehen sollen, bestritt er aber.

Die Beispiele zeigen, wie die offizielle Umpolung auf die angeblichen Täter von Heilbronn, Böhnhardt und Mundlos, die Ermittlungen beeinflussten.