OECD: Die Mittelklasse ist in der Klemme

Stagnation der Einkommen, Überschuldung, hohe Mieten, Angst vor der Zukunft, ruinöses Konsumvorbild "Reiche" - eine Studie der Organisation malt ein düsteres Entwicklungsbild

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Der Mittelklasse geht es in vielen Länder nicht gut. Das große, nicht leicht einzugrenzende gesellschaftliche Ensemble, oft als Garant des sozialen Friedens herausgestellt, lebt seit dem Boom der späten Nachkriegsjahren vom Versprechen des Wohlstands und von Aufwärtsbewegungen. Seit einigen Jahren aber stagniert die Mittelklasse und geht sogar zurück, in der Mitte wachsen die Zukunftssorgen und die Verschuldung, stellt eine OECD-Studie fest.

Die Beobachtung vom Niedergang der Mittelklasse gehört mittlerweile zum Standardprogramm von Mahnungen, die sich periodisch wiederholen. Sie hat aber durch den Erfolg von Populisten und Protestbewegungen wie den Gelbwesten in Frankreich eine neue politische Wucht bekommen. Man nimmt sie zumindest in der Berichterstattung nun ernster.

Der Aufstieg der Populisten, der Rechtsruck, die Proteste und die frustrierte Stimmung unter den "Verlieren der Globalisierung" wird dann auch bei Berichten zur Studie fleißig als Rahmen hinzugetragen; die Frage ist, welche neuen Einblicke verschafft die 178-Seiten dicke Studie: "Unter Druck: Die Mittelklasse in der Klemme" (i.O. Under Pressure: The Squeezed Middle Class)?

Um es kurz zu machen: Für Nicht-Experten nicht besonders viel, die Kernaussagen sind im Wesentlichen bekannt - etwa dass der soziale Aufzug für die untere Mittelklasse nicht mehr funktioniert, wie er nach früheren Versprechen funktionieren müsste ("Meine Kinder werden es besser haben"), und dass manche nicht einmal den Weg zum Aufzug schaffen: "Das Geld reicht nicht oder kaum bis zum Monatsende". Die Aussage hatte sich bekanntlich zum Mobilisierungsslogan der Gelbwesten-Proteste entwickelt und dann doch ein paar Alarmglocken im Elyséepalast in Bewegung versetzt hat sowie einen größeren Abwehrapparat. Derzeit wartet man darauf, was Macron an neuen politischen Vorschlägen anbieten wird, um den sozialen Frieden wieder herzustellen.

Mittlere Einkommen stagnieren, Mittelklasse nimmt ab

Zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gehören 36 Mitgliedsstaaten, so deckt die Studie immerhin ein größeres Feld ab. Eine Grundaussage lautet, dass die mittleren Einkommen "quer über das OECD Gebiet - mit Ausnahme weniger Länder" kaum höher seien als vor zehn Jahren. So sind dort gerade mal "um 0,3 Prozent pro Jahr gestiegen, ein Drittel weniger als das Durchschnittseinkommen der reichsten 10 Prozent". Dazu gehört folgende Überblicksfeststellung zur Einkommensentwicklung:

Im Durchschnitt ist der Anteil der Personen, die in einem Haushalt mittleren Einkommens leben (definiert wird die mit Einkommen zwischen 75 % und 200 Prozent des nationalen Median-Wertes) seit Mitte der 1980er Jahre von 64 Prozent auf 61 Prozent zurückgegangen.

OECD

Drei Prozent Rückgang innerhalb von 30 Jahren wollen dem Laien vielleicht als keine besonders beachtliche Größe erscheinen. Für die Experten, die die Studie verfasst haben, ist der Rückgang aber ein deutliches Zeichen dafür, dass der wirtschaftliche Einfluss der Mittelklasse, insbesondere ihre Rolle als "wirtschaftliches Zentrum der Schwerkraft" geschwächt ist. Das wird dann mit einem anderen Wert erhärtet:

Das Gesamteinkommen aller Haushalte mit mittlerem Einkommen betrug vor drei Jahrzehnten das Vierfache der Gesamteinkommen aller Haushalten mit erhöhtem Einkommen. Heute liegt dieser Quotient bei unter 3.

