Karfreitag der Kirche

Joseph Ratzinger als Papst Benedikt mit Familie Bush. Bild: Pixabay

Joseph Ratzinger macht erneut die "68er" verantwortlich für sexualisierte Klerikergewalt. Seine Ursachenforschung ist weder fromm, noch sachgerecht. In einem seriösen Diskurs sind auch die Historiker herausgefordert

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In der zweiten Hälfte dieses Beitrags soll es konkret wie nur eben möglich zugehen. Denn am Karfreitag wird kein ewiges platonisches Schauspiel - abgehoben von der Welt - zelebriert. Die Dramatik von Golgotha besteht aus blutigem Ernst. Der verachtete und zu Tode gefolterte Mensch aus "Fleisch und Blut" ist der Ernstfall.

Jesus von Nazareth wollte Menschen dazu verführen, die eigene Schönheit zu entdecken und ohne Angst den aufrechten Gang einzuüben. Ein solcher Botschafter stört, und man darf ihn nicht am Leben lassen. Das System der Kreuzes-Aufrichter nährt sich nämlich aus der Anbetung der Macht und es sinnt auf nichts anderes, als dass Menschen Macht über Menschen ausüben.

Während die Fundamentalisten in allen Religionen zur Verteidigung des "Allmächtigen" aufrufen, lautet der Ruf des Karfreitags: "Schützt den verwundbaren Menschen, beendet den Kult von Macht und Gewalt!"

Wie schön klingt den Getauften seit Kindertagen die Kunde von einem Raum, in dem Jesus endlich Gehör findet und eine Gemeinschaft von Menschen wahr wird, die nicht nach den Gesetzen der sattsam bekannten Selbsterhaltungskollektive dieser Welt funktioniert.

Die platonische Kirchenlehre soll den Abgrund verdecken

Doch die Verhältnisse im verfassten Kirchengefüge, das sich einst als "perfekte Gesellschaft" präsentieren wollte, sie sind nicht so. Sehr bald nach der konstantinischen Wende ließ die Theologenpolizei der Staatsbischöfe Menschen verbrennen. Die Kreuzes-Aufrichter waren somit ins kirchliche System eingeschleust, wie der hl. Martin von Tours mit Bitternis erkennen musste.

Kein Verbrechen wäre zu nennen, das nicht im Laufe einer zweitausendjährigen Geschichte auch von einem Inhaber des päpstlichen Stuhles oder anderen Bischöfen und Geistlichen begangen worden wäre. Aus gutem Grund wird die Kirche in keinem rechtgläubigen Katechismus als Anbetungsobjekt aufgeführt.

Die sexualisierte Klerikergewalt offenbart auf besonders drastische Weise, dass der Kult der Macht Eingang in die Gemeinde Jesu gefunden hat. Wie kann es sein, dass mit guter Kunde beauftragte Botschafter Kinder, Jugendliche und andere Schutzbefohlene seelisch ermorden - oder Schwestern zu sexuellen Sklavendiensten zwingen? In historischer und globaler Perspektive ist erst die Spitze eines Eisberges ansichtig geworden. Doch schon dies hat eine schier unaufhaltsame Pulverisierung der Kirche in Gang gesetzt.

Die bekümmerten und nachdenklichen Frommen bekennen mit Blick auf die Scheinsicherheiten des überkommenen Kirchengefüges: "Ad nihilum redactus sum. - Zu nichts bin ich geworden …". Die fundamentalistischen Anhänger einer platonischen Kirchenlehre wollen hingegen einen bequemen Weg gehen. Sie betäuben die eigene Angst und proklamieren, die feindselige Welt habe der Kirche die Schande ins Nest gesetzt.

Man muss nur befreit von den "Achtundsechzigern" zurückkehren zur reinen Lehre - wie 2010 Augsburgs Bischof Walter Mixa - und genügend Exorzisten beauftragen. Dann wird alles wieder gut.

Horizont pädosexueller Verbrechen: "Physiognomie der 68er Revolution"?

Ein Täterbischof in Florida führte schon 2002 seine eigenen Verbrechen entschuldigend auf ein bestimmtes "Klima der 70-er Jahre" zurück. In einem längeren kirchenpolitischen Text für die aktuelle Ausgabe des bayerischen "Klerusblatt" hat der Theologe Joseph Ratzinger auf eben dieser Linie vor allem die "68er Revolution" für den Abgrund pädosexueller Klerikerverbrechen verantwortlich gemacht, der Sache nach aber auch seine alte These erneuert, der zufolge eine Akzeptanz von Homosexualität einem "Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte" (!) gleichkommt.

Der Verfasser bleibt in seinem absurden Artikel meilenweit hinter Erkenntnissen zurück, die er in seinen Amtszeiten als Glaubenspräfekt und Bischof von Rom zum Gesamtkomplex der sexualisierten Gewalt erlangen musste. Die Stellungnahmen von Gewaltopfern, diffamierten Moraltheologen, kopfschüttelnden "Systematikern", bekümmerten Laienvertretern und zornigen Publizisten sind in einem Dossier des "Münsteraner Forums" und im Archiv von katholisch.de nachzulesen.

Die Quintessenz des Klerusblatt-Artikels lautet, ganz im Sinne von Kardinal Gerhard Ludwig Müller: "Wir sind die Kirche und wir sind das Opfer!"

Sollte man die Wortmeldung von Joseph Ratzinger vielleicht begrüßen, weil sie - wie Bettina Gaus zutreffend konstatiert hat - uns vor Augen führt, dass es um Teile der real existierenden Kirche viel schlimmer steht als gedacht und der "Mythos Papa emeritus" aus Deutschland jetzt endgültig ausgeträumt ist?

