Ostdeutsche als "alte Migranten" oder die "neuen Muslime"?

Ostdeutsche und Muslime werden in ähnlichem Maße benachteiligt? In der Studie, auf die sich Medien berufen, steht davon aber gar nichts

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Die Vorstellung hat etwas Versöhnliches: Sitzen Ostdeutsche und Muslime eigentlich im selben Boot? Eint die beiden Bevölkerungsgruppen, die sich dem Klischee nach doch so unversöhnlich gegenüberstehen, in Wahrheit eine gemeinsame Diskriminierungserfahrung? Sind Ossis nicht auch irgendwie nur Migranten?

Das ist der Ton, in dem dieser Tage viele Medien über eine sozialwissenschaftliche Studie berichten. Deren vermeintliches Ergebnis beschreibt Die Zeit so: "Ostdeutsche und Migranten ähnlich stark benachteiligt."

"Studie zeigt: Ostdeutsche und Migranten werden ähnlich stark benachteiligt", heißt es bei Focus Online. Und auch die dpa tickerte "Studie: Ostdeutsche und Muslime werden ähnlich benachteiligt".

Nach realer Diskriminierung hat niemand gefragt

Der Haken an der Geschichte: In der Studie, auf die sich diese und viele anderen Medien berufen, steht überhaupt nichts über die Diskriminierung von Ostdeutschen und Muslimen. "Ost-Migrantische Analogien" heißt die Untersuchung, die das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) herausgegeben hat. Unter der Leitung der Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan gehen die Forscher dort nicht der Frage nach, wie sehr Ostdeutsche und Muslime diskriminiert sind, sondern, was West- und Ostdeutsche sowie Muslime übereinander denken.

Die Forscher haben 7.200 Menschen befragt. 4.600 im Westen des Landes, 2.600 im Osten. Dabei stießen sie auf einige Ähnlichkeiten in der Wahrnehmung von Ostdeutschen und Muslimen. So stimmten 41,2 Prozent der Westdeutschen der Aussage zu, dass sich Ostdeutsche ständig als Opfer sehen. Ein ähnlicher Anteil der Westdeutschen (36,5 Prozent) bejahte die Aussage auch für Muslime.

Auch beim Thema Extremismus schnitten Ostdeutsche und Muslime aus westdeutscher Sicht ähnlich ab. So sagten 43,3 Prozent der befragten Westdeutschen, dass sich Muslime zu wenig vom Extremismus distanzieren. Nach Ostdeutschen gefragt, stimmten 37,4 Prozent der Westdeutschen zu. Etwas größer war der Unterschied bei der Aussage, "Ostdeutsche sind noch nicht richtig im heutigen Deutschland angekommen". Hier stimmten 36,4 Prozent der Westdeutschen zu. Nach Muslimen gefragt, waren es 58,6 Prozent.

Die Studie verrät nicht nur, was Westdeutsche von Muslimen und Ostdeutschen denken; auch darüber, was Ostdeutsche von sich selbst halten, gibt sie Einblick. Was die Untersuchung allerdings nirgends macht, ist Aufschluss über reale Diskriminierung zu geben. Sie fragt nicht nach Erfahrungen bei Bewerbungen oder Wohnungsbesichtigungen, wertet keine Kriminalstatistiken aus.

Dass viele Medien die Studie dennoch zum Anlass nehmen, über ähnliche Benachteiligung von Ostdeutschen und Muslimen zu berichten, ist aber nicht nur die Schuld ungenau arbeitender Journalisten. Die Studie selbst nimmt es mit der Definition ihres Untersuchungsinteresse nicht so ganz genau. Manches deutet darauf hin, dass die Möglichkeit der Fehldeutung der Untersuchungsergebnisse durchaus gewollt war.

Muslime? Migranten? Hauptsache wie Ostdeutsche

Die Unschärfe beginnt schon bei der Auswahl der Begrifflichkeiten. Dass in Artikeln zum Thema mal von "Muslimen", mal von "Migranten" die Rede ist, liegt nicht daran, dass Journalisten die Bevölkerungsgruppen nicht auseinanderhalten können, die Begriffsverwirrung stammt aus der Studie selbst.

Dass die eigentliche Vergleichsgruppe zu Ostdeutschen Migranten und nicht Muslime sein sollten, zeigt sich schon im Titel der Studie. Warum man dennoch nach "Muslimen" fragt, erklären die Studienmacher folgendermaßen: "Typische Stereotype gegenüber Migrant*innen sind in den letzten Jahren zunehmend überlagert von einem Diskurs zu Muslim*innen."

Muslime, so heißt es, würden "in den Debatten um Migration in besonderem Maße diskursiv hervorgehoben" werden. Das mag stimmen, entschuldigt dennoch nicht die Vermengung von zwei Gruppen, die trotz allem in vielen Merkmalen nicht identisch sind.

So unterscheiden die Studienmacher in den meisten Fragen zwischen "ostdeutsch", "westdeutsch", und "muslimisch". Nur bei der Frage, ob es für bestimmte Bevölkerungsgruppen Quoten geben sollte, fällt die Wahl dann doch zwischen "ostdeutsch", "Frauen" und "Migranten".

Auch bei der Deutung der eigenen Ergebnisse nehmen es die Studienmacher nicht so genau. "Ostdeutsche sind mit ähnlichen Abwertungen konfrontiert wie MuslimInnen. Westdeutsche werfen beiden Gruppen vor sich zum Opfer zu stilisieren und noch nicht im heutigen Deutschland angekommen zu sein", lautet ein Fazit der Untersuchung. Doch die Ergebnisse lassen durchaus auch einen anderen Schluss zu.

So sind 63,5 Prozent der Westdeutschen eben nicht der Meinung, dass Muslime sich ständig zu Opfern stilisieren. Und 63,6 Prozent der Westdeutschen stimmen nicht der Aussage zu, dass Ostdeutsche "noch nicht richtig im heutigen Deutschland angekommen" sind.