OECD

Der These von der wirtschaftlichen Schwächung der Mittelklasse anhand der Einkommensentwicklung wird beigestellt, dass sich diese Tendenz aller Voraussicht nach künftig noch verstärkt.

Babyboomer und Millennials

Die Babyboomer, die zwischen 1942 und 1964 geboren sind, seien in einer besseren Lage gewesen als ihre Nachkommen. 68 Prozent dieser "Generation" hätten im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren zur wirtschaftlichen Mittelklasse gezählt. Bei der "Generation X", geboren zwischen 1965 und 1982 seien es nur mehr 64 Prozent gewesen. Und bei den "Millennials", geboren zwischen 1983 und 2002, nur mehr 60 Prozent.

Abstiegsängste und Automatisierung

Das Risiko, in untere Einkommensschichten zu fallen, sei größer als die Chance, nach oben zu kommen, lautet hierzu die Kernaussage der Studie. Auch wenn die OECD-Zahlen der umfangreichen Studie neues Grundlagenmaterial darstellen, das hier nur angerissen werden kann, so steckt Aussicht und die dazugehörigen Abstiegs- und Existenzängste nicht erst seit gestern drin im alltäglichen Leben der Mittelschicht. Das Sicherheitsdenken bei der Berufswahl hat längst die Kategorie "Selbstverwirklichung, Entfaltung oder Liebe zum Fach", die noch in den 1980ern bei starke Rolle gespielt haben, bei vielen Eltern und Kindern zur Seite gedrängt.

In diese Stimmung hinein kommt die nächste Revolution des Arbeitsmarktes und die nächste Furcht, wie sie auch das OECD-Papier anspricht. Die Zahl hierzu lautet, dass 18 Prozent der Haushalte mit mittleren Einkommen ihr Geld mit Arbeiten verdienen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit automatisiert werden.

Der wachsende Anteil der Miete am Einkommen

Obenauf gepackt wird eine andere Entwicklung, die in Deutschland in den letzten Tagen nach Enteignung auf ein neues Level der Proteste und der Empörung gelangt ist: die Belastung durch hohe Mieten. Früher, so die grobe Zahl dazu, machte die Miete etwa ein Viertel des Einkommens im Mittelstand in den 1990er Jahren aus, liege der Anteil im Durchschnitt jetzt bei einem Drittel. Hier gibt es, wie jeder weiß, große Unterschiede zwischen Städten und Regionen, aber eben auch eine allgemeine Tendenz, vor der das OECD-Papier warnt.

Überschuldung: Ausrichtung des Konsums am Lebensstil Reicherer

Ein bemerkenswerter Aspekt zur These von der wirtschaftlichen Abschwächung der Mittelschicht ist der Zusammenhang, der von der OECD zum Phänomen der Überschuldung von mehr als einem Fünftel aller Haushalte genannt wird. Der hänge mit dem Konsum von Dingen zusammen, den man an den reicheren Klassen ausrichte. Viele Haushalte, so die OECD, neigen dazu, ihre Einkäufe denen der Reichen nachzumachen.

Der soziale Aufstieg wäre demnach nur über eine Illusion zu haben, über die Simulation des Konsums Reicherer, der in echt ruinös viel Geld kostet. Die Lebensführungs-Vorbilder würden demnach die Reichen bleiben, die es "geschafft haben", zugleich verringern sich die Voraussetzungen dafür, Zugang zu einer immer exklusiveren Welt zu bekommen.

Das sind Bedingungen, die eine Verstärkung der Verteilungskämpfe in den nächsten Jahren ahnen lassen, sobald der Abstand zwischen den Versprechungen aus der PR-lastigen Kommunikation der Politik wie aus der Konsumindustrie und den tatsächlichen Lebens- und Aufstiegsbedingungen immer handgreiflicher wird. Dagegen helfen dann staatlich geförderte Bausparprogramme, wie sie vom OECD empfohlen werden, nur bedingt.