Der rätselhaft kurz greifende Horizont des ehemaligen Bischofs von Rom weist u.a. auch auf einen historischen Gedächtnisverlust hin, der beunruhigend ist und zwangsläufig eine "positivistische" - also faktenorientierte - Geschichtswissenschaft auf den Plan rufen wird.

Die Vergötzung des Klerikers im 19. Jahrhundert

Schon die klerikale "Sittengeschichte" des Mittelalters und der frühen Neuzeit offenbart ungezählte Widersprüche des geweihten Lebens, die freilich nicht immer zwangsläufig gewalthaltig waren. Erste Einblicke kann man sich schon durch edierte Visitationsberichte verschaffen.

Manche Reformatoren legten ohne Rücksichtnahme den Finger in die klaffende Wunde. Auch die Kulturschaffenden im Raum der römischen Kirche hatten in ihren Schöpfungen ja keine Schwierigkeiten, einen luxuriös gewandeten Klerus bis hin zu Päpsten und Kardinälen in langen Prozessionen der Hölle zuzuführen.

Noch waren Kleriker sterbliche Menschen wie alle anderen und genossen keine Immunität. Eine südwestfälische Chronik teilt zum Beispiel mit, bis etwa 1675 seien "die Leute hier zu Drolshagen auf Aschermittwoch um den hohen Altar gegangen, hätten geopfert, (…) den Wein und den Häring hat der Herr Pastor bekommen; sogar die Asche auch auf seinen Kopf." Auffällig ist, dass nach Abschluss der ultramontanen Verkirchlichung im 19. Jahrhundert öffentliche Kritik am Klerus in dieser Landschaft ganz verstummte. Wer hier ausscherte, wurde abgespeist: "Auf einem schwarzen Rock sieht man jedes Staubkorn."

Die Entwicklung, die in der Zuschreibung von göttlichen Attributen an die hierarchische Spitze eskalierte, bringt der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler 1919 so auf den Punkt: "Gehorsam gegen Gottes Gesetz ist für die strengen Katholiken gleichbedeutend mit Gehorsam gegen die kirchlichen Autoritäten."

Ob nicht besonders das 19. Jahrhundert die sexualisierte Gewalt im Kirchenraum zu ausuferndem Wachstum geführt hat, bleibt eine zentrale Forschungsfrage. Der geschichtswissenschaftliche Bestseller "Die Nonnen von Sant' Ambrogio" von Hubert Wolf zeigt als gewissenlosen Akteur im mörderisch sexualisierten Gewaltkomplex eines Frauenklosters den Jesuiten Joseph Kleutgen (1811-1883). Dieser gehörte zu den bedeutsamsten intellektuellen Dienstleistern bei der rabiaten Durchsetzung einer neuen Idee: der 1870 dogmatisierten Lehre von päpstlicher "Unfehlbarkeit" und Allgewalt.

Kleutgens Sucht der Autoritätsverfechtung wurzelte in dem, was E. Drewermann in seinem "Kleriker"-Buch als "ontologische Verunsicherung" beschrieben hat. Wer die Verzweiflung der eigenen Existenz nur dogmatisch betäubt, ist gefährdet, der Gewalt als Täter - oder Opfer - zu erliegen. (Es erübrigt sich, in den nächsten Abschnitten immer wieder anzumerken, dass dies kein exklusiv "römisch-katholischer Komplex" ist.)

Neue Kongregationen: Nur Heilsbringer?

Das ultramontane - streng nach Rom ausgerichtete - 19. Jahrhundert des Katholizismus hat eine Fülle neuer Ordenskongregationen hervorgebracht. In den konfessionellen Landschaften waren Einrichtungen dieser Kongregationen wichtige Säulen des kirchlichen Gefüges. Effiziente Missionsorden erweiterten das weltkirchliche Kommunikationsnetz. Wohl nie zuvor wurden so viele karitative Einrichtungen förmlich aus dem Boden gestampft.

Dieser explosive "Ordensfrühling" kann unter vielen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zigtausende Christinnen und Christen solidarisierten sich mit den Ärmsten, pflegten Kranke, arbeiteten für mehr Bildungsgerechtigkeit oder erprobten neue Wege der Sozialarbeit.

Homosexuelle Menschen, die sich nicht zur Heirat berufen fühlten, fanden Schutzräume und Anerkennung für einen abweichenden Lebensentwurf. Weibliche Orden waren nicht zuletzt unter bestimmten Bedingungen auch ein Experimentierfeld für die Emanzipation von Frauen. Die lichte Seite dauert in vielen verbliebenen Einrichtungen und Konventen noch immer an.

Doch der dunkle Schatten kann nicht ausgeblendet werden. Die verkirchlichten Milieus und also auch die Orden standen unter einer äußerst rigiden Sexualmoral, deren Einhaltung durch engmaschige Sozialkontrolle (Familie, Schule, Vereine ...) gewährleistet wurde. Die Repression produzierte keine höhere Sittlichkeit, sondern ungezählte Tränen, Heuchelei und viel Gewalt.

Wie überall, so gilt natürlich auch für die in nachfolgenden Abschnitten angeführten Beispiele: Nicht alle Kongregationen, nicht alle Niederlassungen einer Kongregation und nicht alle Mitglieder eines Konventes dürfen über einen Kamm geschert werden! Schlussendlich kann Haltbares zu Licht und Schatten immer nur auf der Basis von Empirie ausgesagt werden.